06 Agosto 2021 - 11:11
Traditionis custodes: Ein Krieg am Rande des Abgrunds
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(Roberto de Mattei, Katholisches – 21 Juli 2021) Die Absicht des Motu proprio Traditionis custodes von Papst Franziskus vom 16. Juli 2021 ist es, jeden Ausdruck der Treue zur traditionellen Liturgie zu unterdrücken. Doch das Ergebnis wird sein, einen Krieg zu entfachen, der unweigerlich mit dem Triumph der Tradition der Kirche endet.
Als Paul VI. am 3. April 1969 den Novus Ordo Missae (NOM) verkündete, war es seine Grundidee, daß die überlieferte Messe in wenigen Jahren nur noch eine Erinnerung sein würde. Die Begegnung der Kirche mit der modernen Welt, die Paul VI. im Namen eines „integralen Humanismus“ erhoffte, sah das Verschwinden aller Hinterlassenschaften der „konstantinischen“ Kirche voraus. Und der überlieferte Römische Ritus, den der heilige Pius V. 1570 nach der protestantischen liturgischen Verwüstung wiederhergestellt hatte, schien dem Untergang geweiht zu sein.
Nie erwies sich jedoch eine Vorhersage als falscher. Heute sind die Priesterseminare ohne Berufungen und die Pfarreien, manchmal von Priestern im Stich gelassen, die ihre Heirat und ihre Rückkehr in das bürgerliche Leben ankündigen, leeren sich. Im Gegensatz dazu sind die Orte, an denen die überlieferte Liturgie gefeiert und der Glaube und die Moral aller Zeiten gepredigt werden, mit Gläubigen gefüllt und Quellen der Berufungen. Die traditionelle Messe wird regelmäßig in 90 Staaten auf allen Kontinenten zelebriert, und die Zahl der Gläubigen, die daran teilnehmen, wächst von Jahr zu Jahr und speist sowohl die Priesterbruderschaft St. Pius X. als auch die Ecclesia-Dei-Institute, die nach 1988 entstanden sind. Das Coronavirus hat zu diesem Wachstum noch beigetragen. Viele Gläubige verlassen nach dem Zwang zur Handkommunion, angewidert von dieser Schändung, ihre Pfarreien, um die heilige Eucharistie an den Orten zu empfangen, an denen sie weiterhin in den Mund gespendet wird.
Diese Bewegung der Seelen entsteht als Reaktion auf die „Formlosigkeit“ der neuen Liturgie, über die Martin Mosebach in seinem Buch Häresie der Formlosigkeit (Karolinger, 2003; Neuausgabe Rowohlt, 2019) treffend geschrieben hat. Wenn progressive Autoren wie Andrea Riccardi von der Gemeinschaft Sant’Egidio das gesellschaftliche Verschwinden der Kirche beklagen (La Chiesa brucia. Crisi e futuro del cristianesimo, Tempi nuovi, 2021), dann ist eine der Ursachen dafür gerade die Unfähigkeit der neuen Liturgie, anziehend zu sein, da sie nicht imstande ist, den Sinn des Heiligen und der Transzendenz auszudrücken. Nur in der absoluten göttlichen Transzendenz kommt Gottes extreme Menschennähe zum Ausdruck, bemerkte Kardinal Ratzinger in dem Buch, das er vor seiner Wahl zum Papst dem Geist der Liturgie widmete (Herder, 2013). Der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, der die Liturgie stets in den Mittelpunkt seiner Interessen gestellt hatte, verkündete, nach seiner Wahl zum Papst Benedikt XVI., am 7. Juli 2007 das Motu proprio Summorum Pontificum, mit dem er dem überlieferten Römischen Ritus (unglücklich als „außerordentliche Form“ bezeichnet) das volle Bürgerrecht zurückgab, der zwar rechtlich nie abgeschafft, aber vierzig Jahre lang faktisch untersagt gewesen war.
