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Kurdistan: Warum verurteilen wir den Krieg Russlands, aber nicht den der Türkei?

#1 von anne ( Gast ) , 01.05.2022 10:34

Kurdistan: Warum verurteilen wir den Krieg Russlands, aber nicht den der Türkei?
Den russischen Angriffskrieg sanktionieren wir. Doch bombardiert unser Nato-Bündnispartner Türkei Kurd:innen, schauen wir lieber weg. Über westliche Doppelmoral
Ein Gastbeitrag von Rosa Burç 25. April 2022, 14:37 Uhr 514 Kommentare
Kurdistan: Es fliegen wieder türkische Kampfjets und Drohnen über Kurdistan. Doch die Empörung vonseiten der Weltgemeinschaft bleibt aus.
Es fliegen wieder türkische Kampfjets und Drohnen über Kurdistan. Doch die Empörung vonseiten der Weltgemeinschaft bleibt aus. © Elif Küçük für ze.tt/​AFP/​Getty Images

Gastautorin Rosa Burç ist politische Soziologin am Centre on Social Movement Studies in Florenz, wo sie zu politischen Vorstellungswelten von Staatenlosen forscht. Für Forschungszwecke hielt sie sich in verschiedenen Teilen der kurdischen Region auf. Sie ist Autorin zahlreicher Artikel in Fachzeitschriften, Sammelbänden und internationalen Medien wie "The New York Times".

Es sind Kampfjets und Haubitzen im Einsatz, es wird bombardiert, Zivilist:innen werden verletzt und getötet. Im Schatten des Krieges Russlands gegen die Ukraine fliegen wieder türkische Kampfjets und Drohnen über Kurdistan. Nach tagelangen Luft- und Bodenangriffen begann die türkische Armee in der Nacht zum Ostermontag die Großoffensive Claw-Lock im Süden und Westen Kurdistans. Empörung vonseiten der Weltgemeinschaft? Keine. Die Angriffe seien "Antiterrorkampf" heißt es offiziell, der AKP-Sprecher Ömer Çelik zitiert in einer Presseerklärung Artikel 51 der UN-Charta, worin das "Recht zur Selbstverteidigung" geschrieben steht. Die nationale und territoriale Integrität der Türkei sei gefährdet, heißt es.

Dass es keine Berichte über einen tatsächlichen Angriff oder eine militärische Provokation gegen die Türkei gibt, wird verschwiegen. In den Medien gibt es hier und da eine kurze Meldung am Rande, es ist die Rede von "Operation", von "PKK-Stellungen". Stillschweigend wird wieder einmal hingenommen, dass die Türkei – ein Nato-Mitglied – Kurd:innen angreift und damit Völkerrecht verletzt.

Während Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu Recht schnell verurteilt und sanktioniert wurde, wird die türkische Aggression gegen Kurd:innen seit Jahrzehnten von denselben "Hütern westlicher Werte" toleriert. Die Bundesregierung trifft sich regelmäßig mit türkischen Regierungsvertreter:innen und betont die Wichtigkeit der deutsch-türkischen Partnerschaft. Die Türkei sei jetzt, wo Russland einen Krieg "gegen uns" führt, ein wichtiger Vermittler.
In der Ukraine sterben Ukrainer:innen, in Kurdistan "PKK-Terrorist:innen"

Weder werden Sanktionen gegen den Bündnispartner diskutiert noch können Kurd:innen auf sichere Fluchtwege und unkomplizierten Schutz hoffen, wenn sie aus belagerten Städten oder vor türkischen Bomben fliehen. Während die Grenzen für ukrainische Geflüchtete – zu Recht – geöffnet sind, stecken fliehende Kurd:innen entweder an den Grenzen von Belarus und Polen fest, ertrinken im Mittelmeer oder sie bekommen in Deutschland kein Asyl und werden wieder abgeschoben. Eine Doppelmoral, die nur schwer auszuhalten ist.

Russische Kriegsverbrechen im Zug des völkerrechtswidrigen Einmarschs in die Ukraine, die Massaker, Massengräber, Bombardierungen ganzer Städte haben einen moralischen Schock verursacht, den Europa so für einen Krieg lange nicht mehr empfunden hat. Doch statt eine Debatte darüber zu führen, wie notwendig jetzt eine Politik ist, die kompromisslos Menschenrechte priorisiert, statt Autokratien zu beschwichtigen, wird erst mal hochgerüstet. Dass eine bedingungslose Militarisierung zur moralischen Verpflichtung erklärt wird, erfreut sicherlich Waffenlobbyist:innen auf der ganzen Welt, vor allem aber Kriegsführer:innen wie die in der Türkei, die diesen Diskurs dann für ihre eigenen Kriege nutzen. Unterstützt mit regelmäßigen Waffenlieferungen und neuer Technik aus Deutschland tut die Türkei das in Kurdistan, was Russland in der Ukraine macht: eine gesamte Bevölkerung – kontinuierlich und über verschiedene Staatsgrenzen hinweg – zu bekriegen.

