Leben mit Alzheimer: Wie ein Abschied vom Ich
Morbus Alzheimer gilt als Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts. Bringen neue Medikamente und alternative Behandlungsmethoden jetzt die Wende?
Klaus Höfler
27. August 2021, 14:00
Betroffene können die Krankheit mit einem "Fassadenverhalten" lange geheim halten.
Foto: Getty Images / Frank Rothe
Es beginnt im Kleinen. Fast unbemerkt. Ein Wort, das ihm nicht einfällt. Ein Gesicht, das er nicht erkennt. Ein Gegenstand, dem er keinen Namen zuordnen kann. "Die Krankheit des Vaters fing auf so verwirrende Weise langsam an, dass es schwierig war, den Veränderungen die richtige Bedeutung beizumessen", beschreibt es der Schriftsteller Arno Geiger in seinem Buch Der König in seinem Exil, in dem er die Alzheimer-Erkrankung seines Vaters zum Thema macht.
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Eine Krankheit, die vom deutschen Arzt Alois Alzheimer Anfang des 20. Jahrhunderts pionierhaft erforscht wurde und mittlerweile als "Volkskrankheit" der Gegenwart gilt. Sie ist für 60 bis 80 Prozent der Demenzerkrankungen verantwortlich.
Als chronische Alterskrankheit hat das auch demografische Gründe. So leiden heute in Österreich bis zu 80.000 Menschen unter Alzheimer. 2050 könnten es aufgrund der Überalterung laut Österreichischer Alzheimer-Gesellschaft 100.000 mehr sein. Weltweit zählt die Weltgesundheitsorganisation schon jetzt rund 50 Millionen Betroffene. Diese Zahl könnte in den nächsten 30 Jahren auf mehr als 150 Millionen steigen.
Trotz wachsender Inzidenzzahlen bleibt es für die Wissenschaft ein verschleiertes Phänomen. "Die Krankheit zog ihr Netz über ihn, bedächtig, unauffällig. Der Vater war schon tief darin verstrickt, ohne dass wir es merkten." Arno Geigers bildhafte Beschreibung verdeutlicht, dass sich Morbus Alzheimer auf leisen Sohlen und lange Zeit unbemerkt ins Leben schleicht. Bis zu 20 Jahre kann es vom Ausbruch der Krankheit bis zu ersten Symptomen dauern.
"Nervenzelle 0" identifiziert
Morbus Alzheimer schleicht auf leisen Sohlen und lange Zeit unbemerkt ins Leben der Betroffenen.
Foto: Getty Images / Linda Raymond
Noch ist es aber nicht gelungen, den Wurzeln von Alzheimer auf die Spur zu kommen, wiewohl man ihnen Anfang dieses Jahres an der Universität Bremen einen bedeutenden Schritt nähergekommen sein will. In Fadenwürmern wurden die entscheidenden Nervenzellen gefunden, in denen die Krankheit beginnt.
Die Tiere sind auf molekularer Ebene identisch zum Menschen und transparent, weshalb interne Vorgänge durch Fluoreszenz-Farbstoffe sichtbar gemacht werden können, erklärt Janine Kirstein, Universitätsprofessorin für Zellbiologie an der Uni Bremen. So hat sie nachgewiesen, in welchen Zellen die für Alzheimer typische Verklumpung von fehlgefalteten Proteinen zuerst auftritt.
Ein Glaubenskrieg
Denn zumindest so viel ist klar: Diese Klumpen bilden das Fundament der Krankheit. Es handelt sich dabei einerseits um Plaques des Proteinfragments Beta-Amyloid, die sich im Hirngewebe ablagern, andererseits um Tau-Proteine, die normalerweise das Zellskelett stabilisieren, es aber auflösen und sich zwischen den Nervenzellen ansammeln.
Die Ausbreitung verläuft kaskadenhaft. Warum die Systeme versagen, die für den Abtransport dieser abnormalen Proteine zuständig sind, weiß man noch nicht. Selbst welche wie stark wirken, ist wissenschaftlich umstritten und teilt die Scientific Community – einem Glaubenskrieg gleich – in "Betaisten" und "Tauisten".
Neues Medikament in USA zugelassen
Die Fronten verlaufen auch in Sachen Therapie quer durch die ärztliche Community. So hat die US-Gesundheitsbehörde FDA mit Aducanumab der Biotech-Firma Biogen erstmals seit 18 Jahren im Juni wieder ein neues Medikament gegen die Alzheimer-Krankheit zugelassen. Das, obwohl sich zehn von elf Beratern in der Kommission dagegen aussprachen.
