Wie zwei Männer zu Todfeinden wurden
Davide Monteleone / Laif, Paolo Pellegrin / Magnum
Nichts in den Biografien von Wladimir Putin und Wolodimir Selenski deutete darauf hin, dass sie einander je begegnen würden. Nun stehen sich die beiden Männer in einem Krieg gegenüber, der die Welt verändern wird.
Flurin Clalüna, Barbara Klingbacher und Reto U. Schneider
05.03.2022, 05.30 Uhr
Es ist Montag, der 9. Dezember 2019, als sich Wladimir Putin und Wolodimir Selenski zum ersten Mal begegnen. Sie bekleiden das gleiche Amt, teilen die Muttersprache und den Vornamen; beide haben Jura studiert, beide sind eher kleingewachsen. Wolodimir Selenski, 41, trifft an diesem Wintertag pünktlich in einem recht bescheidenen Renault vor dem Pariser Élysée-Palast ein; lächelnd eilt er über den Innenhof auf den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zu, der zu diesem Ukraine-Gipfel geladen hat. Wladimir Putin, 68, fährt in einer gepanzerten russischen Luxuslimousine vor; er ist ein paar Minuten zu spät und steigt mit unbewegtem Gesicht aus. Ein paar Tage zuvor hat er gesagt, er glaube, Selenski sei ein netter und ehrlicher Mann.
Der Gipfel in Paris, an dem neben Macron auch Angela Merkel teilnimmt, ist das erste Treffen zwischen Russland und der Ukraine seit 2016. Während Putin seit zwanzig Jahren über sein Land herrscht, ist Selenski gerade einmal sechs Monate im Amt. Sein Vorgänger, Petro Poroschenko, hat ihm von einem Treffen abgeraten, besonders von einem unter vier Augen. «Traue Putin nicht. Niemals und in nichts», hat er geschrieben, «Putin manipuliert alles: Inhalte, Fakten, Zahlen, Karten, Emotionen. Er hasst die Ukraine und die Ukrainer.»
Wolodimir Selenski (links) trifft am Ukraine-Gipfel 2019 in Paris zum ersten Mal auf Wladimir Putin (rechts). Mit dabei sind die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron.
Wolodimir Selenski (links) trifft am Ukraine-Gipfel 2019 in Paris zum ersten Mal auf Wladimir Putin (rechts). Mit dabei sind die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron.
Ludovic Marin / EPA
Am Abend geben die vier Staatsoberhäupter die Ergebnisse des Gipfels bekannt. Putin und Selenski sitzen sich am runden Tisch gegenüber, in maximaler Distanz. Neun Stunden haben die Gespräche gedauert, eine knappe Stunde davon waren Putin und Selenski allein und rangen sich gegenseitig einige Zugeständnisse ab: Waffenruhe, Gefangenenaustausch, teilweiser Truppenrückzug. Für einen Moment scheint es, als käme Selenski seinem grössten Wahlversprechen wenigstens ein bisschen näher: einer Beruhigung der Lage in der Ostukraine.
Doch es kommt anders. Zwei Jahre nach dem Pariser Gipfel stehen sich die beiden Männer in einem Krieg gegenüber, der die Welt verändern wird. Nichts in ihrer Biografie verriet, dass sie je zusammenkommen sollten, doch nun haben sich die Wege des KGB-Agenten und des Komikers auf fatale Weise gekreuzt.
Putin wird heimlich getauft
1952 Wladimir Putins Geburt grenzt an ein Wunder. Bevor er am 7. Oktober in einer 20 Quadratmeter grossen Wohnung in Leningrad auf die Welt kommt, glauben seine Mutter und sein Vater nicht mehr daran, Eltern zu werden. Putins Mutter ist über vierzig und traumatisiert von der 900-tägigen deutschen Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg. Sein Vater kämpfte an der Front und ist Kriegsinvalide. Zwei Söhne haben die Putins schon beerdigen müssen, der erste war noch ein Baby, als er starb.
Im Alter von sechs Wochen lässt die Mutter ihren Sohn Wladimir heimlich in einer russisch-orthodoxen Kirche taufen, sein Vater darf das als überzeugter Atheist und Kommunist nicht erfahren. Es ist Putins erstes Geheimnis, viele weitere Rätsel werden ihn sein ganzes Leben lang umranken. Putin wächst als Einzelkind in einem fünfstöckigen Wohnblock in der Innenstadt auf. Küche und Bad teilt die Familie mit den Nachbarn. Der Vater arbeitet in einer Eisenbahnwagenfabrik, der Grossvater hat für Lenin und Stalin gekocht.
Sofern denn alles stimmt, was in Putins Autobiografie steht. Immer wieder kursiert das Gerücht, Putin sei der uneheliche Sohn einer Frau aus Georgien, wo er aufgewachsen sei, bevor sie ihn mit neun Jahren weggegeben habe. Bei Putin weiss man nie genau, was Legende ist und was Wahrheit.
Der 5-jährige Putin mit seiner Mutter.
Der 5-jährige Putin mit seiner Mutter.
Russian Archives / Imago
1961 Im November strahlt das sowjetische Fernsehen erstmals eine Sendung mit dem Namen «KWN» aus, ein russisches Kürzel für den Namen «Klub der Witzigen und Einfallsreichen». In der Show treten Studenten mit Sketchen, Improvisationen und Musikdarbietungen gegeneinander an. Wer gewinnt, kommt eine Runde weiter. Die Humorwettkämpfe sind ein riesiger Erfolg. Bald werden an Universitäten in der ganzen Sowjetunion Qualifikationsturniere ausgetragen – auch in der Ukraine; nur die besten Teams schaffen es ins Fernsehen.
Putin will Spion werden
1962 «Ich war ein kleiner Gauner», sagt Wladimir Putin über sich als Kind. Er prügelt sich auf dem Schulhof, einmal bricht er einem Klassenkameraden ein Bein, weil der schlecht über seine Lehrerin redet. Putin mag sie, weil sie ihm gratis Nachhilfeunterricht gibt. Die Lehrerin sagt: «Als Kind war Putin nicht kräftig, aber sehr frech. Er wollte immer beweisen, dass er den anderen überlegen ist.» Sie hat ein Foto aufbewahrt, das Putin als Zehnjährigen mit nacktem, schmächtigem Oberkörper zeigt, die Arme angewinkelt wie ein Bodybuilder. Auf dem Bild sind auch lange schwarze Haare zu sehen, die ihm verliebte Schulmädchen geschenkt haben.
