Der Hasardeur im Kreml
Es geht um weit mehr als die Ukraine, es geht um die friedliche Zukunft Europas, es geht auch um uns
Kolumne
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Paul Lendvai
21. Februar 2022, 18:42
Was hat der russische Präsident Wladimir Putin mit der Ukraine vor?
Foto: AFP / ALEXEY NIKOLSKY
Wenn ich die letzten Reden und Drohungen Wladimir Putins zur Ukraine höre, fällt mir immer wieder Alexander Solschenizyns berühmter "Brief an die sowjetischen Führer" ein: "Diese allgemeine, obligatorische Zwangsernährung mit Lügen ist gegenwärtig der quälendste Aspekt des Lebens in unserem Land, ärger als unser ganzes materielles Elend, ärger sogar als das Fehlen der Bürgerrechte." Was im Donbass in der Ostukraine passiere, sei ein Genozid, also die Ausrottung der Zivilbevölkerung, heißt es in der Botschaft des russischen Medienapparats, begleitet bereits mit Fernsehbildern über die Massenevakuierung der angeblich bedrohten russischen Bevölkerung. Nicht der seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellose massive Truppenaufmarsch von 150.000 Soldaten an den ukrainischen Grenzen stelle eine Kriegsgefahr dar, sondern die von keinen unabhängigen Medien und keinem Nato-Beobachter feststellbare aggressive Absicht der Ukraine, heißt es in Moskau.
Wie Kaninchen auf die Schlange starren wir nach Moskau, wo an diesem bizarren sechs Meter langen Tisch der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz den großen Leader baten, den souveränen Nachbarstaat Ukraine nicht zu überfallen. Erinnern diese Szenen an das absurde Theater von Beckett oder eher an die Bittsteller Daladier und Chamberlain September 1938 in München, gekommen, um Hitler zu besänftigen und ihm zu erlauben, das Sudetenland zu annektieren?
"Abwendung eines Angriffs"
Es besteht die Gefahr, dass die bloße "Abwendung eines Angriffs", der angeblich gar nicht geplant gewesen sei, am Ende als ein diplomatischer Erfolg angesehen wird, um folgenschwere Konzessionen im weltpolitischen Machtspiel zu verschleiern. Dazu gehörten dann nicht nur die Hinnahme der förmlichen Annexion der Krim und die Angliederung der beiden Satellitenrepubliken im Donbass, sondern auch die Einbindung einzelner mittel- und osteuropäischer Länder de facto in eine neudefinierte russische Einflusssphäre. Dass Belarus seit der brutalen Niederschlagung der Protestbewegung durch Alexander Lukaschenko wieder in den Status eines Vasallen und zu einem militärischen Aufmarschgebiet für Russland zurückgesunken ist, wird schon kaum mehr beachtet.
Der Moskauer Korrespondent des Spiegel hat am Samstag in einer glänzenden Zusammenfassung mit namentlicher Berufung kremlnahe Außenpolitikexperten zitiert, die es als allergrößte Gefahr hinter dem von Putin persönlich kommandierten Säbelrasseln bezeichnen, dass "niemand weiß, was in Putins Kopf vorgeht. Und niemand kann Ihnen auch nur sagen, wer Putins einflussreichste Berater sind" (Fodor Lukjanow).
Der Direktor eines regierungsnahen Thinktanks, Andrej Kortunow, findet es "gefährlich", dass "alle Entscheidungen von einem Einzelnen getroffen werden, und der liebt Überraschungen". Auf Deutsch bedeutet diese Situation, dass ein neuer Krieg in Europa davon abhängt, ob der Diktator Russlands trotz des Abschreckungsszenarios der Nato und der EU auf die Erfüllung seiner vom Westen als unverhandelbar erklärten Forderungen beharrt.