Du hast dich jetzt umgesehen in dem düsteren Kämmerlein zu Schiedam, in welchem Lidwina so bittere Schmerzen – achtunddreißig lange Jahre – gelitten hat. Bevor du ihr seliges Ende und ihre himmlische Schönheit auf dem Leichenbett geschaut hast, ist dir vielleicht der vorwitzige Gedanke durch den Kopf gefahren: „Ei, wie und wo mag dieses in der ersten Jugend so reizend schöne Mädchen solches Leiden verschuldet haben?“ oder auch: „Wie konnte Gott, der in sich unendlich Heilige und gegen Alle unendlich Gütige, es wollen, daß diese brave Jungfrau so schwer und so lange leide?“ Solche Reden hört man nur zu oft, obschon sie gerade kein rühmliches Zeugnis von kindlicher Ehrfurcht gegen Gottes Weisheit und Liebe sind. Damit du in deinem urteil behutsamer werdest, überleg vorläufig nur zwei Punkte:
1. Leiden, welche Gott selbst über fromme Menschen verhängt, oder zu deren freiwilliger Übernahme Er sie antreibt, sind ein deutlicher Beweis seiner vorzüglichen Huld und Liebe. Mehr als einmal hat sich über Jesus der Himmel geöffnet, und hat der himmlische Vater in feierlichster Weise der Welt verkündet: „Dieser ist mein viel geliebter Sohn, an dem Ich Wohlgefallen habe“ (Matth. 3,17); und doch hat Jesus von seiner Geburt im Stall bis zu seinem Tod am Kreuz Schmerzen gelitten am Leib und an der Seele, die an Größe, Mannigfaltigkeit und Dauer niemals ihres Gleichen hatten, noch jemals haben werden. An Maria hat Gott Großes getan, wie sie selbst bekennt, und ihr sein höchstes Wohlgefallen ausgesprochen durch den Erzengel Gabriel und dessen ehrenvollste Begrüßung: und doch ist Maria, die Gebenedeite unter den Weibern, achtundvierzig Jahre lang die schmerzhafte Mutter mit sieben Schwertern im Herzen gewesen und hat Schmerzen gelitten, welche die Tausende und Millionen Menschen nur einen Tag lang zu tragen nicht im Stande gewesen wären. Johannes der Täufer wurde von Jesus selbst gerühmt als der größte vom Weibe Geborene (Luk. 7); und doch hat er in einem Kleid von Kamelhaaren draußen in einsamer Weise lebenslänglich die strengste Buße geübt und ist zum Lohn für seine Amtstreue von dem blutschänderischen Ehebrecher Herodes an dessen Geburtstagsfest grausam ermordet worden. Jesus hatte seine Apostel sehr lieb, Er nannte sie seine Freunde (Joh. 15); und doch bezeugt der Apostel Paulus: „Bis zu dieser Stunde hungern und dürsten wir, sind wir entblößt, werden wir mit Fäusten geschlagen und haben keine bleibende Stätte: man flucht uns, man verfolgt uns, man lästert uns, wie ein auswurf dieser Welt sind wir geworden, wie ein Abschaum von allen bis zu dieser Stunde.“ (1. Kor. 4) Folglich ist es ein sicheres, klar voraus gesagtes Zeichen, daß uns Jesus lieb habe, wenn Er uns würdigt, mit ihm und für Ihn Großes zu leiden. Hast du dieses glückliche Kennzeichen der göttlichen Liebe auch an Dir, an deinem Leibe oder an deiner Seele? Wenn nicht, so bitte den barmherzigen Gott, daß Er dich mit diesem Zeichen schmücke, daß Er dir Leiden schicke.
2. Leiden, welche Gott selbst über seine geliebten Kinder verhängt, oder zu deren freiwilligen Übernahme Er sie antreibt, sind, wie der Glaube und die Erfahrung lehrt, der kürzeste Weg zur Heiligkeit auf Erden und zur Glorie im Himmel. Nirgends vermehren sich die übernatürlichen Verdienste so schnell als im Leiden; und jedes Verdienst lohnt uns Gott mit einer neuen Gnade für das gegenwärtige Leben und mit einer neuen Glorie in dem ewigen Leben. Ein Kreuz ist immer eine angefangene Krone: und jeder neue Schmerz, den dieses Kreuz erzeugt, ist ein neuer Edelstein zur Zierde und Verherrlichung dieser Krone. Dieses Gesetz der Gnade erklärte Jesus den zwei Jüngern auf dem Wege nach Emmaus mit der Frage: „Mußte nicht Christus dies leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?“ (Luk. 24) Und der hl. Paulus fügt erläuternd bei: „Wir sind Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir anders mit Ihm leiden, damit wir auch mit Ihm verherrlicht werden.“ (Röm. 8) Leiden waren daher den Heiligen immer lieber, als irdische Wohlfahrt nur deshalb, weil sie dadurch Jesu Christo ähnlich wurden. O wer kann das namenlose Entzücken aussprechen, welches die hl. Lidwina heute und ewig im Himmel genießt, und welches sie als den überaus großen Lohn für jedes besondere Leiden erkennt! Glaube daher dem gütigen Jesus, wenn Er dir ein Kreuz aufladet mit der Zusicherung: „Selig sind die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.“ (Matth. 5)
Aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 280-281
O christliche Seele, wenn Leiden und Schmerzen dich befallen und du in Ungeduld ausbrechen, murren und klagen möchtest, dann denke an Lidwina; schaue wie sie auf den gekreuzigten Heiland, und denke an deine Sünden. Hat Lidwina, die reine Gottesbraut, so entsetzliche Leiden geduldet und nur dadurch die schöne Krone der Herrlichkeit errungen, womit wirst du sie wohl erringen, der du so viel gesündigt hast, womit anders als nur durch Buße, durch Leiden, durch Kreuz! Wohlan, leide, schweige, dulde und harre aus, die Krone winkt auch dir; bald ist Alles vorüber und ewige Wonne ist dein Lohn!
Gebet:
O Jesus, verleihe mir Liebe zum Leiden, und Geduld im Kreuz, damit ich dir nachfolge und selig werde. Amen.
Aus: Georg Ott, Legende von den lieben Heiligen Gottes, Bd. 1, 1904, S. 572
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