Ein Jahr später besucht Putin eine Kampfsportschule im Hinterhof einer Fabrik und lernt Judo. Sein Trainer ist von seiner Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit beeindruckt. «Er gab nie auf.» Putin wird Stadtmeister und trägt später den schwarzen Gürtel.
Klassenfoto mit Putin. Seine Lehrerin erinnerte sich, dass er schon immer allen überlegen sein wollte.
Klassenfoto mit Putin. Seine Lehrerin erinnerte sich, dass er schon immer allen überlegen sein wollte.
Russian Archives / Imago
Putin (unten) 1971 in einer Kampfsportschule in Leningrad.
Putin (unten) 1971 in einer Kampfsportschule in Leningrad.
Russian Archives / Imago
1964 Ein Mann namens Alexander Masljakow übernimmt die Moderation des «Klubs der Witzigen und Einfallsreichen», den er auch heute noch leitet – mehr als fünfzig Jahre später. Masljakow wird ein Vertrauter Putins werden. Selenski hingegen, den berühmtesten Komiker, den die Shows hervorbringen werden, wird der Präsident Russlands zum Todfeind erklären.
1968 Putin ist sechzehn Jahre alt, als er im Kino den Film «Schild und Schwert» über einen sowjetischen Agenten in Nazideutschland sieht. Am nächsten Tag begibt er sich zur Leningrader KGB-Zentrale, weil er auch Spion werden möchte. Ein Mitarbeiter des Geheimdienstes rät ihm, Jura zu studieren und sich dann wieder zu melden.
1972 Nach den ersten erfolgreichen Jahren greift die Zensurbehörde in das Programm der «KWN»-Shows ein. Die Wettkämpfe dürfen nicht mehr live stattfinden, sondern müssen aufgezeichnet werden – so können nicht genehme Scherze herausgeschnitten werden. Die Liste der verbotenen Themen wird immer länger; schliesslich dürfen sich Teilnehmer nicht einmal mehr einen Bart ankleben, weil sich das als Seitenhieb gegen Marx deuten liesse. 1972 wird der «Klub der Witzigen und Einfallsreichen» eingestellt.
Putin muss lächeln lernen
1975 Putin schliesst sein Rechtsstudium ab und wird vom KGB angeworben. Er wird Mitarbeiter bei der Auslandabteilung. Der Agent, der ihn rekrutiert, erzählt einmal, Putin habe zuerst lächeln lernen müssen, um die Menschen für sich zu gewinnen. Doch er lernt schnell. Als ihn seine spätere Frau Ljudmila, eine Stewardess, fragt, was er beruflich mache, antwortet er: «Ich bin ein Experte für menschliche Beziehungen.» Im KGB lernt Putin, seine Gefühle zu verbergen, andere zu manipulieren und seine Absichten zu verheimlichen. Er ist gut darin. Als er Ljudmila 1983 einen Heiratsantrag macht, glaubt sie zuerst, er wolle sich von ihr trennen.
Putins Stasi-Ausweis.
Putins Stasi-Ausweis.
Deutsches Bundesarchiv
Im Sommer 1983 heiratet Putin die frühere Stewardess Ljudmila.
Im Sommer 1983 heiratet Putin die frühere Stewardess Ljudmila.
Russian Archives / Imago
Selenski gehört zu den Dandies der Stadt
1978 26 Jahre nachdem das Ehepaar Putin seinen langerwarteten Sohn Wladimir getauft hat, kommt ein jüdisches Paar namens Selenski 1300 Kilometer weiter südlich auf die gleiche Idee: Ihr Sohn soll Wolodimir heissen, was «gross in seiner Macht» bedeutet. Wolodimir wird am 21. Januar in der russischsprachigen Industriestadt Kriwi Rih in der Ukraine geboren; noch gehört die Republik zur Sowjetunion. Sein Vater ist Professor für Kybernetik, seine Mutter Ingenieurin. Der Grossvater väterlicherseits hat im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gekämpft. Der Urgrossvater von Wolodimir und zwei seiner Grossonkel wurden als Juden im Holocaust ermordet.
In seiner Kindheit sieht Wolodimir Selenski seinen Vater selten. Der arbeitet zwanzig Jahre lang vor allem in der Mongolei, wo er ein Institut für Bergbau aufbaut. Vier Jahre verbringen auch der kleine Wolodimir und seine Mutter in der mongolischen Stadt Erdenet. Das Leben ist entbehrungsreich. Selenski erinnert sich, wie er weinte, als seine Mutter nach endlosem Anstehen für eine Wassermelone leer ausgegangen war. «Macht nichts. Nächsten Monat bekommen wir neue», hatte der Verkäufer ihr gesagt.
Selenski mit seiner Mutter, 1979.
Selenski mit seiner Mutter, 1979.
Bulvar Gazeta
Putin verteidigt seine Dienststelle
1985 Das KGB schickt Putin «als Agent der zweiten Reihe» nach Dresden. Seine Dienststelle liegt in einem der schönsten Villenviertel der Stadt. Putins wichtigste Aufgabe ist es, ausländische Studenten für die sowjetische Sache anzuwerben. Er mag das Essen und das Bier, nimmt zwölf Kilogramm zu und lernt ausgezeichnet Deutsch. Als der frühere deutsche Kanzler Gerhard Schröder viele Jahre später zum ersten Mal mit Putin telefoniert, glaubt er, der Dolmetscher des Kremls sei am Apparat.
