Russlands Großangriff auf die Ostukraine hat begonnen – „Es ist die Hölle“
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Die russischen Truppen haben mit dem erwarteten Angriff in der Ostukraine begonnen. In der Nähe von Luhansk konnten sie zwei kleine Orte einnehmen. Pünktlich liefern die USA nun jedoch neue schwere Waffen an Kiew. Ein Überblick.
Drohnenfoto: Rauch steigt über dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf Quelle: via REUTERS© via REUTERS Drohnenfoto: Rauch steigt über dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf Quelle: via REUTERS
Explosionen entlang der gesamten östlichen Front erschütterten die Ukraine in der Nacht zum Dienstag. Ukrainische Medien berichten über eine Reihe von zum Teil heftigen Bombardierungen in der östlichen Region Donezk und über Beschuss in Marinka, Slawjansk und Kramatorsk. Auch in Charkiw im Nordosten der Ukraine, in Mykolaiw im Süden und in Saporischschja im Südosten hat es demnach Explosionen gegeben. In vielen Städten und Orten heulten Luftschutzsirenen.
Die russischen Invasoren griffen auf einer Länge von über 480 Kilometer Länge an, so die Verteidiger. Damit sei nun „die zweite Phase des Kriegs“ eingeleitet, erklärte der ukrainische Präsidentenberater Andrij Jermak. „Die Besetzer versuchen unsere Verteidigung zu durchbrechen. Zum Glück hält unser Militär stand“, sagte der Sekretär des nationalen Sicherheitsrats der Ukraine Oleksij Danilow. „Sie haben nur zwei Städte passiert – Kreminna und einen anderen kleinen Ort.“
Bereits zuvor hatte der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, im Onlinenetzwerk Facebook erklärt: „Es ist die Hölle. Die Offensive, von der wir seit Wochen sprechen, hat begonnen.“ Es gebe Kämpfe in Rubischne und Popasna und „unaufhörlich Kämpfe“ in anderen bis dahin friedlichen Städten.
Auch dem Gouverneur zufolge wurde die Kleinstadt Kreminna von der russischen Armee eingenommen. Haidai sagte, Kreminna sei in der Nacht zum Dienstag unter schweres Artilleriefeuer gekommen. Sieben Gebäude seien dabei in Flammen aufgegangen, und auch der Olympia-Komplex, in dem die ukrainischen Sportler früher trainiert hatten, sei unter Beschuss geraten.
Die Russen hätten den Ort erobert, nachdem sie „alles eingeebnet“ hätten, sagte Haidai im ukrainischen Fernsehen. Es sei sinnlos gewesen, dort zu verbleiben und möglicherweise zu sterben, ohne dem Feind erheblichen Schaden zuzufügen, erklärte er. Seine Leute hätten sich daher zurückgezogen und neu formiert, um weiterzukämpfen.
Bei dem Versuch, aus Kreminna zu fliehen, wurden laut Hajdaj vier Zivilisten von russischen Soldaten getötet. Vier weitere Zivilisten seien rund 20 Kilometer östlich von Kreminna in der Region Donezk getötet worden, teilte der dortige Gouverneur Pawlo Kyrylenko auf Telegram mit.
Kremmina liegt rund 50 Kilometer nordöstlich von Kramatorsk, der Hauptstadt der ukrainisch-kontrollierten Gebiete des Donbass. Andere Teile der Region werden bereits seit 2014 von pro-russischen Separatisten beherrscht. Die Eroberung weiterer Teile des Donbass würde es Russland ermöglichen, einen südlichen Korridor zu der 2014 annektierten Krim-Halbinsel herzustellen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte bereits am Montagabend gesagt, dass Russland den erwarteten großen Angriff auf den Osten der Ukraine gestartet habe. Er sagte in einer Videoansprache am Montagabend: „Wir können jetzt sagen, dass die russischen Truppen die Schlacht um den Donbass begonnen haben, auf die sie sich so lange vorbereitet haben.“
Ein großer Teil des gesamten russischen Heeres sei an dieser Offensive beteiligt. „Egal wie viele russische Truppen dorthin gebracht werden, wir werden kämpfen. Wir werden uns verteidigen. Wir werden das jeden Tag tun.“
Dem US-Verteidigungsministerium zufolge hat die russische Armee in den vergangenen Tagen mehr als zehn sogenannte taktische Kampfverbände in die Region verlegt. Dies sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, John Kirby, am Montag in Washington.
Kirby sprach zugleich von „chronischen Schwierigkeiten“ der russischen Truppen in den Bereichen Logistik, Kommunikation, operative Manöver sowie in der Zusammenarbeit von Luft- und Bodentruppen. „Es bleibt abzuwarten, ob sie diese Probleme in den Griff bekommen haben und nun in der Lage sind, im Donbass effizienter zu agieren“, so der Pentagon-Sprecher.
In Mariupol haben unterdessen russische Truppen nach ukrainischen Angaben damit begonnen, die letzte große Bastion der verteidigenden Einheiten der Stadt mit bunkerbrechenden Waffen zu beschießen. Der Kommandeur des Asow-Regiments der Nationalgarde, Denys Prokopenko, sagte in einer Videobotschaft, die Russen setzten die schweren Waffen ein, obwohl sie wüssten, dass auch viele Zivilisten Schutz in dem weitläufigen Gelände des Asow-Stahlwerks gesucht hätten.
