Literarisches Meisterwerk detailverliebt verfilmt
Filmrezension: Anna Karenina
Von Dr. José García
BERLIN, 4. Januar 2013 (ZENIT.org, textezumfilm) - Leo Tolstois „Anna Karenina“ gehört zu den herausragenden Romanen der Literatur des 19. Jahrhunderts. Sein Ehe/Ehebruch-Thema hat er mit anderen Werken aus dieser Zeit des literarischen Realismus, etwa Gustave Flauberts „Madame Bovary“ oder Theodor Fontanes „Effi Briest“, gemeinsam. Tolstois wohl vollkommenster Roman wurde mehrfach für die Kinoleinwand adaptiert, erstmals 1927 als Stummfilm mit Greta Garbo in der Hauptrolle, die 1935 Anna Karenina ein zweites Mal verkörperte. Für die nun anlaufende Verfilmung zeichnet der britische Regisseur Joe Whrigt verantwortlich, der bereits mit „Stolz und Vorurteil“ (2005) und „Abbitte“ (2007) seinen Sinn für Literaturverfilmungen mit detailverliebter Ausstattung und einem epischen Gestus in den exquisite Räume durchwandernden, langen Kameraeinstellungen unter Beweis stellte.
Das Drehbuch von Tom Stoppard stellt zwar den Bruch von Anna Kareninas (Keira Knightley) Ehe durch deren Liebesbeziehung mit Graf Wronskij (Aaron Taylor-Johnson) in den Mittelpunkt. Der Romanvorlage folgend. verknüpft Stoppard jedoch drei Familiengeschichten miteinander: die Ehe der Anna Karenina und des Staatsbeamten Karenin (Jude Law), die des Bruders von Anna Karenina, des Fürsten Oblonski (Matthew Macfadyen), und seiner Frau Dolly (Kelly Macdonald) sowie die von Dollys jüngerer Schwester Kitty (Alicia Vikander) und des Gutsbesitzers Levin (Domhnall Gleeson). Die durch ihre Ehe mit einem hochrangigen Regierungsbeamten zu den höchsten Kreisen der St. Petersburger Gesellschaft gehörende Anna Karenina reist nach Moskau, um die Ehe ihres Bruders Oblonski, eines notorischen Schürzenjägers, mit Dolly zu retten. Im Zug lernt sie Gräfin Wronskij (Olivia Williams) kennen, die von ihrem Sohn, dem attraktiven Kavallerie-Offizier Wronskij, am Bahnhof erwartet wird. Anna und Wronskij fühlen sich augenblicklich zueinander hingezogen. Allerdings ist der Offizier zunächst einmal an Dollys Schwester Kitty interessiert, die wegen Wronskij den Großgrundbesitzer Levin verschmäht hat. Dies ändert sich schlagartig bei einem Ball, auf dem ein gemeinsamer Tanz von Wronskij und Anna den Beginn einer verhängnisvollen Liebesaffäre bedeutet, der nicht nur Annas gesellschaftliche Stellung, sondern auch ihr Leben zerstören wird.
Auffällig an Joe Whrigts Verfilmung ist der Verfremdungseffekt, den der Regisseur anwendet: Sein Film beginnt als Theateraufführung, die in einen Film übergeht. Dennoch kehrt die Bühne immer wieder zurück, Kulissen werden hin- und hergeschoben. Andererseits ist Joe Wrights „Anna Karenina“ kein gefilmtes Theater. Trotz des meisterhaften Schnitts von Melanie Ann Oliver, der fließende Übergänge schafft, trotz einer hervorragenden Kameraführung (Seamus McGarvey), die das Tableauhafte mit einer dynamischen Kamera etwa bei der Ballszene kombiniert, schafft die Vermischung der beiden Kunstformen für den Zuschauer eine gewisse Irritation. So etwa, wenn auf einer Bühne eine ganze Pferderennbahn Platz findet oder sich auf dem Dachboden des Theaters eine Schiffsszene abspielt, oder auch wenn sich eine Tür beziehungsweise ein Vorhang öffnet und hinter dem Theaterraum eine weite verschneite Landschaft oder eine Blumenwiese erscheint. Über die opulenten Kostüme und die großzügige Ausstattung hinaus gibt gerade die modern anmutende Choreografie des Balls der Handlung einen allgemein gültigen Charakter. Der französische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui lässt nicht nur die Hauptfiguren in einen sinnlichen Strudel geraten, der die entbrennende Leidenschaft zwischen Anna und Wronskij versinnbildlicht. Darüber hinaus friert er die Zeit für die beiden Liebenden ein, indem alle anderen Tänzer um sie herum auf der Ballbühne erstarren.
Gelingt es Keira Knightley und Aaron Taylor-Johnson, den Beginn der Leidenschaft zwischen Anna Karenina und Graf Wronskij überzeugend zu inszenieren, so scheinen den Schauspielern kaum über die darstellerischen Fähigkeiten zu verfügen, die aufzehrende Zwanghaftigkeit dieser Beziehung glaubwürdig wiederzugeben. Dafür wirkt insbesondere Aaron Taylor-Johnsons Graf Wronskij einfach zu eindimensional. Demgegenüber gestaltet Jude Law Alexej Karenin ungleich differenzierter. In Laws Darstellung erscheint der Regierungsbeamte nicht bloß als autoritärer Patriarch, der gesellschaftliche Konventionen über die Liebe stellt. Trotz Karenins Unfähigkeit, seine Liebe zu seiner Frau zu zeigen, erahnt der Zuschauer in ihm einen Schmerz, eine Tiefe, die gerade in der hoffnungsvollen Schlusseinstellung deutlich wird.
Inhaltlich besteht die größte Stärke von Wrights „Anna Karenina“ indes darin, die Ehebruch-Haupthandlung mit den eingangs erwähnten zwei Nebenhandlungen um Ehe und Treue zu verknüpfen. Veranschaulicht Dollys Liebe zu ihrem untreuen Mann Oblonski, dass ein Verzeihen möglich ist, so stellt sich die Ehe zwischen Levin und Kitty als Gegenpol zur selbstzerstörerischen Leidenschaft zwischen Wronskij und Anna heraus. „Eine Liebe, die nicht rein ist, ist keine Liebe“, heißt es dann, um diesen Gegensatz zu verdeutlichen.