Slavoj Žižek
Angst vor einem Krieg ohne Ende
Um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern – um irgendeine Art Abschreckung zu erreichen –, müssen auch wir klare Linien ziehen
Kommentar der anderen
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Slavoj Žižek
20. Mai 2022, 06:00
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Der Philosoph Slavoj Žižek schreibt in seinem Gastkommentar über die Zerrissenheit des Westens im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine.
Gegen Ende April 2022, gerade einmal zwei Monate nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine, wurde sich die Welt einer tiefgreifenden Veränderung bewusst, die dieser Krieg bringt. Der Traum einer raschen Beilegung ist dahin. Der Krieg ist bereits seltsam "normalisiert" – man hat ihn als Prozess akzeptiert, der sich auf unbegrenzte Zeit fortsetzen wird. Die Furcht vor einer plötzlichen dramatischen Eskalation wird unser tägliches Leben prägen. Wie es scheint, raten die Behörden in Schweden und anderswo ihren Bevölkerungen bereits, sich zu bevorraten, um die Bedingungen eines Krieges zu bewältigen.
Mitten im Zermürbungskrieg in der Ukraine: ein Soldat vor einem zerstörten Haus.
Foto: APA/AFP/DIMITAR DILKOFF
Diese Veränderung der Erwartungen spiegelt sich auf beiden Seiten des Konflikts wider. In Russland ist verstärkt von einem globalen Konflikt die Rede. Die Chefin von "RT", Margarita Simonyan, hat es so formuliert: "Entweder verlieren wir in der Ukraine, oder ein dritter Weltkrieg beginnt. Ich persönlich halte das Szenario eines dritten Weltkriegs für realistischer." Gestützt wird diese Paranoia durch wirre Verschwörungstheorien über ein gemeinsames liberal-totalitäres nazijüdisches Komplott zur Vernichtung Russlands.
Auf der anderen Seite nimmt derzeit insbesondere in Deutschland eine neue Version des Pazifismus Gestalt an. Wenn wir uns jenseits aller hehren Reden auf das konzentrieren, was Deutschland tatsächlich tut, ist die Botschaft klar: Deutschland hat Angst, eine Linie zu überschreiten, ab der Russland wirklich in Rage gerät. Doch nur Wladimir Putin entscheidet, wo diese Linie an einem beliebigen Tag liegt. Sich die Furcht westlicher Pazifisten zunutze zu machen ist ein wichtiger Teil seiner Strategie.
"Geringfügiger Einmarsch"?
Offensichtlich will jeder den Ausbruch eines neuen Weltkriegs verhindern. Doch gibt es Zeiten, wo es den Aggressor nur ermutigt, wenn man zu vorsichtig scheint. Wer Schwächere drangsaliert, zählt naturgemäß immer darauf, dass die Opfer sich nicht wehren. Um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern – um irgendeine Art Abschreckung zu erreichen –, müssen auch wir klare Linien ziehen.
Bisher hat der Westen das Gegenteil getan. Als Putin noch bei den Vorbereitungen seiner "Sonderoperation" in der Ukraine war, erklärte US-Präsident Joe Biden, seine Regierung müsse abwarten, ob der Kreml einen "geringfügigen Einmarsch" oder eine vollständige Besetzung verfolge. Das implizierte natürlich, dass eine "geringfügige" Aggressionshandlung hinnehmbar sei.
"Was eine gute Nachricht hätte sein sollen, hat sich zu einem Quell der Scham entwickelt."
Der jüngste Perspektivenwechsel zeigt eine tiefgreifende, düstere Wahrheit über die westliche Haltung auf. Während wir zuvor befürchteten, dass die Ukraine rasch unterworfen werden würde, war unsere wahre Furcht genau das Gegenteil: dass die Invasion zu einem Krieg ohne absehbares Ende führen würde. Eine sofortige Niederlage der Ukraine wäre sehr viel bequemer gewesen; sie hätte es uns erlaubt, unsere Entrüstung zu äußern, den Verlust zu beklagen und dann zum Business as usual zurückzukehren. Was eine gute Nachricht hätte sein sollen – dass ein kleineres Land dem brutalen Angriff einer Großmacht unerwartet und heroisch standhält –, hat sich zu einem Quell der Scham entwickelt: einem Problem, von dem wir nicht so recht wissen, wie wir damit umgehen sollen.
Heroischen Militarismus
Europas pazifistische Linke warnt vor einer Rückkehr zum Geist des heroischen Militarismus, der frühere Generationen verzehrte. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas suggeriert sogar, dass die Ukraine der moralischen Erpressung Europas schuldig sei. Es ist etwas zutiefst Melancholisches an seiner Position. Wie Habermas sehr gut weiß, war Nachkriegseuropa nur aus der Sicherheit des nuklearen Schutzschirms der USA heraus in der Lage, dem Militarismus abzuschwören. Doch die Rückkehr des Krieges in Europa legt nahe, dass diese Zeit vorbei sein könnte und ein bedingungsloser Pazifismus immer tiefere moralische Kompromisse erfordern würde. Unglücklicherweise wird es wieder "heroischer" Akte bedürfen, und zwar nicht nur, um sich der Aggression zu erwehren und vor dieser abzuschrecken, sondern auch, um Probleme wie ökologische Katastrophen und Hunger zu bewältigen.
