Der Antislawismus lebt Der deutsche Blick nach Osten ist kolonial geprägt
Von Thomas Dudek 16.04.2022, 19:20 Uhr
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Der Krieg in der Ukraine beschäftigt nun seit über sieben Wochen die deutsche Öffentlichkeit. Neben Fassungslosigkeit und Teilnahme offenbart er ein anderes, in der deutschen Gesellschaft verankertes Phänomen: eine Unwissenheit über das östliche Europa, die fast schon rassistische Züge trägt.
Für die Ukraine ist es die achte Kriegswoche. Für die Ukrainer bedeutet dies bald acht Wochen Tod, Flucht, Vergewaltigung und Zerstörung ihrer Städte. Doch in Deutschland kannte man in der vergangenen Woche vor allem ein Thema: den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der eine gemeinsame Reise mit den Staatspräsidenten von Polen, Litauen, Lettland und Estland kurzfristig absagen musste. Angeblich, weil dieser in Kiew wegen seiner Russlandpolitik der vergangenen zwanzig Jahre unerwünscht war.
Ob dies eine kluge Entscheidung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi war, falls sie überhaupt so gefallen ist, sei dahingestellt. Irritierend und teils auch verräterisch waren allerdings einige der Reaktionen auf die Ausladung. So erinnerte FDP-Vize Wolfgang Kubicki im ntv-Interview daran, dass Deutschland in Europa das Land sei, das der Ukraine zumindest finanziell die meiste Hilfe leistet. Andere warfen den Präsidenten Polens und der drei baltischen Staaten mangelnde Solidarität mit Steinmeier vor, weil sie trotz dessen Ausladung nach Kiew gereist waren - als bräuchte ein brüskierter Bundespräsident mehr seelische Unterstützung als die von Russland angegriffenen Ukrainer, die Opfer der Kriegsverbrechen von Putins Soldateska werden.
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Gerade bei diesem Vorwurf fiel ein wichtiger Punkt unter den Tisch: Bei seiner Russlandpolitik hat Deutschland in den vergangenen zwanzig Jahren selbst jegliche Solidarität mit den polnischen und baltischen Partnern vermissen lassen und zog sein Ding einfach durch. Symbolisch dafür ist die Gaspipeline Nord Stream 2, dessen Startschuss nach der Annexion der Krim und der russischen Unterstützung für die Separatisten in der Ostukraine erfolgte. Für die Bedenken, Warnungen und selbst die Sorgen der Ostmitteleuropäer um die eigene Energiesicherheit zeigte sich das politische Berlin blind. Allen voran Frank-Walter Steinmeier, einer der Hauptarchitekten der im Desaster geendeten deutschen Russlandpolitik.
Arroganz gegen Osteuropa
Diese Vergesslichkeit offenbart eine deutsche Arroganz gegenüber Osteuropa, die gespeist ist von Unwissenheit über die Region, Überheblichkeit und, ja, auch von Vorurteilen gegen die Völker östlich der Oder. Das ist die Haltung, die hinter Vorschlägen an die Ukraine stehen, sich doch einfach zu ergeben, hinter den Verweisen auf "berechtigte Sicherheitsinteressen Russlands", hinter der Ermahnung, es gebe keine Sicherheit in Europa gegen Russland, hinter der Erinnerung an die "deutsch-russische Freundschaft", die offenbar wichtiger ist als das Schicksal der Menschen zwischen Oder und Russland. Dazu kommt natürlich noch die Sorge um das warme Wohnzimmer, weil Putin wegen der Unterstützung der Ukrainer die Gaslieferungen einstellen könnte.
Vorgetragen werden solche Mahnungen von Fernsehphilosophen wie Richard David Precht bis zu den Vertretern aller Parteien. Eine Person, die all das besonders symbolisiert, ist Alice Schwarzer. Anfang März veröffentlichte sie einen Text, in dem sie sich Gedanken darüber macht, wie es zu diesem Krieg kommen konnte und was nun zu tun sei. Dabei erwähnt sie ihren angeblichen polnischstämmigen Nachbarn Andrej, der bei ihr klopfte, um mit ihr über den Krieg in der Ukraine zu reden, weil sein Sohn Dario Angst habe. Eine schön anrührende Geschichte, die jedoch von Ahnungslosigkeit und Arroganz zeugt. Denn wenn der Nachbar der Publizistin und Feministin tatsächlich polnische Wurzeln hat, dann heißt er nicht Andrej, sondern Andrzej. Und auch dessen Sohn trägt einen Namen, der in Polen so nicht existiert. Wenn, dann heißt der Junge Dariusz und würde in Polen Darek gerufen.
Diese NATO-Osterweiterung
Zweifelhaft sind aber nicht nur die Vornamen in Schwarzers Text, sondern vor allem ihre Analysen. Dass sie die berühmte Bundestagsrede des russischen Präsidenten auf das Jahr 1991 datiert, als noch die Sowjetunion bestand, und nicht auf das Jahr 2001, sei entschuldigt. Dass sie aber als einen der Gründe für den russischen Einmarsch in die Ukraine die vom Westen abgewiesenen russischen Forderungen vom Dezember vergangenen Jahres nennt, hat schon eine gewisse Ironie. Der Kreml verlangte darin eine neutrale Ukraine sowie den Rückzug der NATO hinter die Grenzen von 1997. Ausgerechnet ihrem angeblich polnischstämmigen Nachbarn erklärt Schwarzer, dass der NATO-Beitritt seines Heimatlandes 1999 mitverantwortlich ist für den Krieg in der Ukraine. Und diesen hätte man vermeiden können, wenn man das Selbstbestimmungsrecht der Polen und anderer Osteuropäer ignoriert hätte und sie wieder aus dem Bündnis rausgeschmissen hätte.