Oberstleutnant Putin bleibt vier Jahre in Dresden, eine seiner beiden Töchter wird hier geboren. Er hätte sich vorstellen können, auch noch länger zu bleiben. Doch die Weltgeschichte kommt dazwischen. Als das DDR-Regime 1989 in sich zusammenfällt, belagern am 5. Dezember Demonstranten die KGB-Residentur. Sie halten das Gebäude für ein Haus der Stasi. Als Putin ans Tor geht, wollen sie wissen, wer er sei. «Ich bin der Dolmetscher», sagt Putin. Daraufhin habe sich die Menge friedlich aufgelöst. In anderen Berichten hingegen heisst es, Putin habe den Menschen damit gedroht, zu schiessen.
1990 kehrt Putin nach Leningrad zurück und denkt zuerst über eine Karriere als Taxifahrer nach. Den Zusammenbruch der Sowjetunion, der auf den Kollaps der DDR folgt, bezeichnet er später als «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts».
Putin mit seiner Frau Ljudmila und Tochter (ca. 1986). Die Ehe hält 30 Jahre, 2013 lässt sich das Paar scheiden.
Putin mit seiner Frau Ljudmila und Tochter (ca. 1986). Die Ehe hält 30 Jahre, 2013 lässt sich das Paar scheiden.
Russian Archives / Imago
Selenski wird Komiker
1993 Selenski wächst in einem der besseren Viertel von Kriwi Rih in einem Wohnblock auf. Die Stadt hat ein Gewalt- und Drogenproblem, Jugendbanden ziehen mit selbstgebauten Waffen durch die Strassen. Aber Selenski gehört nicht zu den Gangs, er zählt zu den Dandys der Stadt und trägt einen Ring im linken Ohr. In seiner Clique hört man englische Bands, macht Strassenmusik und schaut sich westliche Filme an. Eine besonders begehrte Jeans teilt er sich mit einem Freund. Sie tragen sie abwechslungsweise zu Verabredungen mit Mädchen. Viele der Freundschaften, die Selenski in dieser Zeit knüpft, halten bis heute.
Selenski (rechts) mit einem Freund bei einer Musikaufführung in einer Schule, 1994.
Selenski (rechts) mit einem Freund bei einer Musikaufführung in einer Schule, 1994.
Bulvar Gazeta
Im Zuge der neuen Freiheiten unter Perestroika und Glasnost sind die Humorwettkämpfe des «KWN» auferstanden – mit dem gleichen Moderator, Alexander Masljakow. Mitte der 1990er Jahre beteiligt sich auch der siebzehnjährige Selenski daran. Noch spielt er in der unteren Liga.
Selenski wollte während der Schulzeit Diplomat werden. Schliesslich entscheidet er sich für Jura. Als er sich um den Studienplatz bewirbt, reist sein Vater in die Mongolei, damit er als einflussreicher Professor nicht in den Verdacht gerät, seinem Sohn einen Vorteil zu verschaffen.
Was Selenski am Beruf des Anwalts reizt, ist die Theatralik: die grossen Auftritte, die geschliffenen Reden, die Inszenierung, die er aus westlichen Filmen kennt.
Doch als er merkt, wie wenig seine Vorstellung mit der Realität zu tun hat, widmet er den Ausscheidungen des «KWN» mehr Zeit. Er spielt, choreografiert, und er schreibt Sketche und Lieder, immer auf Russisch. Einerseits wird das von den Organisatoren so erwartet, andererseits beherrscht Selenski Russisch ohnehin besser als Ukrainisch.
1997 Selenski und seine Komikertruppe schaffen es in den Olymp der russischen Fernsehunterhaltung. Nachdem sie einen wichtigen Wettkampf gewonnen haben, lädt sie der Moderator Alexander Masljakow regelmässig ein, beim «KWN» anzutreten. Das Ensemble nennt sich nun Kwartal 95 – nach dem Quartier 95, in dem er und viele seiner Freunde zur Schule gegangen sind. Die Theaterleute leben sechs Jahre lang hauptsächlich in Moskau. Für Wettkämpfe reisen sie in die postsowjetischen Staaten. Auch Selenskis Freundin Olena gehört zu Kwartal 95, sie schreibt Texte.
Selenski wurde zu einem Comedy-Star, seine Fernsehshows erreichten traumhafte Einschaltquoten. Der Humor konnte allerdings derb sein. In einem berühmt gewordenen Sketch sieht es aus, als spiele er mit seinem Penis Klavier.
Selenski wurde zu einem Comedy-Star, seine Fernsehshows erreichten traumhafte Einschaltquoten. Der Humor konnte allerdings derb sein. In einem berühmt gewordenen Sketch sieht es aus, als spiele er mit seinem Penis Klavier.
Horlushko Valdemar / Imago
Bei Selenskis Produktionsfirma heisst Studio Kwartal 95 nach dem Quartier 95 in dem er aufgewachsen ist. Bis heute arbeiten viele frühe Freunde mit ihm zusammen. Hier ein Konzert von Kwartal 95 im Mai 2008.
Bei Selenskis Produktionsfirma heisst Studio Kwartal 95 nach dem Quartier 95 in dem er aufgewachsen ist. Bis heute arbeiten viele frühe Freunde mit ihm zusammen. Hier ein Konzert von Kwartal 95 im Mai 2008.
Alexander Gusev / Imago
Die beiden sind sich auf dem Heimweg vom Kino begegnet. Jahrelang hatten sie Parallelklassen am Gymnasium besucht, einander aber nicht gekannt. Es dauerte dann eine Weile, bis Selenski einen Vorwand fand, um an Olenas Telefonnummer zu kommen. Erst als sie ihm das Video von «Basic Instinct» auslieh, ergatterte er die Nummer. Er habe sich, sagt er später, einfach unsterblich in diese Frau verliebt, die heute die First Lady der Ukraine ist.
Putin führt seinen ersten Krieg
1999 Während Selenski in den ehemaligen Sowjetrepubliken gegen andere Komiker kämpft, führt Putin in Tschetschenien seinen ersten Krieg. Er ist gerade Ministerpräsident geworden, und er geht in diesem Konflikt so brutal vor, wie er über ihn spricht. «Wir werden die Terroristen überall verfolgen», sagt er. «Wenn sie, Entschuldigung, auf der Toilette sind, werden wir sie auf dem Klo kaltmachen.» Putin ist damals ein noch unbekannter Politiker. Der Krieg macht ihn populär. Wenige Monate später wird er zum Präsidenten gewählt.
