Krieg in der Ukraine: Europa muss besser aufgestellt werden
Es zeigt sich immer mehr, dass Russland das fragile globale und europäische Gleichgewicht, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand, gewaltsam ändern möchte
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Hannes Swoboda
12. August 2022, 11:00
Im Gastblog erklärt der Europapolitiker Hannes Swoboda, warum es beim Krieg in der Ukraine auch um Europa geht.
Der Krieg in der Ukraine geht in seinen sechsten Monat, und noch immer ist kein Ende abzusehen. Zwar gab es jüngst eine Vereinbarung zwischen Russland und der Ukraine – auf Vermittlung der Uno und der Türkei – über Weizenlieferungen aus der Ukraine. Und das ist in Bezug auf die Nahrungsmittelknappheit und den Hunger in etlichen Regionen der Welt ein wichtiger Schritt. Es ist jedoch schwierig zu erkennen, ob es weitere – informelle und geheime – Gesprächskontakte zwischen den beiden Kriegsparteien gibt.
Bezüglich Russlands gibt es aufgrund des autoritären Systems ohnedies wenige Informationen. Und in der Ukraine unterliegt auch Präsident Selenskyj immer stärker autoritären Versuchen, indem er nicht nur politischen Gegnern, sondern auch engen Vertrauten Verrat und Zusammenarbeit mit dem Feind vorwirft. Und eine Informationsfreiheit existiert auch dort immer weniger – ohne deshalb die Ukraine mit Russland zu vergleichen. Die Unterstützung der Ukraine darf jedenfalls nicht zu einer Amnesie hinsichtlich problematischer Entwicklungen innerhalb der Ukraine führen.
Russlands Ziele gehen weiter
Mit Recht unterstützt die Europäische Union die Ukraine gegen die russische Aggression. Denn es geht auch um Europa selbst. Es zeigt sich immer mehr, dass Russland unter Präsident Putin durch innenpolitische, außenpolitische und militärische Maßnahmen das ohnedies fragile globale und europäische Gleichgewicht, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand, gewaltsam ändern möchte. Demokratische Entwicklungen, die diesem Machtstreben entgegenstehen, werden mit Gewalt bekämpft. In Tschetschenien, in Syrien, in Georgien, in Transnistrien und der Ukraine, aber auch immer mehr in Afrika verbündet sich Putin mit korrupten und gewaltbereiten lokalen Führern zu einer Allianz der Gewalt. Und das passiert parallel zu dem Anziehen der gegen die Demokratie im eigenen Land gerichteten Schrauben. Zusätzlich wird das alles mit einer imperialen und revanchistischen Ideologie untermauert. Deshalb habe ich auch in meinem Beitrag zu dem von Heinz Gärtner herausgegeben Buch "Die Ukraine im Krieg" von einem revanchistischen Krieg durch Russland gesprochen. Aber dieser Krieg hat viele Facetten.
Nicht zu Unrecht bezeichnet Timothy Snyder die russische Invasion als einen Kolonialkrieg. Und wie bei anderen Kolonialkriegen geht es auch hier um die Verbreitung der "überlegenen" Zivilisation. So auch für den bekannten russischen Politikwissenschafter Sergej Karaganow, der der Meinung ist, dass es bei diesem Krieg nicht um die Ukraine, sondern um eine Auseinandersetzung zwischen der immer mehr schwächelnden westlichen Zivilisation und Russland gehe und um dessen Überleben. Und deshalb darf und kann Russland nicht verlieren. "Russland wird seine natürliche Rolle als Zivilisation der Zivilisationen spielen." Die russische Zivilisation wird zwar als überlegen dargestellt, muss aber dennoch mit Gewalt gegen die absterbende westliche Zivilisation durchgesetzt werden.
Aus all diesen Gründen halte ich die tatsächliche und angedachte Nato-Expansion für einen primär vorgeschobenen Grund. Ja, Putin beklagt die Erweiterung der Nato, hat aber keine alternativen Angebote zur Sicherheit an die Länder zwischen der alten Nato und Russland gemacht. Im Gegenteil, der Zusammenbruch der Sowjetunion war für ihn "die größte Katastrophe des 21. Jahrhunderts."
Es ist auch sehr fraglich, ob die Neutralität der Ukraine einen Überfall durch Russland verhindert hätte. Dafür gibt es keine Belege. Alles, was Putin unternommen hat, hat die Bevölkerung der Ukraine jedenfalls weg von der Neutralität und in Richtung Nato gebracht. Und letztendlich hat gerade dieser Krieg Russland noch viel stärker an die Nato herangeführt als je zuvor. Das sollte nicht ausschließen, dass die Neutralität der Ukraine einen Bestandteil einer zukünftigen Lösung des unmittelbaren (!) Konflikts sein kann. Aber erstens ist dann zu fragen, welches Territorium diese neutrale Ukraine umfassen soll. Zweitens ist eine Neutralität der Ukraine ohne Garantie der Nato – in Verbindung mit der EU – angesichts der russischen Haltung nicht denkbar. Man muss sich ja auch fragen, wie stünden die baltischen Länder als ehemaliger Teil Russlands heute da – ohne Mitgliedschaft in der Nato.
