Die Offensive der russischen Streitkräfte verändert nicht nur die Kriegführung. Westliche Staaten kündigen Lieferungen an, die lange als undenkbar galten.
Die Schlacht um den Donbass verändert die russische Kriegführung in der Ukraine, und sie beginnt, die Zusammensetzung der westlichen Waffenlieferungen zu beeinflussen. Im weitgehend freien Gelände der Ostukraine können die russischen Streitkräfte ihre Militärdoktrin mit starkem Artilleriefeuer und Vorstößen größerer Verbände besser umsetzen als im dichter besiedelten Norden rund um Kiew, weshalb erste westliche Staaten angekündigt haben, die ukrainischen Verteidiger mit Waffen zu unterstützen, die bislang tabu waren: Haubitzen, Luftabwehrsystemen und Kampfdrohnen, gepanzerten Fahrzeugen, Hubschraubern und Panzern. Schweren Waffen also, bei denen in den ersten Wochen des Kriegs die Sorge bestand, dass sie Russland provozieren und so zu einer Eskalation des Konflikts führen könnten.
Lorenz Hemicker
Redakteur in der Politik
Majid Sattar
Politischer Korrespondent für Nordamerika mit Sitz in Washington.
Die bedeutsamsten Vorbereitungen haben bislang die Vereinigten Staaten gemacht. Joe Biden wollte sich am Mittwoch mit der militärischen Führung im Weißen Haus treffen, um Details zu besprechen. Im Kabinettssaal werden Verteidigungsminister Lloyd Austin und Mark Milley, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, sowie weitere ranghohe Militärs sein. Am Dienstag hatte es geheißen, der amerikanische Präsident wolle der Ukraine ein weiteres Paket für militärische Hilfe in Höhe von wiederum etwa 800 Millionen Dollar zur Verfügung stellen.
Schon in der vergangenen Woche war amerikanische Militärhilfe in dieser Höhe auf den Weg gebracht worden. Regierungsvertreter sagten am Dienstag, die Militärhilfe könne binnen 36 Stunden bewilligt werden. Amerikanische Kampfpanzer sollen nicht dabei sein. Welche Rüstungsgüter Washington im Einzelnen zur Verfügung stellen werde, wolle Biden in den kommenden Tagen mitteilen, hieß es weiter. Schon in dem Hilfspaket, das in der vergangenen Woche verkündet worden war, waren 155-Millimeter-Feldhaubitzen mit 40.000 Artilleriegeschossen enthalten. Pentagon-Sprecher John Kirby teilte mit, dass Amerikaner Angehörige der ukrainischen Streitkräfte außerhalb der Ukraine an den modernen Waffensystemen schulten.
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Auch Großbritannien teilte mit, Artilleriesysteme unbekannter Zahl zur Verfügung zu stellen. Die zweite Schlacht seit Kriegsausbruch am 24. Februar werde zu „einem Artilleriekonflikt“, sagte der britische Premierminister Boris Johnson vor Abgeordneten in London. Die Ukraine werde zusätzliche Artillerie als Hilfe benötigen. „Das ist, was wir ihnen geben werden, zusätzlich zu vielen anderen Formen der Unterstützung.“ Ähnliche Ankündigungen wie aus Großbritannien gab es aus Kanada und den Niederlanden. Der Umfang der Lieferungen dürfte indes nicht an die der Amerikaner heranreichen.
Bundeswehr stellt keine schweren Waffen bereit
Die Tschechische Republik liefert Dutzende Schützenpanzer des Typs BMP-1 aus NVA-Beständen sowie T-72-Kampfpanzer aus der Zeit des Kalten Kriegs, die in Lizenz produziert wurden. Die Slowakei hat bereits eine nicht näher genannte Zahl von Luftabwehrraketensystemen des Typs S-300 geliefert, ebenfalls aus früheren Beständen des Warschauer Pakts. Polen soll bereit sein, sowjetische Raketenwerfer und Artilleriesysteme zu liefern. Zur Debatte steht zudem offenbar die Lieferung von hundert T-72-Kampfpanzern, zu der Warschau aber schweigt. Alte sowjetische Systeme gelten als besonders geeignet für die ukrainischen Streitkräfte, weil sie damit vertraut sind und sie unverzüglich einsetzen können.
Schwere Waffen aus Beständen der Bundeswehr werden aktuell bei der Schlacht um den Donbass nicht zum Einsatz kommen. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums sagte am Mittwoch in Berlin, die Hauptwaffensysteme der deutschen Streitkräfte würden weiterhin für die Verteidigung des Landes und des NATO-Bündnisgebiets benötigt. Ferner vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Systeme der Bundeswehr für die ukrainischen Truppen weder schnell einsetzbar noch handhabbar sind. Die ukrainische Seite bestreitet das. Hinzu kämen Probleme bei der logistischen Versorgung und Instandhaltung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat am Dienstagabend nur in Aussicht gestellt, dass Deutschland „hilfreich“ sein werde, wenn NATO-Partner in Osteuropa sich Ersatz für Waffen wünschten, die sie aus ihren alten Beständen an die Ukraine liefern wollten.
Alle schweren Waffen, die an die Ukraine geliefert werden, sollen den russischen Angriff im Osten abwehren helfen. Vergangene Woche hatte der amerikanische Präsident gesagt, dass schon die bisherigen Lieferungen einen Beitrag dazu geleistet hätten, dass Wladimir Putin mit seinen ursprünglichen Kriegszielen gescheitert sei. Dabei hatte es sich um Zehntausende Panzerfäuste und schultergestützte Flugabwehrraketen, Schusswaffen, Handgranaten sowie große Mengen an Munition und Treibstoff gehandelt. Jetzt dürfe man nicht ruhen, sagte Biden.
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Die amerikanische Regierung ignoriert inzwischen Warnungen und Drohungen aus Moskau. In der vergangenen Woche hatte die russische Führung nach Auskunft amerikanischer Regierungsvertreter von Washington verlangt, Kiew nicht mehr mit modernen Waffensystemen auszustatten. Sie drohte mit „unvorhersehbaren Folgen“. Die Drohung wurde in der amerikanischen Regierung als Eingeständnis aufgefasst, dass die Waffen die militärischen Fähigkeiten Russlands erheblich einschränken. Aus dem Berliner Regierungsviertel hieß es am Mittwoch, von entsprechenden Schreiben an die Bundesregierung sei nichts bekannt.
Mit der Kursänderung reagiert Biden nicht nur auf Appelle des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Auch aus dem Kongress kommen Forderungen, sich stärker zu engagieren. In der US-Regierung wird hervorgehoben, dass es wichtig sei, das Material so schnell wie möglich in die Ukraine zu bringen, da sich der Krieg nun in einer entscheidenden Phase befinde. Besonders wichtig sei es, Artillerie und Langstreckensysteme ins Land zu bekommen. Die russische Offensive im Donbass unterscheide sich vom gescheiterten Vormarsch auf Kiew dadurch, dass die russische Grenze näher sei und daher die Nachschubwege kürzer seien.