2000 Im Kreml kehren die alten Zeiten zurück. Bei Zeremonien wird wieder die Sowjethymne gespielt. Putin will das so. Er unterschreibt eine Gesetzesvorlage, so dass in der Silvesternacht im Jahr 2000 zum ersten Mal nach neun Jahren wieder die Melodie ertönt, die 1944, zu Zeiten Stalins, eingeführt worden war. Ohne die alte Hymne, erklärt Putin, hätten «unsere Mütter und Väter umsonst gelebt».
Putin ist mit 48 Jahren der mächtigste Mann Russlands. Er bleibt es auch, als er 2008 mit Dmitri Medwedew für vier Jahre die Ämter tauscht und offiziell nur noch Ministerpräsident ist. Putin trifft fünf amerikanische Präsidenten, vier Mal erklärt ihn das Magazin «Forbes» zum mächtigsten Mann der Welt. Nach einer Verfassungsänderung im Jahr 2020 könnte er bis 2036 russischer Präsident bleiben.
2008 tauschen Dmitri Medwedew (rechts) und Putin die Ämter. Vier Jahre lang ist Putin offiziell nur noch Ministerpräsident.
2008 tauschen Dmitri Medwedew (rechts) und Putin die Ämter. Vier Jahre lang ist Putin offiziell nur noch Ministerpräsident.
UPI Photo / Imago
Es ist ein Amt mit Macht, aber kein besonders gut bezahltes. Als Präsident verdient er laut dem Kreml nur etwas mehr als 130 000 Dollar. Offiziell besitzt er eine 77 Quadratmeter grosse Wohnung und eine 18 Quadratmeter grosse Garage sowie drei Autos. Es kursieren immer wieder Berichte, wonach Putin ein Milliardenvermögen besitzt.
2001 Zwei Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September steht Wladimir Putin in einem etwas zu grossen Sakko am Rednerpult des Deutschen Bundestages in Berlin. Putin beginnt auf Russisch und fährt dann auf Deutsch fort: «Die Welt befindet sich auf einer neuen Etappe ihrer Entwicklung. Wir verstehen: Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf dem Kontinent nie ein Vertrauensklima, und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Grosseuropa möglich.»
Putin spricht in seiner halbstündigen Rede von einem demokratischen, marktwirtschaftlichen Russland. Wie Selenski kämpft er von der Bühne herab um die Gunst der Zuschauer, und wie Selenski feiert er einen Erfolg damit. Die deutschen Abgeordneten klatschen stehend Beifall.
Putin 2001 spricht im Deutschen Bundestag. Er gilt damals als Hoffnungsträger des Westens.
Putin 2001 spricht im Deutschen Bundestag. Er gilt damals als Hoffnungsträger des Westens.
Wolfgang Rattay / Reuters
Selenski wird ein Star
2003 Selenski überwirft sich mit dem mächtigen Moderator von «KWN», Alexander Masljakow, nachdem dieser ihn aufgefordert hat, einige politisch gewagte Scherze aus seinem Programm zu nehmen. Daraufhin kehrt Selenski mit seiner Truppe in die Ukraine zurück.
Nachdem er sich mit Olena einen Film im Kino angeschaut hat, in dem die Protagonisten Eltern sind, macht er seiner Freundin spontan einen Antrag. Die beiden heiraten im gleichen Jahr und bekommen ein Jahr später eine Tochter, die sie Aleksandra nennen; neun Jahre später wird ihr Sohn Kiril zur Welt kommen.
Selenski mit seiner Frau Olena und Tochter Aleksandra.
Selenski mit seiner Frau Olena und Tochter Aleksandra.
112.ua
Aus Kwartal 95 wird in der Ukraine das Studio Kwartal 95, eine Produktionsfirma, die die Welt mithilfe von Humor und Kreativität in einen freundlicheren Ort verwandeln soll, wie Selenski schreibt. Die Shows brechen bald sämtliche Rekorde. In den folgenden Jahren produziert die Firma Dutzende von Aufführungen und Komödien fürs Fernsehen, oft mit Selenski als Star. Allen ist gemeinsam, dass sie russisch gesprochen sind, denn sie richten sich nicht nur ans ukrainische, sondern auch ans russische Publikum.
Selenski nennt Monty Python als Vorbild, allerdings seien seine Sketche eher an Benny Hill angelehnt: ein recht derber Unterschichthumor. In einem legendären Sketch spielt Selenski zum Beispiel Klavier mit seinem Penis – so sieht es zumindest aus. Aber er veräppelt in seinen Satiresendungen auch Politiker und Oligarchen und geht oft an die Grenzen dessen, was in der Ukraine sagbar ist.
Putin inszeniert sich als Abenteurer
2007 An einem Abend im Februar schlägt der frühere bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber Wladimir Putin vor, zusammen eine Brotzeit zu essen. Putin probiert in einem Münchner Hotel alle Wurstsorten. Dann sagt er geheimnisvoll zu Stoiber: «Morgen werde ich ganz grundsätzlich werden.» Es ist der Vorabend der Münchner Sicherheitskonferenz, und Putin hat nicht zu viel versprochen. In seiner Rede kritisiert er die «monopolare Weltherrschaft» der USA und die Osterweiterung der Nato. Im Saal schauen sich die Zuhörer fragend an. Warum diese scharfe Angriffsrede? Und weshalb gerade jetzt? Putins Sprecher nennt die Ansprache später «einen Alarmruf».
2008 Im August führt Russland wieder Krieg, diesmal ausserhalb seiner Grenzen. Putin nennt die Militäroperation in Georgien «Erzwingung des Friedens». Der Konflikt dreht sich um die Regionen Südossetien und Abchasien. Der Krieg dauert fünf Tage. Als er vorbei ist, spricht der Moderator der deutschen «Tagesschau» Putin in einem Interview auf seine nächsten Ziele an. Putin empfindet die Frage als Provokation und kommt dann auf die ukrainische Halbinsel Krim zu sprechen. «Es ist meiner Meinung nach nicht korrekt, von irgendeinem nächsten Ziel zu sprechen. Die Krim ist kein umstrittenes Territorium (. . .). Russland hat längst die jetzigen Grenzen der heutigen Ukraine anerkannt.»