Summorum Pontificum hat zur Verbreitung traditioneller Meßorte und zur Blüte einer umfangreichen Sammlung hochwertiger Studien über die alte und die neue Liturgie beigetragen. Mit der Bewegung zur Wiederentdeckung der überlieferten Liturgie durch die Jugend ging eine so reichhaltige Literatur einher, daß sie hier nicht berücksichtigt werden kann. Unter den jüngsten Werken genügt es, an die Schriften von Abbé Claude Barthe: Histoire du missel tridentin et de ses origines (Via Romana, 2016) und La Messe de Vatican II. Dossier historique (Via Romana, 2018) zu erinnern; ebenso an Michael Fiedrowicz: Die überlieferte Messe. Geschichte, Gestalt und Theologie des klassischen römischen Ritus (3. aktualisierte Auflage, Carthusianus, 2014) und von Peter Kwasniewski: Noble Beauty, Transcendent Holiness. Why the Modern Age Needs the Mass of Ages (Angelico, 2017). Auf progressiver Seite wurde keine gleichwertige Studie hervorgebracht.
Auf diese Bewegung der kulturellen und geistlichen Wiedergeburt reagierte Papst Franziskus, indem er die Glaubenskongregation anwies, den Bischöfen einen Fragebogen zur Anwendung des Motu proprio von Benedikt XVI. zu übermitteln. Die Erhebung war soziologisch, aber die Schlußfolgerungen, die Franziskus daraus zog, sind ideologisch. Es bedarf keiner Umfrage, um zu sehen, wie die Kirchen, die von Gläubigen besucht werden, die der liturgischen Tradition verbunden sind, immer voll sind und die ordentlichen Pfarreien sich zunehmend entvölkern. In dem Brief an die Bischöfe, der das Motu proprio vom 16. Juli begleitet, sagt Papst Franziskus aber: „Die eingegangenen Antworten haben eine Situation offenbart, die mich schmerzt und beunruhigt und mir die Notwendigkeit bestätigt, einzugreifen. Leider wurde die pastorale Absicht meiner Vorgänger, die beabsichtigt hatten, ‘alle Anstrengungen zu unternehmen, damit all denen, die wirklich die Einheit wünschen, ermöglicht wird, in dieser Einheit zu bleiben oder sie wiederzufinden‘, oft schwerwiegend mißachtet.“ „Nicht weniger betrübt mich eine instrumentelle Verwendung des Missale Romanum von 1962, die zunehmend durch eine wachsende Ablehnung nicht nur der liturgischen Reform, sondern auch des Zweiten Vatikanischen Konzils gekennzeichnet ist mit der unbegründeten und nicht haltbaren Behauptung, es habe die Tradition und die ‚wahre‘ Kirche verraten.“ Daher „treffe ich den festen Entschluß, alle früheren Normen, Anweisungen, Zugeständnisse und Gebräuche vor diesem Motu proprio aufzuheben“.
Papst Franziskus hielt es nicht für notwendig, wegen der Zerrüttung der Einheit durch die deutschen Bischöfe zu intervenieren, die im Namen des Zweiten Vatikanischen Konzils schon oft der Häresie verfielen, scheint aber überzeugt zu sein, daß die einzige Bedrohung für die Einheit der Kirche von jenen kommt, die zum Zweiten Vaticanum Zweifel geäußert haben, so wie an Amoris laetitia Zweifel aufgeworfen wurden, ohne jemals eine Antwort erhalten zu haben. Daher rührt der Art. 1 des Motu proprio Traditionis custodes, laut dem „die von den Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. in Übereinstimmung mit den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils verkündeten liturgischen Bücher der einzige Ausdruck der lex orandi des Römischen Ritus sind“.
Auf rechtlicher Ebene ist die Aufhebung des freien Rechts des einzelnen Priesters, gemäß den liturgischen Büchern vor der Reform von Paul VI. zu zelebrieren, offensichtlich unrechtmäßig. Summorum Pontificum von Benedikt XVI. bekräftigte, daß der überlieferte Ritus nie außer Kraft gesetzt wurde und jeder Priester das volle Recht hat, ihn überall auf der Welt zu zelebrieren. Traditionis custodes interpretiert dieses Recht als Privileg, das als solches vom Obersten Gesetzgeber wieder entzogen wird. Dieser modus procedendi ist jedoch völlig willkürlich, denn die Rechtmäßigkeit der überlieferten Messe ergibt sich nicht aus einem Privileg, sondern aus der Anerkennung eines subjektiven Rechts der einzelnen Gläubigen, seien es Laien, Kleriker oder Ordensleute. Entsprechend hat Benedikt XVI. nie etwas „gewährt“, sondern lediglich das Recht anerkannt, das „nie abgeschaffte“ Meßbuch zu verwenden und geistlichen Nutzen daraus zu ziehen.