Europas Pazifisten sind besorgt – und gegen Waffenlieferungen.
Foto: IMAGO/NurPhoto
Die westlichen Medien strotzen vor Berichten über die Milliardenbeträge, die in die Ukraine geflossen sind; dabei bekommt Russland noch immer zweistellige Milliardenbeträge für das Gas, das es nach Europa liefert. Europa aber weigert sich, in Betracht zu ziehen, dass es eine außerordentlich kraftvolle Form nichtmilitärischen Drucks ausüben und zugleich viel für den Planeten tun könnte. Darüber hinaus würde dem russischen Gas zu entsagen eine andere Art von Globalisierung ermöglichen: eine dringend benötigte Alternative sowohl zur westlichen liberal-kapitalistischen Variante als auch zur russisch-chinesischen autoritären Sorte.
Russland will nicht nur Europa demontieren. Es präsentiert sich zugleich als Verbündeter der Entwicklungsländer gegen den westlichen Neokolonialismus. Die russische Propaganda nutzt geschickt die bitteren Erinnerungen vieler Entwicklungsländer und Länder mittleren Einkommens an die Misshandlung durch den Westen. War die Bombardierung des Irak nicht schlimmer als die Bombardierung Kiews? Wurde Mossul nicht genauso rücksichtslos plattgemacht wie Mariupol? Freilich: Während er Russland als Agenten der Dekolonialisierung präsentiert, überschüttet der Kreml örtliche Diktatoren in Syrien, der Zentralafrikanischen Republik und anderswo mit militärischer Unterstützung.
"Wenn Europa den neuen ideologischen Krieg gewinnen will, muss es sein Modell der liberal-kapitalistischen Globalisierung ändern."
Die Aktivitäten der Wagner Group – der im Namen autoritärer Regime weltweit eingesetzten Söldnerorganisation des Kreml – bietet einen Ausblick, wie eine Globalisierung russischen Stils aussehen würde. Jewgeni Prigoschin, der hinter der Gruppe stehende Putin-Vertraute, äußerte sich jüngst gegenüber einem westlichen Journalisten wie folgt: "Ihr seid eine sterbende westliche Zivilisation, die Russen, Malier, Zentralafrikaner, Kubaner, Nicaraguaner und viele andere Völker und Länder als Dritte-Welt-Abschaum betrachtet. Ihr seid ein erbärmlicher, vom Aussterben bedrohter Haufen Perverser, und es gibt viele von uns, Milliarden von uns. Und der Sieg wird unser sein!" Wenn die Ukraine stolz erklärt, dass sie Europa verteidigt, antwortet Russland darauf, dass es alle früheren und heutigen Opfer Europas verteidigen werde.
Wir sollten die Wirksamkeit dieser Propaganda nicht unterschätzen. In Serbien zeigen jüngste Meinungsumfragen, dass heute erstmals eine Mehrheit der Wähler einen EU-Beitritt ablehnt. Wenn Europa den neuen ideologischen Krieg gewinnen will, muss es sein Modell der liberal-kapitalistischen Globalisierung ändern. Alles andere als ein radikaler Umbruch wird scheitern und die EU in eine Festung verwandeln, umgeben von Feinden, die entschlossen sind, ihre Mauern zu durchbrechen und sie zu vernichten.
Erhöhtes Korruptionsrisiko
Ich bin mir der Auswirkungen eines Boykotts russischen Gases sehr wohl bewusst. Er zöge etwas nach sich, was ich wiederholt als "Kriegskommunismus" bezeichnet habe. Unsere kompletten Volkswirtschaften müssten neu organisiert werden, wie im Falle eines ausgewachsenen Krieges oder einer Katastrophe ähnlichen Ausmaßes. Dies liegt nicht so fern, wie es den Anschein haben mag. Speiseöl wird von britischen Geschäften kriegsbedingt bereits inoffiziell rationiert. Wenn Europa dem russischen Gas entsagt, wird sein Überleben ähnliche Eingriffe erfordern. Russland setzt auf Europas Unfähigkeit, irgendetwas "Heroisches" zu tun.
Natürlich würden derartige Veränderungen das Korruptionsrisiko erhöhen und dem militärisch-industriellen Komplex eine Chance auf zusätzliche Profite bieten. Doch muss man diese Gefahren gegen das abwägen, was insgesamt auf dem Spiel steht, und das geht weit über den Krieg in der Ukraine hinaus.
Wir sollten freilich der Versuchung widerstehen, den Krieg als authentische Erfahrung zu glorifizieren, die uns aus unserem selbstgefälligen konsumeristischen Hedonismus weckt. Die Alternative besteht nicht einfach im Durchwursteln. Sie besteht vielmehr darin, auf eine Weise mobilzumachen, von der wir noch lange nach Ende dieses Krieges profitieren werden. Angesichts der Gefahren, mit denen wir konfrontiert sind, ist militärische Leidenschaft eine feige Flucht vor der Realität. Doch dasselbe gilt für bequeme, unheroische Lethargie. (Slavoj Žižek, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 20.5.2022)
Slavoj Žižek ist Professor für Philosophie an der European Graduate School, internationaler Direktor des Birkbeck Institute for the Humanities der Universität London und der Verfasser zahlreicher Bücher, darunter zuletzt "Heaven in Disorder" (OR Books, 2021).
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