2009 Putins Selbstinszenierungen als strammer Naturbursche und unerschrockener Hansdampf in allen Gassen erfolgen in so hoher Kadenz, dass man leicht den Überblick verliert. Fand die Fahrt auf der Harley vor dem Tauchgang im U-Boot statt? Und wann hat er schon wieder den Waldbrand gelöscht? Die Bildagentur Reuters führt eine Fotogalerie unter dem Titel «Putin’s macho image». Ein Bild, das zur Ikone wurde, zeigt ihn im Sommer 2009 mit freiem Oberkörper auf einem Pferd. Ein Mann, ein Pferd, die Wildnis. Der Marlboro-Mann auf Russisch.
Putin liess sich bei seinem Abenteuerurlaub in Sibirien wie üblich von Fotografen begleiten. Die hielten ihn beim Feuermachen fest, beim Bad im Bergsee und mit der Angelrute. Doch es war das Bild auf dem Pferd, das in Erinnerung blieb.
Als Donald Trump 2017 amerikanischer Präsident wird und sich bei Putin einschmeichelt, erinnert sich ein Grafiker an den Film «Brokeback Mountain» über zwei homosexuelle Cowboys und montiert Donald Trump hinter Putin aufs Pferd, ebenfalls mit entblösstem Oberkörper.
Eine amerikanische Late-Night-Show produziert einen kurzen Trickfilm mit Putin und Trump auf einem rosa Einhorn. «Putin goes Brokeback Mountain» gibt es als Poster, T-Shirt oder Tasse. Ausgerechnet Putin wird so zur ironischen Schwulenikone gemacht. Und das, obwohl Homosexuelle in Russland ein schweres Leben haben, unter anderem weil eine moderne Sexualaufklärung an den Schulen verboten ist. Selenski hingegen denkt in dieser Hinsicht fortschrittlich, in seinen Shows tritt er auch mal als Frau verkleidet oder in Stöckelschuhen und Latex auf.
2010 An einem Wochenende im Sommer fährt Putin mit einer wuchtigen, dreirädrigen Harley Davidson über eine staubige Landstrasse auf der Halbinsel Krim. Er ist schwarz gekleidet, trägt eine Sonnenbrille, fingerlose Lederhandschuhe und keinen Helm. Begleitet wird er von einem Tross russischer Biker des Rockerklubs «Wölfe der Nacht». Mit den russischen Fahnen an ihren Sätteln sieht die Parade aus wie die Vorahnung einer Invasion. Und das ist sie auch.
Putin (Mitte) nimmt an einer Biker-Parade auf der ukrainischen Halbinsel Krim teil.
Putin (Mitte) nimmt an einer Biker-Parade auf der ukrainischen Halbinsel Krim teil.
Sergei Karpukhin / AP
Selenski nähert sich einem Oligarchen
2012 Alle Produktionen von Kwartal 95 werden nun auf dem beliebten Fernsehsender 1+1 gezeigt, der nach einem Machtkampf ein paar Jahre zuvor dem ukrainischen Oligarchen Ihor Kolomoiski gehört. Kolomoiski ist einer der reichsten Männer des Landes und gilt als skrupellos. Er wurde verdächtigt, einen Mord an einem Anwalt in Auftrag gegeben zu haben. Ausserdem heisst es, er schüchtere Gegner ein, indem er während Besprechungen seinen fünf Meter langen Hai füttere, den er in einem Aquarium in seinem Büro halte. Mithilfe von Kolomoiskis Sender erreicht Selenskis Popularität in der Ukraine einen neuen Höhepunkt, und auch bei den Russen, für die er noch immer produziert, laufen seine Shows und Filme mit grossem Erfolg.
Selenski spielte in vielen Filmen seiner Produktionsfirma die Hauptrolle. Dieses Bild zeigt ihn in der romantischen Komödie "Die Büroromanze" aus dem Jahr 2011.
Selenski spielte in vielen Filmen seiner Produktionsfirma die Hauptrolle. Dieses Bild zeigt ihn in der romantischen Komödie "Die Büroromanze" aus dem Jahr 2011.
Leopolis / AFP
In den kommenden Jahren verbringen die beiden Männer immer mehr Zeit miteinander, zum Beispiel auf den Malediven, wo mehrere Mitglieder der Komikertruppe mit dem Oligarchen Ferien machen. «Ich bin gern mit lustigen Menschen zusammen», sagt Kolomoiski dazu.
2013 Nach dreissig Ehejahren geben Putin und seine Frau in der Pause einer Ballettvorführung beiläufig ihre Scheidung bekannt. Auf der Bühne im Grossen Kremlpalast wird das Stück «La Esmeralda» gespielt, Putin und seine Frau verlassen den Saal, um ein Interview zu geben. Als er gefragt wird, ob die Trennungsgerüchte wahr seien, lächelt er Ljudmila zu und sagt: «Ja, das stimmt.» Das letzte russische Staatsoberhaupt, das sich im Amt scheiden liess, war Peter der Grosse – vor über 300 Jahren. Auf der offiziellen Website des Kremls mit den Biografien russischer Präsidenten gibt es keinen Hinweis mehr auf Putins Ehe mit Ljudmila.
Putin umgibt sich mit Stars
2013 Es sieht aus, als würde Obelix Asterix umarmen. Gérard Depardieu geht mit ausgebreiteten Armen auf Wladimir Putin zu, legt dem halb so schweren russischen Präsidenten die Arme um den Körper und drückt ihn fest an seinen riesigen Bauch.
Putin hat den französischen Schauspieler, der unter anderem für seine Rolle als Obelix bekannt wurde, im Januar zu einem kurzen Besuch auf sein Anwesen am Schwarzen Meer eingeladen. Die beiden haben etwas zu feiern: Depardieu hat per Dekret des Präsidenten die russische Staatsbürgerschaft erhalten und holt seinen neuen Pass ab. Die Einbürgerung geschieht aus Protest gegen die hohen Einkommenssteuern, die in Frankreich drohen – aber dann doch nicht kommen.
