Was Putin fürchtet, ist nicht die Nato
Die ukrainische Bevölkerung will Freiheit und Demokratie, nicht die "begrenzte Souveränität" von Russland
Kommentar der anderen
Oleksandr Sushko
28. Jänner 2022, 07:00
Die Zukunft der Ukraine ist keine bloße bilaterale Angelegenheit zwischen Russland und dem Westen, sagt Oleksandr Sushko von der ukrainischen NGO International Renaissance Foundation im Gastkommentar. Um das Freiheitsbestreben des Landes zu unterstützen, solle der Westen die Genehmigung der Gaspipeline Nord Stream 2 verweigern.
Der russische Präsident Wladimir Putin will die Breschnew-Doktrin der "begrenzten Souveränität" wiederbeleben.
Foto: AP / Sputnik / Sergei Savostyanov
Vor dem Hintergrund der Kriegsstimmung wird oft darauf hingewiesen, dass Russland bereits 2014 in die Ukraine einmarschiert ist – damals ging es um die Annexion der Krim und die anhaltende Besetzung von Teilen des Donbass. Doch auch wenn Teile der Ostukraine Kriegsgebiet sind, sollte die Zukunft des Landes nicht auf eine Kampfzone zwischen Großmächten reduziert werden. Die Ukraine als einen Konflikt zwischen konkurrierenden Interessensphären zu beschreiben, beraubt das Land seiner Handlungsmacht und richtet die Debatte ganz nach den vom Kreml diktierten Bedingungen aus.
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In kürzlich abgehaltenen Fokusgruppen wurden die Ukrainer gebeten, einen Begriff zu nennen, der die stärkste positivste Veränderung für ihr Land bedeuten würde. "Freiheit" war die bei weitem häufigste Antwort, noch vor der Sorge um das niedrige Durchschnittseinkommen und der mangelnden Zuversicht in öffentliche Institutionen. Vor sieben Jahren hat sich die Ukraine dafür entschieden, als europäische Nation mit liberalen, demokratischen Institutionen in die Zukunft zu gehen, nicht als Satellitenstaat Russlands.
Solidarität und Selbstbestimmung
Westliche Kommentatoren laufen Gefahr, die gegenwärtigen Spannungen durch die von Wladimir Putin gewünschte Brille zu sehen – als ein militärisches Schachspiel statt als legitime Forderung der Ukrainer nach ihrem Recht auf Selbstbestimmung. Dieses steht aber nicht zur Disposition. Der Westen instrumentalisiert die Ukraine nicht, um Russlands Ambitionen einzudämmen. Die Ukraine befindet sich an der Seite eines unbequemen Nachbarn und bittet um Solidarität und darum, Teil eines Netzwerks von Demokratien werden zu dürfen.
"Putins Spezialität ist das Spalten des Westens."
Entgegen seinen Reden ficht Putin nicht die Nato-Erweiterung an, sondern das Recht der Ukraine, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen und Bündnisse zu schmieden, die dem Land zu einem Aufschwung verhelfen. Solcherlei Entscheidungen werden jedem verwehrt, der in Russlands "Interessensphäre" lebt. Putins Spezialität ist das Spalten des Westens; dies gelang ihm sogar so gut, dass er, als Belohnung für seine Kriegstreiberei, den Westen über die Köpfe der Ukraine und sogar ihrer europäischen Verbündeten hinweg zu Gesprächen mit ihm bewegen konnte.
Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Vereinigten Staaten und Russland militärische Fragen untereinander besprechen. Selbst in den hitzigsten Zeiten des Kalten Krieges verhandelten Washington und Moskau über Stationierung und Einsatz von Waffen. Die Zukunft der Ukraine und generell Osteuropas ist jedoch keine bilaterale Angelegenheit zwischen Russland und dem Westen. In diesen Fragen müssen das Volk, seine gewählten Vertreter und die ukrainische Zivilgesellschaft gemeinsam mitentscheiden. Putin heizt die Stimmung an, weil er weiß, dass dieses Streben nach einer friedlichen, demokratischen Gesellschaft unumkehrbar ist.
Putins Finte
Strategische Ziele der Ukraine sind die Mitgliedschaft in der Nato und der EU, verankert in der ukrainischen Verfassung, auch wenn dies wahrscheinlich für viele Jahre nicht zu realisieren sein wird. Doch Russland will die Welt glauben machen, dass diese Ziele in greifbarer Nähe sind, und lenkt daher die Aufmerksamkeit künstlich auf dieses Thema.
