Unser Kolumnist Witalij Sytsch leitet das ukrainische Magazin "NV". Sein Sommerhaus wurde geplündert, sein Nachbar getötet. Trotzdem sagt er: Wir hatten Glück.
27. April 2022, 6:04 Uhr 44 Kommentare
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Gestern fuhr mich ein Fahrer aus Mariupol in Lwiw mit dem Taxi. Sein Name war Serhy, so stand es in der Taxi-App. Ihm und seiner Familie war es gelungen, Mariupol zu verlassen, bevor die Russen die Stadt einkesseln konnten. Er hatte einen Kindersitz auf der Rückbank seines Autos und hatte nach seiner Flucht bei Bolt Taxi angefangen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Stadt Mariupol und ihre 400.000 Einwohner sind nicht nur weltweit in den Schlagzeilen. Sie ist auch in unseren Gedanken. Wenn es eine Hölle auf Erden gibt, dann befindet sie sich in Mariupol.
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Mail aus der Ukraine
"NV" ist ein unabhängiges ukrainisches Medienhaus mit Sitz in Kiew. Die Redaktion publiziert ein Wochenmagazin und betreibt einen landesweiten Radiosender sowie die Nachrichtenwebsite nv.ua. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zwang die Redaktion, Kiew zu verlassen, das gedruckte Magazin musste eingestellt werden, einige Redakteure wurden zum Militär eingezogen oder haben sich der Territorialverteidigung angeschlossen. Die Website und der Radiosender, der noch immer fast landesweit sendet, werden jetzt aus einem Einkaufszentrum in Lwiw betrieben. " nv.ua " ist zu einer der wichtigsten Nachrichtenquellen in der Ukraine geworden. In dieser Kolumne erzählen der Chefredakteur Witalij Sytsch und einige seiner Mitarbeiter, wie sie zwischen Sirenengeheul und Ausgangssperre Journalismus machen. "NV" und ZEIT ONLINE kooperieren.
Natürlich wollte ich mit ihm sprechen. Er sagte, 95 Prozent der Wohnungen in der Stadt seien zerstört, einschließlich seiner. Etwa 100 Menschen, die er persönlich kannte, seien getötet worden. Seine Informationen habe er von Überlebenden, von innerhalb und außerhalb der Stadt. Was mich überraschte: Serhy war nicht emotional. Vielleicht war er abgestumpft. Vielleicht wollte er seine Last einfach nicht bei mir abladen.
Was mich am meisten erstaunte, war, dass er zurückkehren wollte, um Mariupol wieder aufzubauen – zumindest, "wenn die Stadt in der Ukraine bleibt", wie er hinzufügte. Ich kenne viele Menschen, die Hemmungen haben, in ihre Heimatstädte zurückzukehren, die weit weniger zerstört wurden als Mariupol. Mir standen die Tränen in den Augen. Ich bezahlte den doppelten Fahrpreis. Das war alles, was ich tun konnte.