Der französische Schauspieler Gérard Depardieu ist ein Verehrer von Putin. Weil ihm die Steuergesetze in Frankreich nicht passten, hat er 2013 die russische Staatsbürgerschaft angenommen.
Der französische Schauspieler Gérard Depardieu ist ein Verehrer von Putin. Weil ihm die Steuergesetze in Frankreich nicht passten, hat er 2013 die russische Staatsbürgerschaft angenommen.
Mikhail Klimentyev / Pool / EPA
Putin ist voller Verständnis: «Künstler sind leicht zu kränken, und deshalb verstehe ich die Gefühle von Herrn Depardieu.» Dieser bedankt sich mit einem schwelgerischen Brief, in dem er schreibt, wie sehr er «Russland, seine Menschen, seine Geschichte und seine Schriftsteller» liebe, und das Land als «grosse Demokratie» bezeichnet.
Depardieu ist Teil einer kleinen Gruppe von prominenten Sonderlingen aus dem Westen, die Putin als grossen Staatsmann verehren und seine Machtpolitik verteidigen. Wer wissen will, wer dazugehört, braucht bloss die Liste der Personen durchzugehen, die in der Ukraine ein Einreiseverbot haben: Neben Depardieu stehen da noch der Filmschauspieler Steven Seagal, der Schlagersänger Al Bano und der Rapper Fred Durst, der Frontmann der amerikanischen Band Limp Bizkit. Depardieu hat übrigens auch eine Adresse in Russland. Seine Wohnung liegt an der Demokratiestrasse 1 in Saransk.
2013 Im November flammen in Kiew Proteste gegen Präsident Wiktor Janukowitsch auf. Auslöser ist, dass seine Regierung das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union überraschend nicht unterzeichnen will. Der Grund sind politischer Druck und angedrohte Wirtschaftssanktionen von Russland gegen die Ukraine. Weil die Demonstrationen oft auf dem Maidan Nesaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit, stattfinden, heisst der Volksaufstand bald schon Euromaidan. Er endet im Februar 2014 mit über achtzig Todesopfern und der Flucht Janukowitschs. Für Russland ist der Euromaidan ein weiteres Zeichen dafür, dass die Ukraine dem Einfluss aus Moskau entgleitet.
Während der Maidan-Revolution gehen Hunderttausende in Kiew auf die Strasse, um gegen die ukrainische Regierung zu protestieren. Im Januar und Februar eskaliert die Situation, mehr als 80 Menschen sterben.
Während der Maidan-Revolution gehen Hunderttausende in Kiew auf die Strasse, um gegen die ukrainische Regierung zu protestieren. Im Januar und Februar eskaliert die Situation, mehr als 80 Menschen sterben.
Sergey Dolzhenko / EPA
Putin (links) und der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch an einem Gipfeltreffen 2013 in Moskau.
Putin (links) und der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch an einem Gipfeltreffen 2013 in Moskau.
Sasha Mordovets / Getty
2014 In den frühen Morgenstunden des 23. Februar 2014, am Tag der Schlussfeier der Olympischen Spiele in Sotschi, gibt Putin den Auftrag, mit der «Rückholung» der Krim zu beginnen. Ein paar Monate später sagt ein hoher Kreml-Beamter in der Euphorie nach der Annexion: «Solange es Putin gibt, gibt es Russland. Kein Putin, kein Russland.»
Selenski spielt Präsident
2014 Im August postet Selenski ein Bild auf seiner Facebook-Seite, das ihn umringt von ukrainischen Soldaten in der Hafenstadt Mariupol zeigt. Die Stadt liegt weit im Osten des Landes, wo die Ukraine und Russland einen Krieg um Land führen. Darunter schreibt er: «Wir sind stolz, mit euch im gleichen Land zu leben.» Selenski ist für einen Auftritt an die Front gereist, um die Soldaten im Kampf gegen Russland zu unterstützen.
Gleichzeitig tut er etwas, was ihm schwere Kritik von Moskau einbringt: Seine Produktionsfirma spendet eine Million Hrywna, damals etwa 70 000 Franken, an die ukrainische Armee. Es ist das Zeichen, dass er mit Russland endgültig gebrochen hat. Kwartal 95 produziert nun auch nicht mehr für den dortigen, viel lukrativeren Markt. Nach eigenen Angaben war Selenski seither nie mehr im Nachbarland.
2015 Wenn in den Geschichtsbüchern der Zukunft eine Fernsehserie erwähnt werden wird, dann jene, die am 16. Oktober 2015 abends auf dem ukrainischen Kanal 1+1 Premiere hatte. Die Politkomödie «Diener des Volkes» dreht sich um den Lehrer Wasil Holoborodko, der bei einer Schimpftirade gegen die Korruption in seinem Land von einem Schüler heimlich gefilmt wird. Im Internet wird das Video zu einer Sensation und der Lehrer schliesslich unfreiwillig zum Präsidenten des Landes. Der Lehrer wird gespielt von Wolodimir Selenski.
Noch weiss nicht einmal Selenski selbst, dass «Diener des Volkes» zu seiner über drei Staffeln verteilten Wahlkampfankündigung werden wird.
2017 Selenski kauft im toskanischen Nobelbadeort Forte dei Marmi eine Villa mit 17 Zimmern, die 3,8 Millionen Euro kostet. Während seiner Präsidentschaftskandidatur wird er «vergessen», sie als Vermögen zu deklarieren. Als seine Frau später in einem Interview nach dem Anwesen gefragt wird, behauptet Olena, sie wisse nicht, ob die Villa wirklich ihnen gehöre, sie seien seit drei Jahren nicht mehr dort gewesen.
Putin besucht Syrien
2017 Russische Kampfpiloten stehen im Dezember im Halbkreis auf dem syrischen Luftwaffenstützpunkt Hamaimim und wissen nicht recht, wie sie auf den hohen Besuch reagieren sollen. Gerade ist ihr Präsident aus einem gepanzerten Fahrzeug gestiegen. Wladimir Putin macht ein paar Schritte auf die Soldaten zu und winkt sie zu sich. Etwas versteckt in seinem Rücken steht der syrische Machthaber Asad.
