REZENSION
Ein Krebs im Leib der Kirche
Ein französischer Kartäuser analysiert Methoden der geistlichen Korruption.
Schatten eines Mannes mit Kreuz
Foto: Harald Oppitz (KNA) | Die Kombination aus dem fehlgeleiteten Gewissen des Täters und dem konditionierten Gehorsam des Untergebenen führt zu perversen Tiefen.
13.03.2023, 07:00 Uhr
Urs Buhlmann
Die Frage treibt viele um: Wie kann es sein, dass fromme Menschen zu Missbrauchstätern werden oder dass sie manipulativ ihrer Aufgabe der geistlichen Begleitung nachkommen und sie so pervertieren? Eine populäre Antwort, so auch von Vertretern des Synodalen Weges gegeben, lautet: Weil sie Männer sind und weil die Männerkirche ihre Geistlichen dazu heranzieht, Macht auszuüben und die Gläubigen als Untergebene zu behandeln. Wenn man davon absieht, dass in der Tätergruppe durchaus Frauen vertreten sind und dass auch im Dienst der Kirche stehende Laien Taten begangen haben, liegt die Vermutung nahe, dass hier das schreckliche Geschehen des Missbrauchs instrumentalisiert wird.
Tiefe Einblicke in Motive und Abgründe der menschlichen Seele
Wer tiefer nach den Ursachen graben will, greife zum Buch des Franzosen Dysmas de Lassus, seines Zeichens 74. Nachfolger des heiligen Bruno von Köln als Generalprior des Kartäuserordens. In „Verheißung und Verrat“ beschränkt er sich zwar auf die Analyse des schlimmen Geschehens in Orden und geistlichen Gemeinschaften der Kirche, es gelingen ihm aber tiefe Einblicke in die Motive und Abgründe der menschlichen Seele, die sein Buch zu einem echten Wegweiser bei der Deutung der Problematik machen, die die Kirche weltweit verändert. Dabei ist de Lassus zu fromm und klug, um sich von irgendeiner Seite vereinnahmen zu lassen. Da ist er sich einig mit Pater Klaus Mertes SJ, der als ehemaliger Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin durch ein Stahlbad gegangen ist und im Vorwort festhält: „Missbrauchstäter halten sich nicht an die links-rechts-Sitzordnung.“
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De Lassus blickt auf das Phänomen aus dem Schweigen der Kartause, nicht an tagesaktuellen Meinungen und Absichten interessiert. Was für ihn als Mönch am Missbrauchsgeschehen bedenklich ist, ist die Verwendung der ureigentlichen geistlichen Werkzeuge des Ordenslebens durch die Täter: Respekt vor der Autorität – im Ordensleben durch die Gelübde bekräftigt –, der Wunsch nach der von Jesus beschworenen Einheit, die „bräutlichen Ausdrucksformen der Vereinigung mit Gott“ wie Opfer, Entsagung und Armut. All das, so führt er aus, wird von den Tätern in den Dienst einer Krankheit gestellt, „die etwas mit Krebs gemeinsam hat. Krebs ist keine Entartung, sondern ein Leben, das außer Kontrolle gerät, in eine ungeordnete Vermehrung rast und schließlich toxisch wird“.
Verehrte Gründerpersönlichkeiten waren oft Täter
Wie das vor sich geht, will de Lassus in seinem Buch klären. Dabei widmet er sich besonders neuen geistlichen Gemeinschaften, von denen einige haben erfahren müssen, dass gerade die verehrte Gründerpersönlichkeit ein Täter gewesen ist. Der Autor meint, dass der Erfolg, der solchen Neuaufbrüchen in der Kirche zuteil wird, wenn das Charisma überzeugend gelebt wird, zum Problem werden kann. Neue Gruppen erhalten Zulauf in einer müde gewordenen Kirche, wenn es der Gründerin beziehungsweise dem Gründer gelingt, ein bestimmtes Element der Spiritualität überzeugend zu leben. Nachwuchs stellt sich ein und die Mitglieder der Gruppe können sich sagen, dass sie offenbar etwas richtig machen. So wachsen Respekt und Verehrung für den Gründer, doch für den Kartäuser muss er sich von nun an vor den Angriffen des Bösen wappnen: „Durch die hohen Ziele, die sich das Ordensleben setzt, ist es empfänglicher für verschiedenste Angriffe aus dem Bereich von Ehrgeiz, Unbesonnenheit, Eifersucht, Machtstreben usw.“ Wem es nun an „discretio“ fehle, am Gespür für das Maß oder an Ausgewogenheit, der steht in der Gefahr, seine eigenen Motive als die Ziele Gottes misszuverstehen.
Nun beginnen die Probleme. De Lassus beschreibt eindringlich, wohl aus eigenem Erleben als geistlicher Begleiter, in welche perversen Tiefen die Kombination aus dem fehlgeleiteten Gewissen des Täters und dem konditionierten Gehorsam des Untergebenen führen kann. Lange dauert es bei den Opfern, bis ihnen aufgeht, dass etwas nicht stimmt, dass sie sich um der Integrität ihrer Berufung willen abwenden müssen. Manche schaffen dies nicht ohne äußere Intervention, und gar nicht so wenige vermögen auch dann noch nicht einzusehen, dass zumindest der sexuelle Missbrauch, den sie erleiden mussten, als echtes Verbrechen nach staatlichem wie kirchlichem Recht angezeigt und verfolgt werden muss. Das neue Strafrecht der Kirche von 2021 macht dies im Übrigen jedem, der Kenntnis von sexuellem Missbrauch hat, zur Pflicht. Dass diese Anzeigepflicht für Missbrauchs-Delikte nach staatlichem Recht nicht existiert, zeigt, welchen Weg die Kirche gegangen ist.
