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Wie ein Kriminalfall" Bis zu 100 Tonnen tote Fische in der Oder befürchtet

#1 von Gertrud Anne ( Gast ) , 17.08.2022 20:27

Wie ein Kriminalfall"
Bis zu 100 Tonnen tote Fische in der Oder befürchtet

Der Grenzfluss gleicht derzeit einem Massengrab für Fische. Giftstoffe oder die hohen Temperaturen könnten hinter dem rätselhaften Fischsterben stehen
Hintergrund
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Marlene Erhart

16. August 2022, 21:38

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Viele tote Fische treiben im Wasser des deutsch-polnischen Grenzflusses Oder im Nationalpark Unteres Odertal nördlich der Stadt Schwedt. Über die Ursachen wird noch gerätselt, Fachleute vermuten toxische Substanzen als Auslöser.
Foto: APA/dpa/Patrick Pleul

Mit Baggern werden derzeit unzählige Fischkadaver aus der Oder geschaufelt. Seit vergangener Woche spiele sich am deutsch-polnischen Grenzfluss eine "fürchterliche Umweltkatastrophe" ab, heißt es seitens des deutschen Umweltministeriums. Das ungeklärte Massensterben hat inzwischen historische Ausmaße angenommen.
Warnsystem versagt

Fachleute vergleichen die aktuelle Situation mit der Sandoz-Katastrophe von 1986. Damals war beim Chemiekonzern Sandoz (heute Novartis) ein Brand in einem Schweizer Lager ausgebrochen. Große Mengen verunreinigten Löschwassers gelangten in den Rhein und verursachten ein großes Fischsterben. Das Unglück war Anlass für internationale Alarm- und Meldepläne von Flussanrainern.

Doch ausgerechnet diese Pläne seien jetzt an der Oder nicht eingehalten worden, bemängelt der deutsche Gewässerexperte Sascha Maier. Er schätzt die Menge der in den vergangenen Tagen verendeten Fische in der Oder auf bis zu 100 Tonnen. Diese Zahl ergibt sich als Hochrechnung auf Grundlage der Meldungen einzelner Sammelaktionen, sagte der Experte der Umweltorganisation Bund.
Schwierige Aufklärungsarbeit

"Dass so viele Fische sterben, deutet auf eine toxische Substanz hin", sagt der Fischökologe Stefan Schmutz im Gespräch mit dem STANDARD. Der Nachweis sei allerdings schwer zu erbringen, erklärt der Experte des Instituts für Hydrobiologie und Gewässermanagement der Wiener Universität für Bodenkultur (Boku).

Das Problem sei die zeitliche Verzögerung zwischen dem Auftreten des Fischsterbens und der Entnahme von Gewässerproben. Bei Einträgen chemischer Schadstoffe gehe eine Schadstoffwelle durch das betroffene Gewässer. "Wenn diese Welle durch ist, kann man im Nachhinein schwer bewerten, um welche Substanz es sich gehandelt hat", erläutert Schmutz.

Je weiter solche Schadstoffe mittransportiert werden, desto stärker verdünnen sie sich auch und können unter die kritischen Werte der Toxizität fallen. "Es gibt eine breite Palette möglicher Szenarien, denn manche Schadstoffe werden auch relativ rasch abgebaut", erklärt Schmutz.
Hohe Belohnung für Aufklärung

Die nunmehr aufgetretene Umweltkatastrophe betrifft die Oder auf etwa 500 Kilometer Länge. Seit vergangenen Freitag hätten Feuerwehrleute rund 80 Tonnen tote Fische geborgen, sagte ein Sprecher der polnischen Berufsfeuerwehr. Polens Regierung muss sich derzeit den Vorwurf gefallen lassen, zu spät auf die verheerende Lage reagiert zu haben.

Doch nun kommt Bewegung in die Sache. "Wir wollen die Schuldigen finden und die Täter des Umweltverbrechens bestrafen, um das es hier wahrscheinlich geht", betonte der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki. Für Hinweise, die zur Ergreifung eines Täters führen, habe die Polizei eine Summe von umgerechnet 210.000 Euro ausgelobt, sagte Vize-Innenminister Maciej Wąsik.
"Zu viel Zeit verstrichen"

Gewässerexperte Maier kritisiert indes die lasche Vorgehensweise sowohl in Polen als auch Deutschland. Nach ersten Meldungen über tote Fische habe das "Kernversagen in Polen" gelegen. Schon am 26. Juli hatten Angler Alarm geschlagen und polnische Behörden informiert.