"Es ist, als würde man mit einer Schrotflinte auf eine Scheune schießen und dann eine Zielscheibe um die Einschusslöcher malen", formulierte Scott Emerson, Biostatistiker der University of Washington und Mitglied des Gremiums, seine Ablehnung. Tatsächlich verlief der Weg durch die klinischen Studien des als Impfung verabreichten Wirkstoffs, der erstmals eine mutmaßliche Ursache – nämlich die schädlichen Amyloid-Beta-Plaques – und nicht nur die Symptome der Krankheit bekämpfen soll, holprig und war von mehreren Abbrüchen geprägt. Biogen wurde zu Nachstudien verpflichtet. Die europäische Zulassungsbehörde EMA wartet noch ab.
Auch an der Tau-Front gibt es Neues: Mitte Juni meldete Biogen-Konkurrent Axon den erfolgreichen Abschluss von Phase-2-Studien eines Impfstoffs "mit dem Potenzial, das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit aufzuhalten". Als Alleinstellungsmerkmal wird angegeben, dass nur pathologische Tau-Proteine angegriffen werden und intakte gesund bleiben, was die Behandlung wirksamer und sicherer mache.
Wiener Innovation: Ultraschall gegen Alzheimer
Am Institut für Neurologie der Medizinischen Universität Wien hat ein Forscherteam um Roland Beisteiner indes eine Therapiemethode entwickelt, die auf eine Pulsstimulation mit Ultraschall statt auf Medikamente setzt. Zunächst wird mittels Magnetresonanz eine exakte "Landkarte" des Gehirns erstellt, dann werden die betreffenden Hirnareale mit einem Ultraschallpuls direkt am Schädelknochen nichtinvasiv, schmerzfrei und bei vollem Bewusstsein punktgenau angesteuert und aktiviert. Die Gedächtnisleistung steigt.
"Es ist, als ob man einen alten Motor wieder anwirft. Jene Nervenzellen, die noch aktivierbar sind, zeigen danach deutliche Verbesserungen, der Leistungsabfall wird gebremst", erklärt Beisteiner. Gleichzeitig sei es eine "Zusatzchance" für die Betroffenen, da alle laufenden Therapien mit Medikamenten sowie Physio- oder Ergotherapie weitergeführt werden können.
Messungen am Tablet und im Auge
Tatsächlich bleibt es bei Diagnose und Behandlung bei einem umfangreichen Maßnahmenmix, um die Symptome zu lindern. Die Möglichkeiten der Früherkennung sind schwierig. Um Anzeichen oder das Stadium der Krankheit festzustellen, werden mit neuen Scannern Amyloid-Konzentrationen gemessen, Bluttests erprobt und Untersuchungen von Nervenwasser im Gehirn und der Nervenfasern und Blutgefäße auf der Netzhaut des Auges vorgenommen.
Dazu kommen neuropathologische Tests zum Einsatz, die Sprache, Orientierungsfähigkeit und Feinmotorik kontrollieren und kognitive Störungen feststellen. An der Universität Tübingen setzt man dabei auf einen Baumzeichentest auf Tablets. Elektronisch erfasst werden die Bewegungen des Stifts, die Proportionen und die Anzahl der ausgewählten Farben. Je weiter fortgeschritten die Krankheit ist, desto einfacher, kleiner und weniger bunt werden die Bäume.
Alzheimer raubt den Betroffenen ihre Erinnerungen und ihre Emotionen. Das Gestern erlischt zusehends, das Heute wird zu einer fremden Welt.
Foto: Getty Images / iStock / Elica_S
Das Problem: Vor allem Betroffene mit hohem Bildungsstand können die gehirndegenerierende Krankheit mit einem sogenannten Fassadenverhalten lange und gut verstecken, sagt Andreas Walter, der als Facharzt für Psychiatrie und Neurologie nicht nur die Stabsstelle Psychiatrie der Pflege Donaustadt leitet, sondern auch eine eigene Praxis führt.
Aufhalten können die Betroffenen den Verlust intellektueller Fähigkeiten zwar nicht, verlangsamen unter Umständen aber schon. Walter setzt diesbezüglich neben klassischen Mitteln wie Cholinesterasehemmern und Memantin auch auf alternative Arzneimittel mit Ginkgo. Hochdosiert kann der pflanzliche Extrakt laut Studien die Gedächtnisleistung verbessern.
Schleichender Verfall
Am Ende gleicht es aber einer Geiselnahme, weil Alzheimer den Betroffenen ihre Erinnerungen und ihre Emotionen raubt. Das Gestern erlischt zusehends, das Heute wird zu einer fremden Welt. Es ist ein unumkehrbarer Abschied vom Ich.
Auch Arno Geiger beobachtete diese stufenweise Degeneration an seinem Vater: "Wir dachten, seine Defizite kämen vom Nichtstun. Dabei war es umgekehrt, das Nichtstun kam von den Defiziten. Am Ende wuchsen ihm auch kleinere Aufgaben über den Kopf, und er merkte, dass er die Kontrolle verlor." (Klaus Höfler, CURE, 27.8.2021)
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