Der Grundsatz, den Summorum Pontificum anerkennt, ist die Unveränderlichkeit der Bulle Quo primum des hl. Pius V. vom 14. Juli 1570. Als bedeutender Kirchenrechtler bemerkt Abbé Raymond Dulac (Le droit de la Messe romaine, Courrier de Rome, 2018), daß Pius V. selbst nichts Neues eingeführt, sondern eine alte Liturgie wiederhergestellt und jedem Priester auf ewig das Privileg eingeräumt hat, sie zu zelebrieren. Kein Papst hat das Recht, einen Ritus, der auf die Apostolische Tradition zurückgeht und sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet hat, wie es für die sogenannte Messe des hl. Pius V. der Fall ist, aufzuheben oder zu ändern, wie der große Liturgiker Msgr. Klaus Gamber in seinem Werk Die Reform der römischen Liturgie. Vorgeschichte und Problematik (Pustet, 1981) bestätigt, dessen französische Ausgabe La Réforme liturgique en question (Editions Sainte-Madeleine, 1992) ein Vorwort von Kardinal Ratzinger enthält.
In diesem Sinne kann das Motu proprio Traditionis custodes als schwerwiegenderer Akt angesehen werden als das nachsynodale Schreiben Amoris laetitia. Nicht nur das: Das Motu proprio hat kirchenrechtliche Anwendungen, die dem nachsynodalen Schreiben fehlen. Während Amoris laetitia jenen den Zugang zur Eucharistie zu gewähren scheint, die kein Recht dazu haben, beraubt Traditionis custodes jene des geistlichen Wohls der Messe aller Zeiten, die ein Recht auf dieses unveräußerliche Gut haben und das sie brauchen, um im Glauben zu verharren.
Zudem ist das ideologische System offensichtlich, das a priori die Gruppen von Gläubigen, die der liturgischen Tradition der Kirche verbunden sind, als Sektierer betrachtet. Von ihnen wird gesprochen, als ob sie Aufrührer wären, die ohne Definition von Beurteilungskriterien unter Beobachtung gestellt werden müssen (vgl. Nr. 1, 5 und 6), deren Vereinigungsrecht eingeschränkt und der Bischof unter Einengung seiner Rechte als Ordinarius (vgl. CIC, can. 321, §2) daran gehindert wird, neue zuzulassen. Die Gläubigengruppen sind bisher spontan entstanden und wurden zu Sprechern für einige Anträge bei den legitimen Autoritäten, aber sie wurden nie „autorisiert“. Die Notwendigkeit zu behaupten, daß die Gründung einer Gruppe autorisiert werden müßte, stellt ein ernstes vulnus (Verletzung) der Vereinigungsfreiheit der Gläubigen dar, die das Zweite Vaticanum befürwortet hat, so wie auch die Bestimmung gegen das Konzil verstößt, die Bischöfe zu bloßen Vollstreckern des päpstlichen Willens macht.
Traditionis custodes bestätigt den Prozeß zur Zentralisierung der Macht von Papst Franziskus im Widerspruch zu seinen ständigen Hinweisen auf die „Synodalität“ in der Kirche. Den Worten nach ist es „ausschließlich“ Sache des Bischofs, die außerordentliche Form in seiner Diözese zu regeln, aber in Wirklichkeit schränkt das Motu proprio (vgl. Art. 4) das Ermessen und die Autonomie des Bischofs ein, wenn es vorsieht, daß seine Genehmigung nicht ausreicht, damit die von einem Diözesanpriester erbetene Messe im überlieferten Ritus zelebriert werden darf, sondern in jedem Fall die Zustimmung des Apostolischen Stuhls eingeholt werden muß. Das bedeutet, daß der Bischof diese Ermächtigung (die nie als Befugnis definiert wird, daher eher ein Privileg zu sein scheint) nicht eigenständig erteilen kann, sondern seine Entscheidung noch von den „Vorgesetzten“ überprüft werden muß. Wie Pater Raymond de Souza bemerkt:
„Die großzügigen Vorschriften sind verboten, die restriktiven werden ermutigt“.