Aber auch auf deutscher Seite sei in Reaktion auf das Fischsterben vergangene Woche nicht alles glatt gelaufen. Es hätten sofort mehr Labore für Analysen einbezogen werden müssen, sagte Maier. "Es ist zu viel Zeit verstrichen." Mit einer gemeinsamen Taskforce wollen Deutschland und Polen dem massiven Fischsterben im Grenzfluss jetzt entgegentreten.
Illegale Einleitung von Chemikalien

Die Umweltorganisation Bund geht davon aus, dass es auf polnischer Seite "eine illegale Einleitung von Chemikalien" in die Oder gegeben habe. "Wir können davon ausgehen, dass es eine Verunreinigungswelle gab, die durch die Oder geflossen ist." Hinzu kämen Faktoren wie Niedrigwasser oder Arbeiten am Oder-Ausbau, die Fische und Ökosystem schon vorher in Stress versetzt hätten.

Die bilaterale Aufklärungsarbeit lässt derzeit allerdings nur noch mehr Fragen auftauchen. Anfangs spekulierten die Behörden, dass die Ursache des Massensterbens auf eine chemische Verschmutzung der Oder zurückzuführen sei. Im Verdacht stand die Substanz Mesitylen. Der als Lösungsmittel eingesetzte Stoff ist für Wasserlebewesen hoch toxisch.
Giftstoffe: Mesitylen und Quecksilber

Anfang August teilte die Umweltbehörde in Niederschlesien mit, bei Wasserproben vom 28. Juli an zwei Stellen Mesitylen nachgewiesen zu haben. Bei später entnommenen Proben – und auch an anderen Stellen im Fluss – konnte die giftige Substanz jedoch nicht beziehungsweise nicht mehr festgestellt werden.

Ähnlich verhält es sich mit Quecksilber und anderen Schwermetallen. Laboruntersuchungen verendeter Fische aus der Oder konnten keine dieser Giftstoffe nachweisen. Das teilte Polens Umweltministerin Anna Moskwa in Stettin bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der deutschen Bundesumweltministerin Steffi Lemke mit.
Drei Hypothesen

Moskwa sagte weiter, bei den Untersuchungen zu den Ursachen des Massenfischsterbens würden derzeit drei Hypothesen in Betracht gezogen. Die erste Hypothese ist das mögliche Eindringen eines giftigen Stoffes ins Wasser, entweder beim Produktionsprozess in einem an der Oder ansässigen Industriebetrieb oder durch eine illegale Einleitung in den Fluss.

Die zweite Hypothese besagt, dass die Ursachen natürlicher Natur waren: hohe Temperaturen, niedrige Wasserstände und erhöhte Schadstoffkonzentrationen. Die dritte Option, die untersucht werde, sei die Einleitung einer großen Menge chlorhaltigen Brauchwassers in die Oder. Chlor könne möglicherweise eine Verschmutzung der Bodensedimente auslösen, sagte die Ministerin.
Ein freiwilliger Helfer holt mit einem Kescher tote Fische aus dem Wasser des deutsch-polnischen Grenzflusses Oder. Die Untersuchungen zur Aufklärung des massenhaften Fischsterbens dauern an.
Foto: APA/dpa/Patrick Pleul
Salze und Dürre als Ursachen?

Nach Angaben von Brandenburgs Umweltminister Axel Vogel weist die Oder "sehr stark erhöhte Salzfrachten" auf, was "absolut atypisch" sei. Unter dem Begriff "Salzfrachten" werden im Wasser gelöste Salze verstanden. Vogels Ministerium erklärte, die gemessenen Salzfrachten könnten im Zusammenhang mit dem Fischsterben stehen: "Nach jetzigen Erkenntnissen wird es jedoch nicht ein einziger Faktor sein, der das Fischsterben in der Oder verursacht hat."

Die Dürre und die geringe Wasserführung der Oder hätten ziemlich sicher einen Anteil daran. Tatsächlich sei das gesamte Ökosystem des Flusses geschädigt. "Deswegen denken wir, dass wir auch nicht eine Katastrophe haben, die innerhalb von einem halben Jahr durch Wiederbesiedlung mit Fischen gelöst werden kann", sagte Vogel.