Putin kündigt an, grosse Teile seiner Truppen aus Syrien zurückzuziehen, «die meisten Terroristen sind vernichtet». Den Piloten sagt er: «Ihr kehrt siegreich nach Hause zu euren Angehörigen, Eltern, Frauen, Kindern, Freunden zurück. Das Vaterland erwartet euch, meine Freunde.» Mehr als zwei Jahre flog das russische Militär Luftangriffe und unterstützte Asads Armee im Bürgerkrieg. Es ist Putins erster Krieg, den er ausserhalb der Grenzen der früheren Sowjetunion führt.
Putin trifft den syrischen Machthaber Bashar al-Asad (Mitte) im Dezember 2017 in Syrien.
Putin trifft den syrischen Machthaber Bashar al-Asad (Mitte) im Dezember 2017 in Syrien.
Kremlin Pool / Imago
Selenski sagt seiner Frau nichts von der Kandidatur
2018 In der Ukraine steht nach dem Jahreswechsel traditionellerweise die Ansprache des Präsidenten Poroschenko auf dem Programm. Wenige Minuten vor zwölf unterbricht Selenski im Fernsehsender 1+1 seine grosse Neujahrsshow und schlüpft hinter einem roten Vorhang hervor. Neben dem Weihnachtsbaum verkündet er – zur Hälfte auf Russisch, zur Hälfte auf Ukrainisch –, er werde sich um das Amt des Präsidenten bewerben.
Ironischerweise war es ein Berater des Amtsinhabers Poroschenko, der Selenski erstmals als Alternative zum Präsidenten ins Spiel gebracht hat. Zwischen den Wahlen werden immer wieder Umfragen gemacht, bei denen man den Ukrainerinnen und Ukrainern Listen mit den Namen von Politikern vorlegt, die möglicherweise für das Amt kandidieren werden. 2016 setzte der Berater erstmals auch Selenski, den Comedypräsidenten, auf diese Liste, möglicherweise als Scherz.
Der amtierende Präsident Petro Poroschenko (links) und sein Herausforderer Selenski treffen sich vor der Stichwahl im April 2019 zu einer Debatte.
Der amtierende Präsident Petro Poroschenko (links) und sein Herausforderer Selenski treffen sich vor der Stichwahl im April 2019 zu einer Debatte.
Brendan Hoffman / Getty
Selenski und seine Frau Olena an einer Veranstaltung. Die beiden haben sich bereits als Jugendliche kennengelernt.
Selenski und seine Frau Olena an einer Veranstaltung. Die beiden haben sich bereits als Jugendliche kennengelernt.
Serg Glovny / Imago
Doch damit wurden der Komiker und seine Fernsehfigur Wasil Holoborodko in Köpfen von Millionen Ukrainern eins. Und in den Köpfen von Selenski und seinen Freunden keimte die Idee, tatsächlich Politik zu machen. 2018 lassen sie die Partei Diener des Volkes offiziell eintragen, Parteichef ist Iwan Bakanow, der mit Selenski im gleichen Haus aufwuchs und nun Chef von Kwartal 95 ist; er wird später den Geheimdienst der Ukraine leiten. Im November 2018 liegt Selenski – obwohl noch gar nicht offizieller Kandidat – in den Umfragen bereits vor Poroschenko.
Als die Einspielung, in der Selenski seine Kandidatur bekanntgibt, ausgestrahlt wird, ist er mit seiner Familie in Frankreich in den Skiferien, sie stossen auf das neue Jahr an und schauen nicht fern. Olena erfährt erst am Neujahrsmorgen aus den sozialen Netzwerken, was ihr Mann getan hat. Sie ist von Anfang an gegen diese Pläne, aber wenn Wolodimir von etwas überzeugt sei, halte ihn wenig davon ab. An diesem Neujahrsmorgen fragt sie ihn, ob er sie nicht wenigstens hätte warnen können. Er antwortet: «Habe ich dir nichts gesagt? Ich habe es vergessen.»
Selenski wird Präsident
2019 Die 30 000 Plätze des Fussballstadions Dnipro sind ausverkauft. Auf der Bühne steht Selenski mit seinen Freunden von Kwartal 95, sie spielen Sketche und machen Musik, schliesslich singt ein Mädchen die ukrainische Nationalhymne, das ganze Publikum singt mit. Dann tritt Selenski auf. Er sagt, er brauche keine Propaganda. Jeder und jede im Publikum sei intelligent und wisse schon, was er oder sie am Wahltag zu tun habe.
Die Selenskis geben bei der Stichwahl um das Präsidentenamt im April 2019 ihre Stimmen ab.
Die Selenskis geben bei der Stichwahl um das Präsidentenamt im April 2019 ihre Stimmen ab.
Brendan Hoffman / Getty
Der Auftritt ist der Endpunkt eines beispiellosen Wahlkampfs, der fast ausschliesslich in den sozialen Netzwerken und auf Youtube stattfand. Selenskis Entourage besteht zu einem grossen Teil aus Freunden aus der Kindheit und Kollegen von Kwartal 95. Aber auch Kolomoiski gehört zu Selenskis Unterstützern. Seine Begeisterung für den Präsidentschaftskandidaten ist so gross, dass Selenski vorgeworfen wird, er sei nur eine Marionette.
Seit Kolomoiskis Privatbank, aus der er Milliarden Dollar abgezweigt haben soll, unter Poroschenko verstaatlicht wurde, ist der amtierende Präsident der Erzfeind des Oligarchen. Selenski bestreitet, dass Kolomoiski Einfluss nimmt. Allerdings ist er seit 2017 mehr als ein Dutzend Mal nach Genf und Tel Aviv geflogen, den Wohnorten Kolomoiskis.
Selenski wird in der Stichwahl gegen Poroschenko mit 73 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt; das ist der höchste Wert, der je erreicht wurde. Sein grösstes Versprechen an sein Volk: Er will den Krieg beenden, und das innerhalb eines Jahres. Der Kreml gratuliert nicht zur Wahl, dafür sei es «noch zu früh». Putin war 48, als er Präsident wurde, Selenski ist sieben Jahre jünger.
