"Die russische Armee ist ein Gefängnis"
07.04.2022, 09:54 Uhr
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Russische Soldaten während einer Siegesparade zum Zweiten Weltkrieg. In Russland genießt die Armee hohes Ansehen, doch der Einzelne zählt wenig.
Das Massaker von Butscha schockiert, doch Experten wie der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski sind weniger überrascht. Im Interview erklärt er, welche Probleme der russischen Armee zu solchen Gräueltaten beitragen. Der Professor der Berliner Humboldt-Uni gehört zu den besten Kennern der Materie. Er ist einer der führenden Experten für Stalinismus. Seine Studie "Verbrannte Erde" wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Die Bundeszentrale für politische Bildung verlegt seine Schrift "Der Rote Terror".
ntv.de: Was wir in Butscha gesehen haben, erinnert an Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg. Wie kann so etwas in Europa im 21. Jahrhundert möglich sein?
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Politik 04.04.22
Gräueltaten der russischen Armee Der Schmerz von Butscha
Jörg Baberowski: Wir vergessen, dass es im 21. Jahrhundert Kriege in Syrien, in Libyen und anderen Teilen der Welt gegeben hat, und Millionen Menschen Opfer entsetzlicher Gräueltaten wurden. Warum soll das etwas anderes sein? Wir haben verdrängt, dass es in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen Krieg in Jugoslawien gab, "ethnische Säuberungen", Vergewaltigungen und Massaker. Nicht umsonst ist der Fall Srebrenica nun im Zusammenhang mit den Morden in Butscha ins Spiel gebracht worden. Zu Recht. Es sind offenkundig wiederkehrende Muster von Kriegführung, die sich immer dann zeigen, wenn Armeen nicht siegen können, wenn ihre Soldaten frustriert sind. Das ist eigentlich nichts Neues. Eine deprimierende Erkenntnis, zweifellos, aber es ist ein stets wiederkehrendes Muster, das sich in allen Kriegen findet. Wir, die wir im Frieden leben, glauben an den Zivilisationsprozess, halten die Wiederkehr der Gräuel für unmöglich. Und dennoch kommen sie immer wieder, in Afrika ebenso wie in Europa. Der Krieg gehört zur Conditio humana. Und wo es Krieg gibt, muss mit der Möglichkeit des Massakers stets gerechnet werden.
Auch westliche Armeen begehen folgenschwere Fehler, wie etwa Bombardements von Zivilisten, aber sie begehen nicht solche Massaker, jedenfalls nicht in der jüngeren Vergangenheit.
Es scheint belegt zu sein, dass russische Soldaten für dieses Massaker die Verantwortung tragen, wenngleich die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind. Aber wir wissen nicht, ob es einen zentralen Befehl gab, diese Menschen zu töten, oder ob das Massaker von den Soldaten aus eigenem Antrieb verübt wurde. Es ist wahr, dass in den Armeen der demokratischen Staaten solche Massaker jetzt nicht denkbar wären. Aber wer weiß eigentlich noch vom Terrorregime der Franzosen in Algerien, von den Massakern der US-Armee in Vietnam oder vom Foltergefängnis in Abu-Graib? In Abu Graib hat es der amerikanische Staat privaten Unternehmern überlassen, ein Gefängnis zu überwachen und weggeschaut, als sich dort schlimme Exzesse zutrugen. Wo man den Raum öffnet für die Gewalt, und wo Soldaten das Gefühl haben, es sei erlaubt, was sie tun, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu Gräueltaten kommt. Davor sind auch Armeen demokratischer Staaten nicht geschützt.
Welche Rolle könnte es gespielt haben, dass für die russischen Soldaten in dem Ort keine Regeln galten?
Die Soldaten wurden nur unzureichend verpflegt, hatten keine Unterkunft und mussten sich dem Beschuss der ukrainischen Armee aussetzen. Die Soldaten ernährten sich nicht nur aus dem Dorf, sondern beraubten und vergewaltigten auch seine Bewohner. Die militärische Disziplin ließ sich unter diesen Umständen offenbar nicht mehr erzwingen. Nach allem, was wir wissen, sind auch tschetschenische Söldner in diesem Ort gewesen, die für ihre Brutalität gefürchtet werden. Aber wir wissen nicht, ob es einen Befehl gegeben hat, zu plündern und Bewohner des Dorfes zu töten.
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Warum werden die Tschetschenen so gefürchtet?
Weil die tschetschenischen Regimenter paramilitärische Einheiten sind, die nicht zur russischen Armee gehören, ihre Kämpfer Söldner, die für Geld töten. Die tschetschenischen Kämpfer haben einen klaren Auftrag: Sie sollen Orte erobern und in ihnen Furcht und Schrecken verbreiten. Die russischen Soldaten hingegen waren auf den Krieg überhaupt nicht vorbereitet, man hat ihnen nicht einmal gesagt, dass sie in die Ukraine ziehen würden. Ihre Gewalt folgt deshalb einer Logik, die sich aus dem unmittelbaren Kampfgeschehen ergibt. Es wäre interessant zu erfahren, welche Rolle diese unterschiedlichen Einheiten bei der Entfaltung des Massakers gespielt haben.
Für Sie als Stalin-Experten - erinnert Sie das Massaker in Butscha an dessen Terror-Regime?