Russland schätzt, dass sich in dem Werksgelände 2500 ukrainische Soldaten und rund 400 ausländische Kämpfer verschanzt haben. Die Verteidiger haben ein russisches Ultimatum, sich zu ergeben, verstreichen lassen. In den Tunneln des Werks haben nach ukrainischen Angaben auch viele Zivilisten Schutz gesucht, da nach nunmehr fast siebenwöchiger Belagerung große Teile Mariupols in Trümmern liegen.
Über Fluchtkorridore können sie derzeit nicht die Stadt verlassen. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk sagte, die russische Weigerung, sichere Fluchtwege zu öffnen, könne Kriegsverbrecherprozesse begründen. Russland erklärt hingegen, „Neonazi-Nationalisten“ auf ukrainischer Seite erschwerten Evakuierungen.
Quelle: Infografik WELT© Infografik WELT Quelle: Infografik WELT
Auch die ukrainische Hauptstadt Kiew ist nach Einschätzung von Bürgermeister Vitali Klitschko weiterhin von russischen Angriffen bedroht. „Kiew war und bleibt ein Ziel des Aggressors“, teilte Klitschko am Montagabend per Telegram mit. Er rate den geflohenen Einwohnern der Metropole dringend, lieber an einem sichereren Ort zu bleiben.
„Aufgrund der militärischen Daten und der jüngsten Entwicklungen können wir nicht ausschließen, dass Kiew weiterhin von Raketenangriffen bedroht ist“, meinte Klitschko. Auf einige Bezirke seien zuletzt Raketen abgefeuert worden. „Daher können wir die Sicherheit in der Stadt nicht garantieren.“ Es gebe weiterhin viele Kontrollpunkte in Kiew und auch eine nächtliche Ausgangssperre.
Feuerwehrleute löschen mehrere Brände nach einem russischen Angriff in Charkiw Quelle: dpa/Felipe Dana© dpa/Felipe Dana Feuerwehrleute löschen mehrere Brände nach einem russischen Angriff in Charkiw Quelle: dpa/Felipe Dana
Beim Beschuss der ostukrainischen Großstadt Charkiw sind ukrainischen Angaben zufolge 3 Menschen getötet und 15 verletzt worden, darunter ein 14 Jahre altes Kind. „Die Granaten fielen direkt vor Häuser, auf Kinderspielplätze und in die Nähe von humanitären Hilfsstellen“, teilte der Gouverneur des Gebiets, Oleh Synjehubow, am Montagabend mit. Er warf der russischen Armee einen Angriff auf Zivilisten vor. Ärzte und Rettungskräfte seien rund um die Uhr im Einsatz, um die Folgen des Beschusses zu beseitigen, hieß es.
Von unabhängiger Seite ließen sich die Angaben zunächst nicht prüfen. Russland führt seit über sieben Wochen einen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Auch aus der südukrainischen Stadt Mykolajiw wurden am Abend mutmaßliche Raketeneinschläge gemeldet. „In Mykolajiw kam es zu mehreren Explosionen. Wir sind dabei, die Situation zu untersuchen“, teilte Bürgermeister Olexander Senkewytsch mit.
Karte Flucht Ukraine. 18.4.22 Quelle: Infografik WELT/Beate Nowak© Infografik WELT/Beate Nowak Karte Flucht Ukraine. 18.4.22 Quelle: Infografik WELT/Beate Nowak
Unterdessen sind die ersten Waffenlieferungen aus dem neuen militärischen Hilfspaket der USA für die Ukraine an den Grenzen des Landes eingetroffen. Vier Flugzeuge hätten am Sonntag militärisches Gerät für die Ukraine angeliefert, teilte am Montag ein hochrangiger Vertreter des US-Verteidigungsministeriums mit, der nicht namentlich zitiert werden wollte. Ein fünfter Flug werde in Kürze folgen.
Das Weiße Haus hatte die neuen Militärhilfen im Volumen von 800 Millionen Dollar (rund 737 Millionen Euro) für den Kampf der ukrainischen Streitkräfte gegen die russischen Invasionstruppen am Mittwoch angekündigt. Zu dem neuen Hilfspaket gehören 18 155-Millimeter-Haubitzen, 200 gepanzerte Personentransporter vom Typ M113, elf Mi-17-Hubschrauber, 100 weitere Panzerfahrzeuge sowie Artilleriemunition.
Pentagon-Sprecher John Kirby sagte, an der Ostflanke der Nato stationierte US-Soldaten sollten „in den nächsten paar Tagen“ damit beginnen, ukrainische Militärs im Gebrauch der 155-Millimeter-Haubitzen auszubilden. Diese Waffen liefern die USA das erste Mal an die Ukraine. Bei den 155-Millimeter-Haubitzen handelt es sich um die modernste Version dieser Waffenart.
Das Weiße Haus teilte unterdessen mit, dass US-Präsident Joe Biden nicht vorhabe, in die Ukraine zu reisen. Es gebe keine derartigen Pläne, bekräftigte Bidens Sprecherin Jen Psaki. Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj hatte am Sonntag im Interview mit dem US-Fernsehsender CNN die Erwartung geäußert, dass der US-Präsident sein Land besuchen werde.
Die US-Regierung will stattdessen laut eigener Ankündigung einen anderen hochrangigen Vertreter in die Ukraine entsenden. Dabei dürfte es sich um Außenminister Antony Blinken oder Verteidigungsminister Lloyd Austin handeln.
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