Arte-Reportage „Die globale Antibiotika-Krise“
700.000 Tote pro Jahr: Massenhafter Einsatz von Antibiotika macht Keime resistent
Dienstag, 19.03.2019, 16:43
Rund 700.000 Menschen sterben jedes Jahr, weil sie gegen Infektionen, Verletzungen oder Krankheiten Antibiotika einnehmen, die allerdings nicht wirken. Mittlerweile sind viele Keime resistent gegen das einstige Wundermittel. Arte berichtet in einer Reportage über das globale Problem.
David Ricci kann heute wieder beruhigt über den Duwamish-Fluss schauen. Dank einer Beinprothese bewegt sich der Mittdreißiger annähernd so wie zu jenen Zeiten vor seiner Infektionserkrankung, die beinahe tödlich verlaufen wäre.
Ricci hatte sich auf einer Indienreise bei einem Zugunglück Beinverletzungen zugezogen. Im Krankenhaus in Kalkutta hatte sich der US-Amerikaner mit antibiotika-resistenten Keimen infiziert. Indien gilt laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als einer der größten Gefahrenherde für die Ausbreitung von antibiotika-killenden Bakterien.
Zuhause angekommen blieb den Ärzten nichts anderes übrig, als die infektiöse Beinpartie zu amputieren. In der Hoffnung, dass der Wundbrand sich nicht weiter fortsetzen konnte. Ricci überlebte glücklicherweise.
Todesfälle durch Antibiotika-Resistenzen häufen sich
Rund 700.000 Menschen auf der Welt sterben hingegen jährlich, weil das einstige Wundermittel gegen Infektionen, Tuberkulose, Lungenentzündung, Verletzungen aller Art oder Geschlechtskrankheiten nicht mehr hilft. Mit Blick auf die wachsende Zahl resistenter Krankheitserreger rechnen englische Experten für das Jahre 2050 mit zehn Millionen Toten jedes Jahr auf dem Erdball.
Allein in Deutschland kommen bis zu 15.000 Menschen per anno durch Krankenhauskeime ums Leben. Das Robert-Koch-Institut schätzt die Zahl der Infektionen durch multiresistente Erreger (MRE) auf bis zu 35.000. Die Todesrate liegt demnach zwischen 1000 bis 4000 Menschen pro Jahr. In diesen Fällen wirkte kein Antibiotikum mehr.
Inflationärer Einsatz von Antibiotika macht Erreger resistent
Der negative Trend, so fürchten Experten, wird sich noch verstärken. Durch den inflationsartigen Gebrauch der Infektionskiller haben sich viele Wirkstoffe verbraucht. Auch der massenhafte Einsatz der Medikamente in den landwirtschaftlichen Tierfarmen verschlimmert die Lage zusehends.
So paradox es klingt: In Indien, einem der größten Antibiotika-Produzenten, werden die Medikamente auf der Straße wie Bonbons geschluckt. Mit dem enormen Konsum vergrößert sich die Zahl resistenter Erreger rasant. Durch den stetig wachsenden Reisetourismus wandern gefährliche Keime wie NDM 1 auch nach Deutschland ein.
Sendehinweis
Der TV-Sender Arte strahlt am Dienstagabend, 19. März 2019, um 20.15 Uhr unter dem Titel „Resistance Fighters: Die globale Antibiotika-Krise“ eine knapp 100-minütige Dokumentation zu dem Thema aus.
Enormer Forschungsaufwand lohnt sich für viele Unternehmen nicht
Angesichts der Antibiotoka-Krise läge es nahe, dass die Pharma-Branche längst an neuen Wirkstoffen arbeiten würde. Das Gegenteil ist laut Holger Zimmermann der Fall: „Heute sind nur noch wenige große Pharma-Konzerne im Bereich der Antibiotika-Forschung tätig“, erläutert der CEO des medizinischen Wirkstoffentwicklers AiCuris aus Wuppertal gegenüber FOCUS Online.
Die Gründe: zu schwierig, zu kostspielig und wenig ertragreich. Die dringend nötige Weiterentwicklung der einstigen Wunderwaffe gegen bakterielle Infektionen stockt. Dem hiesigen Gesundheitssystem droht nach Ansicht von Experten eine medizinische Katastrophe, sollte die Politik im Kampf gegen die wachsende Zahl antibiotika-resistenter Krankheitsreger nicht neue finanzielle Anreize für die Pharmabranche schaffen. „Es stellt sich derzeit die Frage, wer bezahlt die Rechnung für den enormen Forschungsaufwand?“, führt Zimmermann aus.
