Umgang mit Flüchtlingen: Geteilte Bedrohungswahrnehmung
Noch im September hat Polen Flüchtlinge an der polnisch-belarussischen Grenze zurückgewiesen. Auch neue EU-Migrationsregelungen wurden geblockt. Wieso ist das jetzt auf einmal ganz anders?
Kommentar der anderen
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Agnieszka Łada-Konefał
10. März 2022, 08:00
Agnieszka Łada-Konefał vom Deutschen Polen-Institut erklärt in ihrem Gastkommentar, warum Polen so viele Flüchtlinge aus der Ukraine aufnimmt – und welche schnelle Hilfe man von der EU erwartet.
Am Vortag des Kriegsausbruchs hatten 56 Prozent der Polinnen und Polen gemeint, ihre Regierung sollte im Fall der russischen Aggression gegen die Ukraine Flüchtlinge aus diesem Land aufnehmen. Fünf Tage später waren es sogar 95 Prozent. Diese große Bereitschaft wird auch in die Praxis umgesetzt.
Sicher in Polen: Insgesamt sind schon mehr als eine Million Menschen auf der Flucht vor den russischen Invasoren.
Foto: Imago / Zuma Wire
In den 13 Tagen, die nach dem russischen Angriff vergangen sind, sind mehr als 1,3 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Polen eingereist. In der Grenzregion wurden Erstaufnahmezentren eingerichtet. Privatpersonen strömen in Scharen an die polnisch-ukrainische Grenze, um den Flüchtlingen eine Mitfahrgelegenheit in verschiedene Teile Polens anzubieten und sie mit Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung zu versorgen. Ukrainische Familien kommen in Privathäusern unter. Hotels stellen kostenlose Unterkünfte zur Verfügung.
Großes Mitgefühl
Ein Grund für die Offenheit gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainern in Not ist die geteilte Bedrohungswahrnehmung.
Die polnische Geschichte sowie die russischen Angriffe auf Georgien oder die Annexion der Krim führten dazu, dass drei Viertel der Polinnen und Polen sich auch in den vergangenen Jahren von Russland militärisch bedroht fühlten. Umso größer ist das Mitgefühl mit den ukrainischen Kriegsopfern heute. Diese Tatsache erklärt auch, warum die Bereitschaft zur Aufnahme von Personen, die im Jahr 2021 über die Grenze mit Belarus nach Polen gelangen wollten, deutlich geringer war. Man wollte bei der Provokation des belarussischen Diktators, der mit Wladimir Putins Unterstützung handelte, nicht mitmachen.
Doch der Hauptgrund ist die direkte Nachbarschaft und jahrelange Koexistenz. Die Ukraine und Polen haben seit Jahrhunderten eine gemeinsame Geschichte. Vor den Teilungen Polens und von 1918 bis 1945 gehörte ein Teil der heutigen Ukraine zu Polen. Es gibt dort immer noch viele Menschen polnischer Herkunft, vor allem in der Gegend um Lemberg, sowie Polinnen und Polen und deren Nachfahren, die aus dieser Gegend vertrieben wurden und jetzt etwa in Breslau leben.
Die geografische Nähe, kulturelle Ähnlichkeiten und der Bedarf auf dem polnischen Arbeitsmarkt hatten zur Folge, dass in den letzten Jahren auch mehrere Tausend Ukrainerinnen und Ukrainer nach Polen kamen. So beschränkt sich die ukrainische Community in Polen schon lange nicht mehr auf die 27.000 Personen der ukrainischen Minderheit, also Menschen, die ukrainische Wurzeln, aber die polnische Staatsangehörigkeit haben, sondern umfasst heute mehr als 1,3 Millionen Menschen. Manche der Arbeitsmigrantinnen und -migranten kommen für ein paar Monate, andere bleiben für längere Zeit. Auch die Zahl der ukrainischen Studierenden in Polen ist mit 38.400 hoch.
"Die Erfahrung des Zusammenlebens mit so vielen Ukrainerinnen und Ukrainern ist positiv und macht die Bereitschaft, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen, noch größer."
Die Folge ist, dass sehr viele Polinnen und Polen Verwandte oder Bekannte in der Ukraine haben. So liegen ihnen die Ereignisse jenseits der Ostgrenze besonders am Herzen. Denn es sind keine Fremden, die in U-Bahn-Stationen Schutz suchen, sondern die Person, mit der man noch vor zwei Wochen telefoniert hat, oder die Familie der Arbeitskollegin. Dank der sozialen Medien ist dieses Gefühl der Nähe und der Empathie sogar noch größer. Im Falle des Krieges in Syrien oder der Konflikte in Afrika war dies in unvergleichlich kleinerem Ausmaß gegeben. Eine große Rolle spielt auch, dass die polnisch-ukrainische Grenze von Frauen und Kindern überschritten wird. Das verstärkt das Mitgefühl und die Offenheit.
Die Erfahrung des Zusammenlebens mit so vielen Ukrainerinnen und Ukrainern ist positiv und macht die Bereitschaft, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen, noch größer. Die ukrainische Community wird auch den Migrantinnen und Migranten helfen, sich schneller in Polen wohlzufühlen. Ferner stellt sich aus sprachlicher Perspektive die Integration der Ukrainerinnen und Ukrainer weniger problematisch dar als bei anderen Nationalitäten. Von allen slawischen Sprachen ist das Ukrainische dem Polnischen am ähnlichsten, nämlich bis zu 70 Prozent. Im westlichen Teil der Ukraine wird sogar ein Dialekt verwendet, in dem häufig polnische Substitute vorkommen.
All dies bedeutet, dass die Frage nach dem Mechanismus der Verteilung der Migrantinnen und Migranten auf die EU-Mitgliedstaaten in Polen derzeit kein Hauptthema ist. Auch viele der Ukrainerinnen und Ukrainer selbst wären vielleicht nicht unbedingt daran interessiert, über das benachbarte Polen hinaus weiter in die EU fahren. Erstens hoffen sie, dass sich die Lage in ihrem Heimatland bald so weit verbessert, dass sie zurückkehren können. Zweitens fühlen sie sich aus den oben genannten Gründen in Polen wohl.
Viele Ukrainerinnen und Ukrainer, die wiederum länger bleiben wollen, haben in Polen eine Zukunft. Der polnische Arbeitsmarkt ist in der Lage, innerhalb der kommenden Monate etwa 700.000 Arbeitskräfte zu integrieren. Die Herausforderung besteht hier vielmehr darin, dass hauptsächlich Frauen mit Kindern kommen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, Kindergarten- und Schulplätze zur Verfügung zu stellen, damit Mütter arbeiten können.
Finanzhilfe erwartet
Von der Europäischen Union wird also vor allem finanzielle Hilfe gebraucht, um mittel- und langfristig Wohnungen statt Sammelunterkünfte und Zimmer in Gastfamilien anzubieten oder das Gesundheitssystem aufzustocken. Hilfreich wäre auch eine Verteilung derjenigen, die längere Behandlungen brauchen, sodass sich die polnischen Krankenhäuser auf die Notaufnahmen konzentrieren können. Es werden schnell Fördermittel für Sprachassistenten und zusätzliche Kurse in den Schulen gebraucht. Die letzten EU-Entscheidungen zeigen, dass die europäische Solidarität diese Prüfung gut bestehen kann. Die polnische Offenheit kann man schon heute mit "sehr gut" benoten. (Agnieszka Łada-Konefał, 10.3.2022)
Agnieszka Łada-Konefał ist stellvertretende Direktorin des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt.
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