Polen
Wohnungs- und Schulmangel bedroht polnische Hilfsbereitschaft
Viele ukrainischen Geflüchtete hoffen ohnehin, bald in ihr altes Leben zurückzukehren. Derweil können Kinder im Unterricht den Krieg für ein paar Minuten vergessen
Reportage
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Olivia Kortas aus Warschau
28. März 2022, 14:00
Der Alarm heult auf und unterbricht den Unterricht. Eine Gruppe Jugendlicher drängt zur Tür. "Sollen wir in den Keller?", fragt eine verunsichert. "Das ist nur der Feueralarm!", beruhigt ihre Lehrerin Maryana Druchek. Die meisten hier sind aus Städten wie Charkiw und Kiew geflohen. Die Sirene, die zur Probe ertönt, weckt Erinnerungen an den Luftalarm und an die Stunden in Bunkern und Kellern.
Jetzt sind die Jugendlichen in Sicherheit, in einer Warschauer Schule. Es ist ihnen gelungen, einen der wenigen Plätze in einer "Vorbereitungsklasse" für Geflüchtete zu bekommen. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs sind mehr als zwei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer nach Polen geflohen. Allein in Warschau leben laut Stadtverwaltung 300.000 Geflüchtete. Ein Drittel davon ist im Schul- oder Kindergartenalter. Warschau ist in nur vier Wochen um 17 Prozent gewachsen.
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Wohnungsmangel
Von Anfang an warnen Kommentatorinnen und Politiker, dass in Polen bald die Stimmung kippen wird. Aber die Gastfreundschaft hält an. Die Mehrheit der Geflüchteten ist bei ukrainischen Bekannten untergekommen oder bei Polinnen, die kurzum Zimmer oder Wohnungen freiräumten. Feldbetten, die die Regierung in Turnhallen und Zelten aufstellen ließ, bleiben vielfach leer. Aber Geflüchtete und Gastgeber werden langfristig nicht auf engstem Raum zusammenleben wollen.
Ob der großen Hilfsbereitschaft der Bevölkerung bleiben viele Notlager in Polen oftmals sogar leer. Es braucht aber mehr langfristige Lösungen.
Foto: APA/AFP/ARMEND NIMANI
"Wir haben einfach nicht die Mittel, um so viele Menschen aufzunehmen", sagt Rafał Trzaskowski, Bürgermeister von Warschau. Er weiß, dass ihm die Warschauer Zeit gekauft haben, denn an Wohnungen fehlt es schon länger. Derzeit baut die Stadt leerstehende Bürogebäude in Unterkünfte für Geflüchtete um. Auf lange Sicht wird auch das nicht reichen. "Wir brauchen ein internationales System, wir müssen die Verantwortung teilen", sagt Trzaskowski. Das forderte am Sonntag auch Polens Innenminister Mariusz Kaminsk in einem dringlichen Hilfsappell an die EU-Kommission, den er mit seiner deutschen Amtskollegin Nancy Faeser verfasste.
Abbau bürokratischer Hürden
Regierungspolitiker loben indes die Hilfsbereitschaft der Polen und betonen, wie sehr sich das Land mit der Ukraine solidarisiert. "Wir haben noch keine Hilfe von der EU erhalten, aber wir sind eine starke, stolze Nation, die ihre Staatsfinanzen konsolidiert hat", sagte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki kürzlich. Einige im Regierungslager kritisieren Brüssel nun dafür, aufgrund der Rechtsstaatsfrage Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zurückzuhalten – gerade jetzt, da das Land so tief in die Taschen greifen muss.
Die Regierung baut derweil bürokratische Hürden für Geflüchtete ab. Sogar Regierungskritiker loben ein neues Gesetz, das ihnen den Start in Polen erleichtert, um etwa einen Pesel zu beantragen. Das ist jene Personenkennzahl, die in Polen den Zugang zu Sozialleistungen und zum Gesundheitssystem gewährt. Geflüchtete mit Pesel erhalten pro Kind 500 Zloty (etwa 110 Euro) monatlich, genauso viel wie polnische Familien. Und auch ohne Pesel können ukrainische Geflüchtete Wohnungen mieten oder einen Job annehmen.
Zahlreiche Einzelinitiativen ermöglichen derzeit die Integration. Andrzej Wyrozembski, Direktor an einer Warschauer Schule, organisierte etwa auf eigene Faust zwei Vorbereitungsklassen, in denen insgesamt 50 ukrainische Jugendliche Polnisch lernen, aber auch Physik- und Englischstunden haben. Die Wartelisten sind lang. Täglich kommen Mütter vorbei, die auf einen Platz für ihre Kinder hoffen.
Ablenkung vom Krieg
Trotzdem rechnen die meisten damit, bald in ihr altes Leben zurückzukehren. Das ukrainische Bildungsministerium habe etwa die Abschlussprüfungen von Juni auf August verschoben, sagt Dorota Obidniak von der polnischen Lehrergewerkschaft ZPN. "Es suggeriert, dass bald alles vorbei sein wird, wodurch auch die Entscheidung aufgeschoben wird, ob ukrainische Kinder in polnische Klassen integriert werden sollen, oder nicht." Viele nehmen online an ukrainischem Unterricht teil.
Ob es nun eine Zwischenlösung für ein paar Monate ist, oder ein neuer Anfang in Polen: Der Unterricht in polnischen Schulen hilft den Jugendlichen, weniger an den Krieg zu denken. "Einer der Schüler saß an den ersten zwei Tagen einfach nur da, sagte nichts, wirkte wütend und hatte Tränen in den Augen", erzählt Lehrerin Maryana Druchek, die vor drei Wochen selbst vor dem Krieg geflohen ist. Als sie ihn zur Seite nahm, erzählte er, dass sein Vater in Italien arbeitete und in die Ukraine zurückkehrte, um zu kämpfen. "Es vergingen ein paar Tage und er fing an, zu sprechen", sagt Druchek, "Jetzt nimmt er aktiv am Unterricht teil wie alle anderen." (Olivia Kortas aus Warschau, 28.3.2022)