PAPST: „Wer die Wurzeln abschneidet, erneuert das Leben des Baumes nicht.“
vom Herder-Verlag herausgebrachten Neuerscheinung seines Interview-Buches „Zur Lage des Glaubens“:
„Als dieses Buch 1985 erstmals erschien, war es für viele ein Schock, für sehr viele aber auch eine Ermutigung und ein Zeichen der Hoffnung. Damals war die kulturelle Revolution noch voll im Gange, die seit 1968 die westliche Welt bis in ihre Grundlagen hinein erschütterte.
Die junge Generation suchte nach einer neuen Gesellschaft, in der es den Wettlauf der Rüstung nicht mehr geben und in der der Unterschied zwischen Arm und Reich verschwinden sollte – ein moralisches Ziel, das junge Menschen wahrhaft faszinieren konnte.
Aber dieser Moralismus verband sich mit einem Hass gegen das Bestehende, der die Bereitschaft zu Terrorismus und Mord mit einschloss. Gut war, was dem moralischen Ziel diente. Obwohl es letztlich um die Versöhnung in der Welt gehen sollte, war man parteiisch der marxistischen Ideologie und den von ihr her wirkenden Mächten verpflichtet, weil dies der Weg der Wissenschaften und so auch der Weg des Guten zu sein schien.
Da die Kirche nicht neben der Welt lebt, sondern aus Menschen dieser Welt besteht, war sie mitten in diese Krise hineingeraten. Auch in ihr schienen die Grundlagen selbst in Frage zu stehen. Auch in ihr schien eine Generalrevision notwendig.
Das II. Vatikanische Konzil hatte ja der Erneuerung der Kirche dienen wollen; es war von dem Stichwort „aggiornamento“ ausgegangen, also von der Absicht, die Kirche „heutig“ zu machen – sie aus ihrer scheinbaren Gestrigkeit in die Gleichzeitigkeit mit der Gegenwart hineinzuführen und sie so auf die Zukunft hin zu öffnen.
Die Texte des Konzils hatten dazu klare Weisungen gegeben. Aber im Kontext der Kulturkreise, in der man stand, schien das Hören auf diese Texte nicht genügend zu sein.
Es erschien als ganz natürlich, radikalere Wege zu suchen und das Christentum von Grund auf neu zu denken und zu formen. So wurde das Konzil zum Etikett für vieles, womit es gar nichts zu tun hatte und umgekehrt:
Diejenigen, die die Kirche in ihrer wesentlichen Identität liebten, konnten leicht den Verdacht schöpfen, das Konzil habe in der Tat ein zerstörerisches Programm entwickelt. Feindschaft gegen das Konzil bildete sich, die Polarisierung wuchs.
Die Verteidiger des Konzils fühlten sich in dieser Lage vielfach dazu gedrängt, die negativen Erscheinungen zu leugnen oder wenigstens zu bagatellisieren und immer nur darauf hinzuweisen, dass doch Positives im Wachsen sei.
Es sah für viele so aus, als ob es eine Art Pflicht-Optimismus gebe, dessen Mangel an Realismus ernsthafte Menschen schockierte und eher ins antikonziliare Lager trieb.
In dieser Lage den rechten Gesprächston zu finden, war schwierig. Ich habe mich bei meinem Dialog mit Vittorio Messori mit meinem damals eher fragmentarischen Kenntnis der italienischen Sprache darum bemüht, redlich zu sagen, wie ich den Zustand der Kirche sehe.
Ich wollte mich nicht durch einen Pflicht-Optimismus binden lassen, der an der Wirklichkeit vorbeiredete. Aber dabei durfte es auch keinen Zweifel geben, dass die Aussagen des Konzils selbst den rechten Weg zeigten: Erneuerung in der Kontinuität des Glaubens und nicht im Bruch mit ihm.
Wer die Wurzeln abschneidet, erneuert das Leben des Baumes nicht.
Bei einer solchen Position musste freilich auch gefragt werden, warum das Positive, das wächst, so still ist und so wenig erscheint; warum anstatt des erwarteten Pfingststurms eher zerstörerische Ungewitter über große Teil der Kirche niedergegangen waren, besonders was das Ordensleben, aber auch den Priestermangel angeht.
Natürlich konnte ein Gespräch, das nur wenige Tage dauerte, keine das Ganze durchleuchtenden Analysen bringen.
Aber einige Durchblicke durchs Ganze – so scheint es mir – sind doch möglich geworden. Ein Schock war das Buch für alle, die Optimismus als Pflicht ansahen und das Buch demgemäß als antikonziliar einstuften.
Andererseits habe ich aus vielen Reaktionen das Aufatmen der Menschen wahrnehmen können, die froh waren, dass jemand einfach die Wirklichkeit wahrzunehmen und auszusagen versuchte, auch wo sie betrüblich war; dass jemand die eingespielte political correctness durchbrach und so Mut zum Glauben machte.
Aus dem Abstand von mehr als 20 Jahren wird man das Buch heute anders lesen als im damaligen Kontext. Die Situation der Kirche und Welt hat sich verändert. Neue Fragen haben sich in den Vordergrund geschoben, die damals noch kaum sichtbar geworden waren – besonders das Problem des Dialoges der Religionen und der Einzigkeit des Erlösers Jesus Christus, die auf der Einheit und der Einzigkeit der Wahrheit beruht.
Dennoch ist mir beim Lesen bewußt geworden, dass die Probleme von damals uns durchaus auch heute noch beschäftigen. Ich habe mich in den Antworten von damals wiedererkannt, die ich heute kaum anders geben würde. So hoffe ich, dass das bescheide kleine Buch auch heute noch einen Dienst leisten kann.
Rom, 15. Januar 2007 - Benedikt XVI.“