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Ach, überhaupt diese NATO-Osterweiterung. Seit Wochen hört man von Intellektuellen oder Politikerinnen wie Sahra Wagenknecht, dass dieser Krieg eine Vorgeschichte habe. Meist fängt diese Vorgeschichte mit der NATO-Osterweiterung an. Vergessen wird dabei nicht nur, dass Polen, Ungarn, Tschechien und auch die drei baltischen Staaten freiwillig in die NATO eintraten, um Schutz vor Russland zu finden. Vergessen werden dabei auch gleich mehrere Jahrhunderte osteuropäischer Geschichte. Die ukrainisch-russischen Sprachkonflikte etwa begannen schon im 19. Jahrhundert, als im Zarenreich die ukrainische Sprache verboten wurde, die aus russischer Sicht ebenso wenig existierte wie das ukrainische Volk - eine imperialistische Perspektive, an die Putin nahtlos anknüpft. Das Verhältnis Russlands zu all seinen Nachbarn in Ostmitteleuropa ist bereits seit Jahrhunderten schwierig. Das hat sich mit dem Ende der Sowjetunion nicht geändert. So freundlich wie gegenüber Deutschland traten weder Jelzin noch Putin ihren Nachbarn entgegen.
Osteuropa als Korridor
Vielleicht interessiert dies hierzulande viele nicht, weil Ostmitteleuropa für sie nur ein schwarzer Fleck zwischen Deutschland und Russland ist und letztlich nicht mehr als Verhandlungsmasse. Das hat eine gewisse Tradition: Der SPD-Politiker Egon Bahr attestierte der Sowjetunion 1981 ein Recht, militärisch zu intervenieren, sollte Polen seine Zugehörigkeit zum Warschauer Pakt infrage stellen. Ein jüngeres Beispiel ist die Bundestagsdebatte vom 17. Februar dieses Jahres, als es um das Verhältnis des Westens zu Russland ging. Dass die AfD einen prorussischen Antrag stellte, in welchem die Interessen der Ostmitteleuropäer keine Belange spielten, ist nicht überraschend. Aber dass ausgerechnet die Linkspartei, die sich antiimperialistisch gibt, nicht besser agierte, ist schon erschreckend. Gregor Gysi fragte in der Debatte ernsthaft, "warum man Putin keine Sicherheitszonen zubillige", seine Fraktion forderte in ihrem Antrag einen "militärfreien Sicherheitskorridor" zwischen den NATO-Staaten und Russland. Wer so etwas vorschlägt, hegt ein koloniales Denken gegenüber den Staaten, die diesen "Korridor" bilden sollen.
Und auch mit der selbstständigen Politik der osteuropäischen Staaten scheinen einige linke Kreise Probleme zu haben. Als Anfang Mitte März die drei Ministerpräsidenten Polens, Tschechiens und Sloweniens als erste westliche Regierungspolitiker seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine reisten, fiel dem Herausgeber der Nachdenkseiten, Albrecht Müller, nichts anderes ein, als diese drei Staaten mit dem Schwanz eines Hundes zu vergleichen. Ihre Aktion schade den deutschen und westlichen Interessen, obwohl Deutschland doch für diese Staaten zahle.
"Ihr habt keine Ahnung von Russland"
Man könnte nun einwenden, dass die Nachdenkseiten in den vergangenen Jahren von einer medienkritischen zu einer verschwörungsideologischen Publikation verkommen sind. Aber Albrecht Müller ist ein ehemaliger Mitarbeiter von Willy Brandt und war langjähriger Bundestagsabgeordneter der SPD. Und es ist nicht das erste Mal, dass Müller sich solcher rassistisch-antislawischer Bilder gegenüber den Osteuropäern bedient. 2014 bezeichnete Müller die Staaten Ostmitteleuropas in bester deutschnationaler Manier als "Pfahl im Fleische", weil sie eine "Verständigung" des Westens mit Russland verhindern. Von "Pfahl im Fleische" sprach man in der Zwischenkriegszeit mit Blick auf Polen, als es um den sogenannten Korridor zwischen dem deutschen Kernland und Ostpreußen ging.
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Es ließen sich noch mehr solcher Beispiele anbringen, nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus anderen westlichen Staaten. Es ist eine Arroganz, die den bekannten polnischen Schriftsteller Szczepan Twardoch in einem viel beachteten Essay für die NZZ veranlasste, ein Ende des "Westplaining" zu fordern, also des Drangs des Westens, dem Osten die Welt zu erklären. Seine simple Botschaft: Liebe westeuropäische Intellektuelle, ihr habt keine Ahnung von Russland. Und dies aus der Feder eines Schriftstellers, der sich wegen seiner liberalen Ansichten regelmäßig mit den in Polen regierenden Nationalkonservativen anlegt.
Wie Recht Twardoch hat, offenbarte in dieser Woche die Politikwissenschaftlerin Florence Gaub. In der Talkshow von Markus Lanz erklärte sie die russischen Kriegsverbrechen damit, dass die "Russen keine Europäer sind, auch wenn sie europäisch aussehen", und somit einen anderen Bezug zu Gewalt und Tod haben. Auch das ist nichts anderes als ein rassistisches, antislawisches Klischee, das seit Jahrhunderten existiert. Für Deutschland könnte der Krieg in der Ukraine ein guter Anlass sein, sich mit diesem tief verankerten Antislawismus endlich mal zu befassen und ihn aufzuarbeiten.