De facto hat Putin bereits den Nato- und EU-Mitgliedschaften dadurch Steine in den Weg gelegt, dass er bei den europäischen Regierungen Ängste schürte, sie könnten in den Konflikt hineingezogen werden. Auf russischer Seite wird in dieser Debatte die Nato-Mitgliedschaft zu einer Finte aufgebauscht, um die tatsächlichen Ziele zu verschleiern. Putin spricht von der Notwendigkeit, die Stationierung von Angriffswaffen in der Ukraine zu verhindern – doch die befinden sich dort überhaupt nur zu defensiven Zwecken wegen der anhaltenden russischen Besetzung östlicher Regionen.
Warum "begrenzte Souveränität"?
Moskau will die Breschnew-Doktrin der "begrenzten Souveränität" wiederbeleben, nach der die Menschen im "nahen Ausland" in einem gewissen Umfang ihre Angelegenheiten selbst regeln dürfen, Moskau dabei aber stets die Grenzen festlegt; und die Strafen für Ungehorsam sind drastisch, wie Ungarn oder die Tschechoslowakei erfahren durften.
"Putin ist zum maßgeblichen Förderer des Bündnisses geworden."
Sollte der Westen diese Bedingungen akzeptieren, wäre das eine weitere Tragödie für Osteuropa. Die Erweiterung der Nato hängt nicht von ideologischen Erwägungen ab: Das Drängen auf einen Beitritt geht von Ländern wie der Ukraine und Georgien aus, deren Hoheitsgebiet von Russland bedroht wird. Mit seinem Verhalten trägt der Kreml paradoxerweise dazu bei, dass die Öffentlichkeit in diesen Grenzstaaten den Beitritt zum Bündnis fordert. Mehr als 60 Prozent der Ukrainer möchten dem Bündnis beitreten; 2013 waren es lediglich um die 20 Prozent. Indem er die Ukrainer von der Notwendigkeit eines Nato-Beitritts überzeugt hat, ist Putin zum maßgeblichen Förderer des Bündnisses geworden.
Die Ukraine hat mit vielen Problemen zu kämpfen – lähmende Korruption, schwache Regierungsführung, Mangel an einer gerechten Justiz. Das Land hat aber auch eine starke Zivilgesellschaft, die immer wieder kreative Wege findet, um autoritären Rückschlägen standzuhalten. Das Eigenverantwortung nimmt zu, Oligarchen werden zur Rechenschaft gezogen, der Machtwechsel ist friedlich verlaufen, und es fanden pluralistische Wahlen statt. Putin versucht verzweifelt, derartige Entwicklungen in seiner "Interessensphäre" – von Belarus bis Kasachstan – zu vereiteln, weil er befürchtet, dass sie in Russland Wurzeln schlagen könnten.
Schlechter Einfluss
Der Westen kann die freiheitliche Entwicklung in der Ukraine unterstützen, indem er sich von den Öl- und Gasvorkommen abnabelt, die Russland zur Erpressung Europas einsetzt – und indem er die Genehmigung für Nord Stream 2 verweigert. Er muss sich verstärkt darum bemühen, russisches Schwarzgeld zurückzuverfolgen und die Vermögenswerte des Regimes einzufrieren. Um eine weitere Ausbreitung von Russlands schlechtem Einfluss zu unterbinden, müssen russische Investitionen in Europa eingehend geprüft werden – und es muss verhindert werden, dass Russland Anteile in wichtigen Sektoren wie Verteidigung, Energieinfrastruktur und IT erwirbt.
Deutschland und Österreich halten an Nord Stream 2 fest. Die geplante Ostseepipeline soll Gas von Russland nach Europa bringen.
Foto: Reuters / Hannibal Hanschke
Freiheit oder Tyrannei
Es reicht nicht aus, eine Invasion in der Ukraine zu verhindern. Der Westen sollte von Russland einfordern, dass freie Entscheidungen demokratischer Gesellschaften in Osteuropa nicht länger untergraben werden, und parallel dazu mehr Unterstützung zur Stärkung demokratischer Institutionen, seiner Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien leisten.
Diese Krise darf nicht als Wettkampf zwischen großen geopolitischen Akteuren betrachtet werden; sie ist ein Wettkampf zwischen Freiheit und Tyrannei, und der Westen darf sich keinesfalls als Erfüllungsgehilfe des Kreml entpuppen. (Oleksandr Sushko, Übersetzung: Ingo J. Biermann, 28.1.2022)
Oleksandr Sushko ist geschäftsführender Direktor der International Renaissance Foundation in der Ukraine.
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