Das Neue am neuen Europa
Der größte Irrtum aber wäre zu glauben, der fundamentale Konflikt zwischen Russland und dem westlichen Europa wäre mit einem Ende des Ukraine-Kriegs und der Schaffung einer neutralen Ukraine zu lösen. Da sind die russischen Expertinnen und Experten meist realistischer als viele westlichen Kommentatoren. Schon Monate vor dem Beginn der russischen Annexion habe ich in einem Referat, das in einer jüngsten Publikation des Verteidigungsministeriums (Josef Eberhardsteiner, Die Wissenschaftskommission beim BMLV, Wien 2022) erschienen ist, gemeint, "dass wir nicht mit weniger, sondern mit mehr Konflikten, gerade auch in Europa und unserer unmittelbaren Nachbarschaft rechnen müssen". Und es sind vor allem Russland und China, die "die postnationale und auf kooperative Lösungen ausgerichtete Politik der EU infrage stellen".
Die Europäische Union ist keineswegs perfekt, dennoch bleibt die Union ein Friedensprojekt.
Foto: OLIVIER HOSLET
Die Europäische Union ist keineswegs perfekt, und etliche Länder waren in der Vergangenheit an gewaltsamen und Völkerrecht verletzenden Aktionen wie dem Krieg im Irak beteiligt. Dennoch bleibt die Union ein Friedensprojekt. Und das Neue an diesem Europa ist, dass es versucht, die internen Meinungsverschiedenheiten friedlich zu lösen und auch bei externen Konflikten eine gerechte Lösung und nicht die Eskalation zu suchen. Und das ist schon was, wenn man die Haltung der Großmächte damit vergleicht.
Europa besser aufstellen
Zum Zeitpunkt meines Referats auf der wissenschaftlichen Konferenz des Verteidigungsministeriums im Herbst 2021 hatte ich noch die Hoffnung, dass eine Mischung von Kooperation und Konfrontation zu einer friedlichen Lösung der Konflikte beitragen könne. Aber derzeit überwiegt die Konfrontation, die dem Westen von Russland aufgezwungen wurde. Aber wie das Beispiel der Übereinkunft über die Getreidelieferungen zeigt, gilt es immer wieder Gesprächskanäle zu eröffnen und zu nutzen, um humanitäre Katastrophen abzumildern beziehungsweise zu vermeiden. Das ist sicher gerade im Interesse der Europäerinnen und Europäer, die unter den Folgen des Krieges viel mehr leiden als die Menschen in den USA.
Aber der Krieg muss jetzt auch genützt werden, um Europa neu aufzustellen, vor allem was die wirtschaftliche Versorgung betrifft. Wir müssen einerseits selbstständiger werden, wenn es um wichtige Ressourcen geht, und anderseits – wo das nicht möglich ist – die Herkunft dieser Ressourcen diversifizieren. Das betrifft vor allem die Energieversorgung, aber nicht nur diese. Einseitige Abhängigkeiten sind zu vermeiden.
Zusätzlich muss sich Europa – innerhalb und außerhalb der Nato – auch verteidigungsmäßig besser aufstellen. Dabei ist es allerdings unsinnig und kostspielig, auf bestimmte Zahlen und Prozente vom Sozialprodukt zu schielen. Die europäische Verteidigung ist von Zweigleisigkeit und einer mangelnden Koordination und Kooperation gekennzeichnet. Mehr Geld führt nicht automatisch zu einer effizienteren Verteidigung.
Sowohl die verstärkte wirtschaftliche Unabhängigkeit beziehungsweise Widerstandsfähigkeit (Resilienz) als auch eine effizientere Verteidigungskapazität muss das Ziel haben, engagiert für Friedenslösungen eintreten zu können. Es geht also um die wirtschaftliche und militärische Kapazität, sich und die Nachbarn zu verteidigen. Das muss aber immer als Beitrag zum Frieden gesehen werden. Wenn Putin – oder wer immer ihm nachfolgt – erkennt, dass Europa sich auf diese Weise stärkt, wird er vielleicht zu einer Kurskorrektur bereit sein. Und dann kann die Vision einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur – auch wenn sie heute noch so illusionär erscheint – wieder ernsthaft diskutiert werden. (Hannes Swoboda, 12.8.2022)
Hannes Swoboda ist Vorstandsvorsitzender des Sir-Peter-Ustinov-Instituts zur Erforschung und Bekämpfung von Vorurteilen und Präsident des International Institute for Peace.
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