Putin ist immer ein Sieger
2019 Wladimir Putin ist schon 66 Jahre alt, als er an einer Eishockeygala in Sotschi mitspielt. Er trägt die Nummer 11 und erzielt beim 14:7-Sieg seiner Mannschaft acht Tore. So schreiben es die Nachrichtenagenturen, aber der Kreml dementiert und korrigiert Putins Trefferquote nachträglich nach oben, auf zehn Goals. Was nirgend steht, aber viele vermuten: Seinen Mitspielern ist befohlen worden, dem Präsidenten die Tore so vorzubereiten, dass er nur noch die Stockschaufel hinhalten muss.
Putin (links) bespricht sich mit seiner Eishockeymannschaft.
Putin (links) bespricht sich mit seiner Eishockeymannschaft.
Mikhail Klimentyev / Imago
Es ist nicht das erste Mal, dass man Putin gut aussehen lässt. Als er beim Angeln gefilmt wird, zieht er sechzehn Fische an Land. Der Mann, der neben ihm die Rute ins Wasser hält, nur gerade einen. Ein Reporter, der die Szene fotografiert hat, ist überzeugt, «dass Putins Männer ihm unter Wasser die Fische zugeführt haben».
Die schönste Inszenierung gelingt Putins Leuten im Asowschen Meer, 1000 Kilometer südlich von Moskau. Putin steigt im Taucheranzug ins Wasser und findet ganz zufällig zwei griechische Amphoren, die 1500 Jahre unberührt auf dem Meeresboden lagen. Wie er das gemacht hat? An diesem Tag sei das Wasser klar gewesen, meldet die Agentur Interfax. Später gibt Putins Sprecher zu, dass Taucher die Vasen extra für Putin auf dem Meeresgrund deponiert hätten. Wie man nur so naiv sein könne, etwas anderes zu glauben.
Selenski führt sein schwierigstes Telefongespräch
2019 An diesem Donnerstagnachmittag um 16 Uhr 03 beginnt für Selenski das schwierigste Telefongespräch seiner noch kurzen Amtszeit. Es wird später Wort für Wort öffentlich und landet in den Akten zum Amtsenthebungsverfahren des amerikanischen Präsidenten Donald Trump.
Selenski steht vor einer unmöglichen Aufgabe: Er ist dringend auf die militärische Unterstützung der USA angewiesen. Doch als er das Gespräch auf die Panzerabwehrwaffen bringt, die er gerne von den USA kaufen würde, erwidert Trump: «Ich möchte Sie bitten, uns einen Gefallen zu tun.» In den USA stehen Wahlen an, und Trump lässt nichts unversucht, seinem Widersacher Joe Biden zu schaden. Eine Möglichkeit sieht er darin, belastendes Material gegen Bidens Sohn Hunter zu finden, der in der Ukraine Geschäfte tätigte. Es werde viel über Hunter geredet, sagt Trump, «also wäre alles, was Sie mit dem Generalstaatsanwalt tun können, grossartig».
Selenski (linsk) und Donald Trump (rechts) treffen sich im September 2019 während der Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Selenski (linsk) und Donald Trump (rechts) treffen sich im September 2019 während der Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Ukraine Presidential Press Service / EPA
Selenski hält den geltungssüchtigen Trump mit gesäuselten Komplimenten während einer halben Stunde bei Laune. «Sie sind ein grossartiger Lehrer, ich wollte Ihnen auch sagen, dass wir Freunde sind.» Doch er verspricht ihm nichts Konkretes, worauf Trump 400 Millionen Dollar Militärhilfe an die Ukraine zurückhält. Weil sich dieses Verhalten als Erpressung deuten lässt, wird im September 2019 ein – allerdings erfolgloses – Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump eingeleitet.
2019 An Silvester, drei Wochen nachdem sich Putin und Selenski in Paris zum ersten Mal getroffen haben, wünschen sie einander am Telefon ein frohes neues Jahr.
Putin tritt gegen Selenski den Krieg los
2022 Es ist der 24. Februar um 6 Uhr morgens Moskauer Zeit, als Putin macht, was alle befürchten, aber wenige für möglich gehalten haben: Er beginnt den Krieg. «Für unser Land ist es eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Volk», sagt Putin. Dann fallen die ersten Bomben auf ukrainische Städte. 800 Kilometer entfernt ruft Selenski seine Bürger zum Widerstand auf. «Wir geben Waffen an alle, die fähig sind, uns zu beschützen. Wir sind alle Armee.»
Mit einer Videobotschaft verkündet Putin am 24. Februar 2022 den Beginn einer «militärischen Operation gegen die Ukraine» und startet so den Krieg.
Mit einer Videobotschaft verkündet Putin am 24. Februar 2022 den Beginn einer «militärischen Operation gegen die Ukraine» und startet so den Krieg.
Reuters
Selenski wendet sich nach den ersten russischen Angriffen an die Ukrainerinnen und Ukrainer.
Selenski wendet sich nach den ersten russischen Angriffen an die Ukrainerinnen und Ukrainer.
Ukrainian President's Office / Imago
Quellen:
«Visiting Gordon.» Der ukrainische Journalist Dimitri Gordon interviewt Wolodimir Selenski, Dezember 2018.
«Interview mit Olena Selenka», BBC Ukraine, April 2019.
«The Betrayal of Volodymyr Zelensky», The Atlantic, 3.12.2019.
«In First Meeting With Putin, Zelensky Plays to a Draw Despite a Bad Hand», The New York Times, 9.12.2019.
«Ze time: Vladimir Zelensky. Who is he?», Frida Lensky, Strelbytskyy Multimedia Publishing, 2019.
Vladimir Putin, «An astonishingly frank self-portrait by russia’s president Vladimir Putin», 2000.
Michel Eltchaninoff, «Dans la tête de Vladimir Poutine», 2015.
«In seiner Welt», Süddeutsche Zeitung, 11. Februar 2022.
«Wladimir Putin», Spiegel-Biografie, 2017.