Das Ziel ist klar: die Präsenz des überlieferten Ritus mit der Zeit zu beseitigen, um den Novus Ordo von Paul VI. als einzigen Ritus der Kirche durchzusetzen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine geduldige Umerziehung der Widerspenstigen notwendig. Daher, wie man im Brief an die Bischöfe lesen kann, sind „die Anweisungen zum Vorgehen in den Diözesen hauptsächlich von zwei Grundsätzen diktiert: einerseits für das Wohl derer zu sorgen, die in der früheren Zelebrationsform (gemeint ist der überlieferte Römische Ritus, Anm. d. Autors) verwurzelt sind und Zeit brauchen, um zum Römischen Ritus zurückzukehren, der von den Heiligen Paul VI. und Johannes Paul II. (der neue Römische Ritus oder Novus Ordo Missae, Anm. d. Autors) verkündet wurde; andererseits die Errichtung neuer Personalpfarreien abzubrechen, die mehr mit dem Wunsch und Willen einzelner Priester verbunden sind als mit der wirklichen Not des ‚heiligen treuen Volkes Gottes‘.“
Tim Stanley liegt nicht falsch, wenn er im Spectator vom 17. Juli von einem „erbarmungslosen Krieg“ gegen den alten Ritus (The Pope’s merciless war against the Old Rite) spricht. Benedikt XVI. hat mit Summorum Pontificum öffentlich die Existenz einer unveränderlichen lex orandi der Kirche anerkannt, die kein Papst jemals aufheben kann. Franziskus hingegen äußert seine Ablehnung der traditionellen lex orandi und implizit auch der lex credendi, die der überlieferte Ritus zum Ausdruck bringt. Der Frieden, der mit dem Motu proprio von Benedikt XVI. in der Kirche zu sichern versucht wurde, ist zu Ende, und Joseph Ratzinger ist acht Jahre nach seinem Rücktritt vom Pontifikat dazu verurteilt, wie im Epilog einer griechischen Tragödie Zeuge des Krieges zu werden, den sein Nachfolger entfesselt hat.
Der Kampf findet am Rande des Abgrunds zum Schisma statt. Papst Franziskus will seine Kritiker hineinstürzen, indem er sie drängt, wenn nicht dem Prinzip nach, so doch faktisch, eine ihm entgegengesetzte „wahre Kirche“ zu konstituieren, aber er riskiert selbst, in den Abgrund zu versinken, wenn er darauf beharrt, die Kirche des Konzils jener der Tradition entgegenzusetzen. Das Motu proprio Traditionis custodes ist ein Schritt in diese Richtung. Wie könnte man die Bosheit und Heuchelei jener übersehen, die die Tradition zerstören wollen, indem sie sich „Hüter der Tradition“ nennen? Und wie könnte man übersehen, daß dies gerade zu einer Zeit geschieht, in der Häresien und Irrtümer aller Art die Kirche verwüsten?
Wenn Gewalt die unrechtmäßige Anwendung von Macht ist, dann ist das Motu proprio von Papst Franziskus ein objektiv gewalttätiger Akt, weil anmaßend und mißbräuchlich. Wer jedoch der Illegitimität der Gewalt mit illegitimen Formen des Widerspruchs begegnen wollte, läge falsch.
Der einzige legitime Widerstand ist der jener, die das Kirchenrecht nicht ignorieren und fest an die Sichtbarkeit der Kirche glauben; jener, die dem Protestantismus nicht nachgeben und nicht den Anspruch erheben, sich zum Papst gegen den Papst zu machen; jener, die ihre Sprache mäßigen und die ungeordneten Leidenschaften unterdrücken, die zu überstürzten Schritten führen können; jener, die nicht apokalyptischen Phantasien verfallen und im Sturm ein sicheres Gleichgewicht halten; schließlich jener, die alles auf das Gebet gründen in der Überzeugung, daß nur Jesus Christus und niemand sonst seine Kirche retten wird.