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) spricht von einer „großen Herausforderung für den Bereich der öffentlichen Gesundheit“. Dazu brauche es dringend neue Mittel. Zugleich beschreibt Laumann das Dilemma: „Wir leben in einer freien Marktwirtschaft und die Unternehmen entscheiden selbst über Ihre Investitionen.“
Allerdings tausche sich die Landesregierung im Rahmen des Pharmadialogs NRW auch zum Thema „Entwicklung neuer Antibiotika“ mit der Industrie aus. Besonderes Augenmerk legt der Minister jedoch darauf, dass Ärzte als auch Patienten „bei der Verschreibung und Einnahme verantwortungsvoll mit Antibiotika umgehen“. Weniger ist mehr, lautet die Devise.
Enorme Sorgen bereitet den hiesigen Forschern vor allem die wachsende Zahl resistenter sogenannter gramnegativer Krankenhauskeime. Hier half lange Zeit ein Mittel der wirksamsten Antibiotika-Klasse: „In den Krankenhäusern in Südeuropa und andernorts wurde allerdings so lange mit dieser medizinischen Keule draufgehauen, dass inzwischen gut jeder zweite Patient dort resistente gramnegative Erreger aufweist“, erläutert Thomas Hesterkamp vom Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF).
Behandlung oft nur noch mit Reserve-Antibiotika möglich
Zwar erscheint die Lage in Deutschland nicht ganz so schlimm. Doch auch hierzulande breiten sich aggressive, multiresistente Bakterien-Typen aus. Beinahe jede fünfte Krankenhaus-Infektion durch gramnegative Bakterien weist Resistenz gegenüber einem oder mehreren der Hauptantibiotika auf.
Diesen Negativtrend habe man 20 bis 30 Jahre lang verschlafen, bemängelt Hesterkamp. „In den Achtzigerjahren gelangte das letzte Antibiotikum gegen diese Erreger auf den Markt. Es ist fünf vor zwölf“, konstatiert der promovierte Humanbiologe. Inzwischen könne man in vielen Fällen die schwer Erkrankten nur noch mittels so genannter Reserve-Antibiotika behandeln. „Das sind aber Mittel, die erhebliche Nebenwirkungen aufweisen.“
Zudem offenbart ihr Einsatz ein weiteres Problem: Eigentlich sollen diese Medikamente nur im äußersten Notfall verabreicht werden, damit sich die Bakterien nicht auch auf diese letzten verbliebenen Mittel einstellen können. Doch weil sie zuletzt viel zu oft verschrieben wurden, helfen auch diese Arzneien nicht mehr in jedem Fall.
Das mittelständische Wuppertaler Pharma-Unternehmen AiCuris, 2018 ausgezeichnet mit dem Zukunftspreis des Bundespräsidenten für Technik und Innovation, forscht gegen den Trend. Dort hat man den Fokus auf die Bekämpfung gramnegativer Keime gelegt. „Es besteht ein hoher medizinischer Bedarf“, betont Firmenlenker Zimmermann.
Forscher entwickeln neue wirksame Mittel
Ähnlich denkt man beim DZIF. An sieben Standorten suchen Wissenschaftler unter anderem nach neuen Antibiotika-Ansätzen. In Köln und Bonn haben sich Forscher an den Uni-Kliniken zusammengeschlossen, die ein neues Mittel gegen Tuberkulose entwickeln.
Ohne die großen Konzerne, glaubt DZIF-Projektleiter Hesterkamp, wird die Aufholjagd nicht gelingen. Doch sieht er auch die öffentliche Hand in der Pflicht – national wie international. „Derzeit gibt es Überlegungen, bereits die Forschungs- und Zulassungsarbeit der Unternehmen mit Prämien zu honorieren“, sagt der Experte.
Hierzu müsse ein globaler Topf möglicherweise unter dem Dach der Weltgesundheitsorganisation geschaffen werden, um die Gesundheitssysteme vor dem medizinischen Kollaps zu bewahren. „Ansonsten“, bemerkte eine Kollegin Hesterkamps zuletzt düster, werde man „wieder in die Prä-Antibiotika-Ära“ zurückkatapultiert. Zeiten, in denen jede große Wunde zum Tode führen konnte.
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https://www.focus.de/gesundheit/gesundle...id_9884899.html
https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber...d_10475452.html
Im Video: Nur vier Risikofaktoren sind Ursache für die Hälfte aller Todesfälle weltweit