Atomkraftwerk
Dramatische Stunden beim AKW Saporischschja
Wegen eines Brandes in der Nähe wurde das umkämpfte Atomkraftwerk Saporischschja zeitweise vom Netz genommen. Der ukrainische Präsident Selenskyj sprach von einer gefährlichen Situation
Jan Dirk Herbermann, Thomas Fritz Maier
26. August 2022, 06:45
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In der Ortschaft Tschaplyne wurden neben dem Bahnhof auch mehrere Wohnhäuser von russischen Raketen getroffen.
Foto: Reuters/Stringer
Seit Wochen herrscht weltweit Sorge um das Atomkraftwerk Saporischschja in der Zentralukraine, das seit Anfang März von russischen Truppen besetzt ist und zuletzt heftig umkämpft wurde. Am Donnerstag wurden laut ukrainischer Atombehörde Energoatom beide operativen Reaktorblöcke des AKWs zeitweise abgeschaltet. Dies soll wegen eines Brandes, bei dem nahegelegene Stromleitungen beschädigt wurden, geschehen sein. Für mehrere Stunden wurden die Blöcke laut Energoatom nur von Dieselgeneratoren aus der Sowjetzeit gespeist und gekühlt.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, das AKW sei dabei nur knapp einem Strahlenunfall entgangen, hätten die ukrainischen Arbeiter, die trotz der russischen Besatzung das AKW weiter betreiben, nicht sofort gehandelt. Die Welt müsse viel mehr unternehmen, damit die russischen Truppen das AKW-Geländeer verlassen. Hinweise auf erhöhte Strahlung im AKW-Bereich hat es am Donnerstag keine gegeben, bestätigte auch das Umweltministerium in Wien.
Am Vorabend hatte Selenskyj in seiner Video-Ansprache vor dem UN-Sicherheitsrat Russland vorgeworfen, es habe "Europas größtes Kernkraftwerk in ein Kampfgebiet" verwandelt. Er forderte das schnelle Einsetzen einer Mission der Atombehörde IAEA, die die Kontrolle über das riesige Kraftwerk übernehmen solle. Tatsächlich werden IAEA-Fachleute in den kommenden Tagen in Saporischschja für einen Inspektionsbesuch erwartet. "Wir sind sehr, sehr nah dran", sagt IAEA-Chef Rafael Grossi in Wien dem TV-Sender France 24.
Zentrales Thema von Selenskyjs Rede war der russische Raketenangriff auf den Bahnhof der Ortschaft Tschaplyne in der ostukrainischen Oblast Dnipropetrowsk am ukrainischen Unabhängigkeitstag. In einem sich dort befindenden Passagierzug und in einer Wohngegend der Ortschaft sind kurz davor laut ukrainischen Angaben 25 Menschen getötet und mehr als 30 verletzt worden. "So hat sich Russland auf diese Sitzung vorbereitet", sagte er zu Beginn seiner Rede.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach auf Twitter von "russischem Raketenterror". Weitere Angriffe auf die Region Dnipropetrowsk zogen laut ukrainischen Medien acht Verletzte nach sich, in der Region Mykolajiw seien neun Menschen verletzt worden. Die Angaben sind nicht unabhängig prüfbar.
Russische Streubomben
Ebenfalls am Donnerstag publizierte die Internationale Koalition gegen Streubomben (CMC) ihren jährlichen Bericht, den sogenannten Streubomben-Monitor. Demzufolge wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 in der Ukraine mindestens 689 Zivilistinnen und Zivilisten Opfer der heimtückischen Sprengkörper. Von ihnen starben 215, 474 erlitten Verletzungen und Verstümmelungen. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weitaus höher liegen.
Fast alle Attacken mit den von vielen Staaten geächteten Bomben in der Ukraine gehen auf das Konto der russischen Truppen. Aber auch ukrainische Einheiten griffen nach Erkenntnissen von Mary Wareham, Abrüstungsexpertin von Human Rights Watch, in mindestens zwei Fällen zu diesen Waffen. Weder Russland noch die Ukraine haben sich der sogenannten Oslo-Konvention zum Verbot der Streumunition angeschlossen. Die Munition befindet sich in Containern. Die Behälter öffnen sich, und hunderte kleine Bomben verteilen sich auf großen Gebieten, die mehrere Dutzend Fußballfelder groß sein können.
Auf ein baldiges Ende des Krieges stellt sich Russlands Präsident Wladimir Putin in jedem Fall nicht ein. Er unterzeichnete am 25. August einen Erlass zur Vergrößerung der Truppenstärke auf dann insgesamt 1,15 Millionen Soldaten. Dieser tritt mit Beginn des nächsten Jahres in Kraft. (Jan Dirk Herbermann, Thomas Fritz Maier, APA 26.8.2022)