Impfnebenwirkungen: Viel behauptet, nichts belegt
Der Arzt Harald Matthes sagt, schwere Nebenwirkungen nach der Corona-Impfung seien wesentlich häufiger als bekannt. Recherchen zeigen: Seine Zahlen sind unhaltbar.
Eine Analyse von Ingo Arzt und Florian Schumann
6. Mai 2022, 15:26 Uhr 481 Kommentare
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Impfnebenwirkungen: Mögliche Impfnebenwirkungen werden in Deutschland vom Paul-Ehrlich-Institut ausgewertet.
Mögliche Impfnebenwirkungen werden in Deutschland vom Paul-Ehrlich-Institut ausgewertet. © Marko Geber/Getty Images
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Es sind Zahlen, die verunsichern: 40 Mal so viele schwere Nebenwirkungen wie bisher angenommen, hat der Mediziner Harald Matthes nach Corona-Impfungen in einer Studie angeblich gefunden. In einem Beitrag der MDR-Sendung Umschau von Ende April heißt es, 0,8 Prozent der Geimpften hätten schwere Nebenwirkungen. Diese Zahl bekräftigte Matthes wenig später in einem Interview ebenfalls im MDR-Fernsehen. Das hätten bisher unveröffentlichte Daten seiner Studie ergeben.
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Matthes ist Ärztlicher Leiter des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe, einer Klinik mit Schwerpunkt auf Anthroposophischer Medizin im Berliner Südwesten. Zusätzlich hat er eine Stiftungsprofessur für Integrative und Anthroposophische Medizin an der Berliner Charité inne, die von der Software AG-Stiftung finanziert wird. Im Rahmen dieser Professur leitet Matthes eine Studie mit dem Namen Impfsurv, deren Zwischenergebnisse er im Fernsehen referiert.
Aber können Matthes' Behauptungen stimmen? Ist wirklich jeder 125. Corona-Geimpfte von schweren, möglicherweise gar bleibenden Nebenwirkungen betroffen und geht die Überwachung derart schief? Schließlich schreibt das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) in seinem aktuellen Sicherheitsbericht, dass die Melderate von Verdachtsfällen auf schwerwiegende Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen bei lediglich 0,02 Prozent liegt.
Die Charité distanziert sich von der Auswertung
Recherchen von ZEIT ONLINE zeigen, dass die in den TV-Beiträgen genannten Zahlen so nicht haltbar sind. Das liegt an methodischen Schwächen der Studie, die weder Matthes noch die verantwortlichen TV-Redaktionen offenlegen. Auch in dem MDR-Beitrag selbst finden sich Ungereimtheiten und teilweise schlicht Fehler.
Die Charité distanziert sich über einen Sprecher klar von Matthes' Auswertung: "Bei dieser Untersuchung handelt es sich um eine offene Internetumfrage, im engeren Sinne also nicht um eine wissenschaftliche Studie. Diese Datenbasis ist nicht geeignet, um konkrete Schlussfolgerungen über Häufigkeiten in der Gesamtbevölkerung zu ziehen und verallgemeinernd zu interpretieren."
Grob gibt es bei Matthes' Aussagen drei Probleme: Erstens wurden seine Ergebnisse bisher nicht veröffentlicht, sodass nicht nachprüfbar ist, wie er zu seinen Schätzungen kommt. Zweitens lässt die Methodik der Studie es nicht zu, die Schwere der Komplikationen zu überprüfen – und mit der Impfung ursächlich in Verbindung zu setzen. Und drittens decken sich seine Ergebnisse – auch wenn er das behauptet – nicht mit den Ergebnissen internationaler und nach besten wissenschaftlichen Standards durchgeführten Studien oder den Zahlen aus Ländern mit besseren Überwachungssystemen wie etwa Schweden.
Im Telefonat mit ZEIT ONLINE räumt Matthes Limitationen seiner Studie ein. Ungeachtet der methodischen Mängel bleibt er jedoch bei der Behauptung, dass es in Deutschland eine deutliche Untererfassung an Impfnebenwirkungen gebe.
Die Impfsurv-Studie, von der er im Fernsehen berichtet hat, beruht darauf, dass Geimpfte per Onlinefragebogen regelmäßig über ein bis zwei Jahre Fragen zu ihrer Gesundheit und eventuellen Beschwerden beantworten. Dass an der Studie prinzipiell jeder teilnehmen kann, bringt aber Probleme mit sich. Denn es kann dazu führen, dass sich vor allem Menschen melden, die vermuten, an einer Impfkomplikation zu leiden. Die Folge wäre eine deutliche Überschätzung schwerer Nebenwirkungen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen von einem Selektionsbias. Matthes sagt, dem habe man versucht vorzubeugen, indem man Menschen von der aktuellen Auswertung ausgeschlossen habe, die direkt bei Registrierung schon Impfschäden angaben. Ob das ausreicht, ist aber fraglich.
Und es gibt noch weitere methodische Probleme – und zwar bei der Erfassung der Nebenwirkungen. Matthes sagt, die Zwischenergebnisse beruhen auf den Angaben von knapp 10.000 Geimpften. Demnach müssten bei etwa 80 Personen schwerwiegende Nebenwirkungen aufgetreten sein.