Es erinnert mich weniger an den Stalinismus als an die Kultur der Gewalt, die in den russischen Streitkräften weit verbreitet ist. An die Rücksichtslosigkeit, mit der Menschen und Material geopfert werden, an die völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der eigenen Soldaten. Erschütternd ist der Glaube daran, dass sich diese Unmenschlichkeit am Ende auszahlen wird.
Hat sich da in den vergangenen 80 Jahren nichts geändert?
Eigentlich nicht. Die Kriege in Tschetschenien verliefen nach dem gleichen Muster. Am Ende hat die russische Armee die Hauptstadt Grosny dem Erdboden gleichgemacht, es kam zu Vergewaltigungen, Massakern und Misshandlungen. Die Gewalt speist sich aus der eigenen Erniedrigung. Soldaten, die gedemütigt werden, geraten in Versuchung, ihre eigenen Erfahrungen so zu verarbeiten, dass sie andere Menschen demütigen. Das ist leider ein Kontinuum in der russischen Gewaltgeschichte. Die russische Armee ist ein Gefängnis. Mich wundert es nicht, dass es zu solcher Verrohung kommt.
Inwiefern ist Putin in den Fußstapfen Stalins unterwegs?
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Gar nicht. Stalins Herrschaft war eine Diktatur totalitären Ausmaßes, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. Allein in den Jahren 1937 und 1938 wurden 680.000 Menschen erschossen, Hunderttausende befanden sich in Straflagern, wurden deportiert oder verhungerten. Das hat eine ganz andere Dimension als die autoritäre Herrschaft Putins, die Widerspruch unterdrückt, aber nicht auf Terror zurückgreift.
Wie kann es sein, dass Stalin heute in Russland immer noch hohes Ansehen genießt?
Es gibt in Russland keine Aufklärung über die Stalin-Ära. In der Sowjetunion wurden Stalins Verbrechen totgeschwiegen. Auch später war das kein Thema. Heute preisen die meisten Russen Stalin nicht wegen seiner Grausamkeit, sondern wegen des Sieges im Zweiten Weltkrieg und weil er der Schöpfer und Bewahrer eines großen Imperiums war. Wenn man das verstanden hat, dann versteht man vielleicht auch, warum ein Tyrann wie Stalin im heutigen Russland in solch hohem Ansehen steht.
Was halten Sie als Historiker von Putins Betätigung als Historiker?
Ach, warum nimmt man das überhaupt ernst? Putin hat sich nicht als Historiker betätigt, sondern als Politiker, der seine imperialen Ansprüche historisch legitimiert. Man mag vieles von dem, was er sagt, für absurd halten, so zum Beispiel seine Behauptung, die Ukraine sei keine Nation. Aber als Historiker muss ich dennoch fragen: Warum macht er das? Er beruft sich auf die Geschichte, wie er sie versteht, weil das in großen Teilen der russischen Bevölkerung populär ist. Putin ist kein Historiker, der Quellen studiert, sondern ein Politiker, der weiß, wie man von der Geschichte einen machtstrategischen Gebrauch macht. Als 2014 die Krim okkupiert wurde, hat er es genauso gehalten, und die meisten Russen waren begeistert. Heute jubeln sie nicht mehr, weil auch sie diesen Krieg offenbar mit gemischten Gefühlen betrachten. Ich höre von meinen russischen Freunden, dass es in Moskau und Petersburg still ist. Es ist alles anders als 2014.
Kann Putin über diesen Krieg stürzen?
Wenn er den Krieg verliert, dann wird ihm auch in den eigenen Reihen die Rechnung präsentiert werden. Bislang ist es so, dass die Gefolgsleute sich um ihn scharen, weil auch sie stürzen würden, wenn Putin stürzt. Weil sie sich an Verbrechen beteiligt, weil sie Geld genommen haben, weil sie korrupt sind. Die Krise arbeitet also für den Machthaber. Wenn er diesen Krieg wirklich verliert, werden selbst die Freunde versuchen, das sinkende Schiff zu verlassen. Aber noch ist der Krieg für ihn nicht verloren. Wenn er am Ende den Donbass und die Krim behält, dann kann er das zu Hause als Sieg verkaufen.
Gibt es eine Perspektive, dass auch Russland sich noch demokratisiert und liberalisiert und auf einem gemeinsamen Wertefundament mit Europa steht?
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Stehen die Länder der EU wirklich auf einem gemeinsamen Wertefundament? Was ist denn mit den Kaczynskis und den Orbáns dieser Welt? Demokratie heißt, dass gilt, was mehrheitlich entschieden worden ist, aber deshalb sind Demokratien noch keine liberalen Ordnungen. Wähler können einer illiberalen Ordnung an der Wahlurne den Vorzug geben. Die Ukraine wird nach diesem Krieg ein anderes Land sein, möglicherweise demokratisch, aber auch liberal? Ich habe Zweifel. Auch in Russland könnte es nach freien Wahlen schlimmer kommen als es jetzt schon ist. Ich wünsche mir, dass Russland anders wird. Im liberalen, aufgeklärten Milieu in Moskau und Petersburg sieht man, was Russland auch sein könnte. Aber gilt das auch für den Rest des Landes? Daran glaube ich nicht.
Mit Jörg Baberowski sprach Volker Petersen