Inzwischen wird in Polen weiter fieberhaft nach rund 300 Stoffen gefahndet. Auch die gezielte Suche nach Insektiziden im Wasser und in den verendeten Fischen wird forciert. Während die Wasseruntersuchungen andauern, sollen im Stettiner Haff Ölsperren eine größere Ausbreitung von Fischkadavern verhindern.
Geschwächte Gewässer

Auch Schmutz hat bereits bei der Bewertung von Fischsterben mitgearbeitet. "Das wird immer wie ein Kriminalfall aufgerollt", sagt er. Zuerst werde eruiert, in welchem Zustand sich das jeweilige Gewässer vor dem auftretenden Massensterben befunden habe. Der Zustand der Oder sei schon vor diesem Vorfall besorgniserregend gewesen.

"Wir haben derzeit eine extreme Situation mit hohen Wassertemperaturen, die für die meisten Fischgewässer in Europa einmalig sind", schildert er. Das zeige sich auch am Beispiel der Donau, die an sich ein Alpenfluss sei. "Wenn die Donau über 20 Grad hat, ist das schon eine Ausnahmeerscheinung, jetzt hat sie aber bereits wochenlang eine Temperatur von rund 23 Grad."

Solch suboptimale Voraussetzungen können dann selbst bei geringen zusätzlichen Belastungen eine große Rolle spielen. Schmutz zieht einen Vergleich: "Wenn ich ein intaktes Immunsystem habe, wird es Krankheitserreger problemlos abwehren können. Ist das Immunsystem aber schon vorbelastet, kann selbst eine kleine Infektion zur Katastrophe führen."
Chronisch belastete Lebensräume

60 Prozent der österreichischen Fließgewässer erfüllen nicht die gesetzlichen Umweltstandards, sagt Schmutz. "Da haben wir ein großes Problem, denn dadurch kann die Resilienz der Fischpopulationen derart geschwächt werden, dass bereits geringe Einflüsse zu großen negativen Konsequenzen führen können."

Was es braucht, um den Gewässern mehr Widerstandskraft zu geben? Am besten lasse sich die Resilienz der Ökosysteme erhöhen, indem der Zustand der Lebensräume an und in Gewässern verbessert werde. "Das funktioniert, indem man keine kanalartigen Gerinne akzeptiert, sondern natürliche Ufer und Flussläufe schafft und dort auch natürliche Vegetation zulässt", sagt der Experte.

Beschattung durch Ufervegetation könne helfen, Extremtemperaturen in Gewässern zu vermeiden. Das betrifft insbesondere kleine Flüsse und Bäche, die in größere Ströme wie die Donau oder die Oder münden. Denn die Temperatur großer Flüsse ergibt sich aus der Summe der Wassertemperatur aller Zuflüsse. Ein Pufferstreifen aus Vegetation helfe nicht nur, um durch Beschattung extreme Temperaturspitzen zu vermeiden. "Eine natürliche Ufervegetation kann auch Schadstoffe filtern, was viele positive Nebeneffekte hat", erklärt Schmutz.
Gravierender Ökosystemschaden

Allerdings steige der Druck auch auf kleine Gewässer in letzter Zeit massiv, viele einst stillgelegte Agrarflächen an Gewässern werden heute wieder (intensiv) bewirtschaftet. Der Fischökologe bemängelt hierbei insbesondere das Fehlen einer systemischen Betrachtung, denn: "Bei Ökosystemen gibt es keine schnelle und einfache Lösung." Angesichts des Klimawandels müsse die Resilienz der Gewässerökosysteme aber dringend erhöht werden.

Von einem immensen und gravierenden Schaden für das Ökosystem Oder spricht indes Wolf von Tümpling, Leiter der Abteilung Gewässeranalytik und Chemometrie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Magdeburg. "Das ist ein Ereignis, das in dieser Dimension absolut außergewöhnlich ist. Wir reden nicht von einem regionalen Fischsterben, sondern das ist ein katastrophaler Fall für das Ökosystem der Oder", sagt der Chemiker in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Die nun verendeten Fische seien eine wichtige Komponente für das Funktionieren des Fluss-Ökosystems. Es könnte lange dauern, bis sich ein neues Gleichgewicht in dem Gewässer einstelle. Schmutz geht davon aus, dass die Oder Jahre für die Erholung brauchen wird. (Marlene Erhart, 16.8.2022)

Update um 21:38 Uhr: Die Stellungnahme der polnischen Umweltministerin wurde ergänzt.

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