Wenn es gleichzeitig "russische Invasion in der Ukraine" und "türkische Präsenz in Syrien" heißt, wenn dieselben Gewaltpraktiken in einem Fall als Krieg bezeichnet werden und im anderen Fall als Militäroperation, wenn Kriegsopfer als Ukrainer:innen benannt werden, bei Angriffen auf Kurd:innen aber von Terrorist:innen und PKK-Stellungen gesprochen wird, dann sind es diese Gleichzeitigkeiten, die uns vermitteln, dass völkerrechtswidrige Kriege legitim sind, solange sie von unseren Nato-Partnern geführt werden.
Türkische Bomben treffen nicht zufällig Zivilist:innen

Die türkische Regierung kann seit jeher ungestört Drohnen und Kampfflugzeuge über alle Teile Kurdistans fliegen und diese bombardieren, wie aktuell in den Regionen Metîna, Zap, Avaşîn und der westkurdischen Stadt Kobanê. Bei diesen Angriffen geht es nicht – wie es immer heißt – um Stellungen kurdischer Guerillakämpfer:innen, sondern auch um zivile Siedlungsgebiete. Das zeigen die zahlreichen Beispiele völkerrechtswidriger Einsätze der türkischen Luftwaffe in den vergangenen Jahren. Ob im August 2011 im südkurdischen Kortek, vier Monate später in Roboskî an der türkisch-irakischen Grenze oder 2015 in Zergelê in Südkurdistan. Jedes Mal trafen türkische Bomben nicht zufällig Zivilist:innen.

Diese aggressive Außenpolitik der Türkei gegen benachbarte Kurd:innen wurde bereits im Syrienkrieg von den westlichen Bündnispartnern entweder toleriert oder direkt unterstützt. Als die kurdischen Kräfte den "Islamischen Staat" territorial besiegt hatten und die kurdisch-feministische Bewegung emanzipatorische und demokratische Errungenschaften verzeichnete, startete die türkische Armee – die zweitgrößte Nato-Armee – Großoffensiven in Zusammenarbeit mit islamistischen Söldnertruppen. So wurde die multikulturelle und vom Syrienkrieg bis dahin weitestgehend verschonte Stadt Afrin 2018 zum Schauplatz eines brutalen Kriegs mit Luft- und Bodenangriffen, Enteignungen, Vertreibungen und Besatzung. Seitdem wird die Stadt völkerrechtswidrig und ganz im kolonialen Stil aus Ankara verwaltet.

Kriegsverbrechen wie diese oder wie die Hinrichtung der syrisch-kurdischen Lokalpolitikerin Hevrîn Xelef bei einem weiteren Angriffskrieg der Türkei 2019 hätten im besten Fall verhindert, mindestens aber verurteilt und sanktioniert werden müssen. Dass es sich dabei auf europäischer Seite nicht um ein einfaches Versäumnis handelt, sondern politisches Kalkül dahintersteckt, ist spätestens seit dem sogenannten EU-Türkei-Flüchtlingsdeal klar. Damit die Türkei weiterhin Geflüchtete von Europa fernhält, wird Kritik an der türkischen Regierung – wenn überhaupt – sporadisch und nur sehr vorsichtig geäußert. Vor allem aber werden regelmäßig Zugeständnisse gemacht. Diese reichen von großzügigen Waffenlieferungen an die Türkei bis hin zu Verboten von kurdischen Vereinen in Deutschland und Abschiebungen von Kurd:innen in die Türkei, wo sie mit langen Haftstrafen rechnen müssen.
Wo bleibt die "feministische Außenpolitik" der Bundesregierung?

Spätestens jetzt, nachdem der Krieg gegen die Ukraine die Frage nach Moral und Verpflichtung wieder aufgeworfen hat, ist die Zeit gekommen, Kriege als solche zu benennen – egal ob diese von "uns und unseren Partnern" oder "den anderen" geführt werden. Eine "feministische Außenpolitik", die sich die neue Bundesregierung auf die Fahne schreibt, hätte schon längst die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei auf die Kurd:innen verurteilt, Sanktionen diskutiert, sich für die Freilassung von politischen Gefangenen in türkischen Gefängnissen eingesetzt, sich mit der prodemokratischen Oppositionspartei HDP getroffen, gesellschaftspolitische Bündnisse mit der feministischen Bewegung in der Türkei und der Frauenrevolution in Kurdistan initiiert, diplomatische Beziehungen zu kurdischen Vertreter:innen in der Region aufgebaut, eine politische Lösung in der sogenannten kurdischen Frage vermittelt und die Kriminalisierung von Kurd:innen und ihren Vereinen und Verlagshäusern in Deutschland gestoppt.

Und vor allem: allen Geflüchteten denselben Schutz gewährleistet, wie ihn derzeit Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine bekommen. Solange dies nicht passiert, verliert der moralische Anspruch der Bundesregierung auch in der Beurteilung des russischen Kriegs gegen die Ukraine jede Glaubwürdigkeit.

anne

   

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Danke für Ihr Reinschauen und herzliche Grüße...
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