Schritt für Schritt in Richtung Gefügigkeit
De Lassus benennt und erklärt die einzelnen Schritte, die ein zum Bösen entschlossener Guru geht, wenn er sich Mitglieder seiner Gruppe gefügig machen will: 1. Anziehung ausüben und betören, was in Personenkult endet, 2. die vulnerablen Mitglieder isolieren, die Abschottung von der Außenwelt fördern, 3. manipulieren, etwa über ein falsches Elite-Bewusstsein, und schließlich 4. das Ausnutzen der Opfer und die Etablierung einer inkohärenten Lebensweise. Das geht behutsam, Schritt für Schritt und ist für Innen- wie Außenstehende zunächst nur schwer zu erkennen. Die Wahrnehmung folge dem „Zwiebelprinzip“: „Was man von außen von der Gemeinschaft sieht; was man sieht, wenn man Kontakt zur Gemeinschaft aufbaut; was man entdeckt, wenn man in die Gemeinschaft eintritt; was man nach einigen Monaten entdeckt; was man (eventuell) nach einigen Jahren entdeckt.“
Dieses schichtenartige Übergleiten in immer problematischer werdende neue Gegebenheiten wird den Betroffenen zunächst gar nicht und womöglich erst nach langer Zeit klar. Das mag erklären, dass sie sich schwertun, sich zu lösen, obwohl bereits Warnsignale leuchten, dass sie unter Umständen nie in der Lage sein werden, sich von der verehrten Gründerfigur zu distanzieren. Es erklärt, warum in manchen Fällen das Kapitel einer Gemeinschaft eher eine den Oberen schonende Entscheidung trifft als den Opfern zu glauben.
Eine leichte oder angenehme Lektüre ist das Werk von Dysmas de Lassus nicht. Aber eine notwendige, weil er niemals polemisiert und seine Worte getragen sind von jener unaufgeregten Klarsichtigkeit, die nur ein langes innerliches Leben vermittelt. Einen geheimen Wirkmechanismus hinter entarteter Leitung sieht de Lassus in der untrennbaren Verbindung von Institution und Charisma, die zum Wesen der Religion gehöre. Fehlformen sind möglich, etwa ein Legalismus, der auf Befolgung der Regeln setzt, wie auch jene Auffassung, „dass der Geist vom Buchstaben und damit vom Gesetz dispensiert“. Das allen Ernstes „Gelübde der Nächstenliebe“ genannte Schweigegebot gegenüber Außenstehenden, das in der ersten Phase ihrer Existenz zu den Markenzeichen der „Legionäre Christi“ gehörte, ist für den Autor ein typisches Beispiel für eine charismatisch begründete Fehlhaltung.
Ordenschrist soll Gehorsam Christi betrachten, Oberer seine Milde
Der Kartäuser kennt aber auch ein Gegenkonzept beim Ringen um das rechte Maß: Er hält an der traditionellen, besonders bei den Mönchen vertretenen Sichtweise fest, dass der Obere bei den Seinen den Platz Gottes einnimmt. Sie sei aber unbedingt zu ergänzen: „Für den Oberen tritt derjenige, der gehorcht, an die Stelle Christi – und zwar aus demselben Grund.“ Der Obere soll im Bruder, dem er eine Weisung gibt, Christus erkennen. Autoritätsbeziehung geht für de Lassus so: „Der Ordenschrist soll den Gehorsam Christi betrachten, der Obere seine Milde. Dann werden Erstere unverzüglicher gehorchen und Letztere mehr darauf achten, gerechte Anordnungen zu treffen.“ Ein Satz, wie der, der tatsächlich gefallen ist – „Schon vor der Erschaffung der Welt hat Gott unseren Orden erwählt, damit wir heilig und untadelig vor ihm leben“ – ist unmöglich, wenn man sich des nüchternen Realismus befleißigt, den der Autor empfiehlt.
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In seinem Buch erwähnt de Lassus auch den Unterschied zwischen geistlichem und sexuellem Missbrauch, hebt aber hervor, dass das Eine häufig das Andere einleite. Ebenso belegt er, dass weibliche Gemeinschaften genauso vom Missbrauchs-Geschehen befleckt sind wie Bewegungen im protestantischen Milieu: Ein Beleg dafür, dass die von Sprechern des Synodalen Weges vorgebrachte These, wegen des Missbrauchs müsse das Priestertum ganz neu gedacht werden, eine Nebelkerze im Kampf um den Umbau der Kirche ist. Wichtiger erscheint de Lassus, zwischen dem Charisma des Gründers und dem Charisma seines Instituts zu unterscheiden, was ermögliche, eine Gemeinschaft gleichsam neu aufzubauen. Er empfiehlt, das Kirchenrecht zu beachten, das bei korrekter Anwendung verhindere, dass ein Oberer zum Autokraten werde, und rät den Gemeinschaften schließlich, nicht das Außergewöhnliche zu suchen, sondern – mit Paul Verlaine – die „langweiligen und einfachen Arbeiten“, den Weg der Treue, der, wie in der Ehe, zum Ziel führe. Sein Buch ist, für Einzelne wie für Gemeinschaften, ein sicherer Führer dorthin.
Dysmas de Lassus, Verheißung und Verrat – Geistlicher Missbrauch in Orden und Gemeinschaften der katholischen Kirche. Übersetzt von Dominica Frericks. Aschendorff Verlag, Münster, 2022, 336 Seiten,
ISBN 978-3-402-24822-5, EUR 26,80
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