„Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“
Gesellschaft — Original 08.04.2022 von Katerina Gordejewa , Grigori Judin — Übersetzung (gekürzt) 22.04.2022 von Maria Rajer , Jennie Seitz
Vergleiche zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland sind schon seit über zwei Jahrzehnten fester Bestandteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem System Putin.
Nach den jeweiligen Niederlagen im Ersten Weltkrieg respektive dem Kalten Krieg kam es in beiden Ländern zu einem Systemzusammenbruch und zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen über kollektive Identitätskrisen, Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Sie warfen ihren Landsleuten Verrat und Kollaboration mit dem Feind vor, diskreditierten Andersdenkende, sprachen anderen Völkern das Daseinsrecht ab. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Anschließend gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. Schließlich haben beide Länder einen Krieg entfacht. Die Massen – so heißt es in dem vorerst letzten Kapitel der Weimar-Vergleiche – jubelten und standen geeint hinter dem Führer respektive Leader.
Mehr als 80 Prozent der Menschen in Russland befürworten derzeit laut Umfrageergebnissen des Lewada-Zentrums den Krieg in der Ukraine. Denis Wolkow, Direktor dieses unabhängigen Umfrageinstituts, argumentierte kürzlich auf Riddle, dass es derzeit kaum Anhaltspunkte dafür gebe, an dieser Zahl zu zweifeln.
Der Soziologe Grigori Judin war demgegenüber schon immer skeptisch, ob Meinungsumfragen in autoritären Regimen ein Abbild öffentlicher Meinung liefern können. In einem Interview mit der Journalistin Katerina Gordejewa in ihrem Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) bringt er seine Argumente vor – und erklärt, welche Parallelen er zum Zwischenkriegs- und Hitlerdeutschland sieht.
Quelle
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Teil des Dossiers
Krieg in der Ukraine – HintergründeALLE DOSSIERS
Katerina Gordejewa: Betrachten wir mal die 60 bis 70 Prozent, die – je nach Umfrage – den Krieg gutheißen. Ich weiß, du magst es nicht, wenn man sich auf Umfragen bezieht, aber ich muss die Frage stellen, weil diese Zahlen derzeit überall kursieren. Auch die Propaganda stützt sich darauf. Begreifen diese 60 bis 70 Prozent die Konsequenzen nicht? Verstehen sie die Frage nicht, die man ihnen stellt? Oder was genau unterstützen sie?
Grigori Judin: Ich rate immer dringend dazu, vorsichtig mit Umfragen zu sein – generell, aber in Russland doppelt, und unter den heutigen Umständen gleich zehnfach. In Russland ist die Beteiligung sowieso immer niedrig. Außerdem gehen die Menschen, die an den Umfragen teilnehmen, meist davon aus, dass sie direkt mit dem Staat sprechen. Und durch die gegenwärtigen Kriegshandlungen ist die Vorsicht natürlich nochmal um ein Vielfaches gestiegen, das belegen alle unabhängigen Studien, die gerade durchgeführt werden: Die Menschen antworten weniger bereitwillig, erzählen von Ängsten oder fragen sogar direkt: „Werde ich verhaftet?“ Wir haben verschiedene Instrumente, die Stimmung der Umfrageteilnehmer zu untersuchen, dadurch sehen wir, dass die Menschen, die eher verschlossen, introvertiert sind, andere Antworten geben. Umfragen belegen im Prinzip immer das, was die russische Regierung belegt haben möchte. Heute erst recht.
Mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten
Ich denke, dass die Zahlen am Anfang noch eine gewisse Aussagekraft hatten, aber mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten. Das liegt natürlich nicht in unserer Macht. Und es könnte alles noch schlimmer machen, aber ich würde diese Umfragen keinesfalls ernstnehmen.
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Wenn ich in Deutschland gefragt werde: „Wie kommt es zu diesen 71 Prozent?“, erwidere ich: „Wie viel Prozent hattet ihr denn 1939, als die Spezialoperation gegen Polen begann?“ Ich sehe da keinen krassen Unterschied. Man sollte den Menschen keine idiotischen Fragen stellen und die Antworten nicht überbewerten. Aber abgesehen von allem, was ich jetzt gesagt habe, denke ich trotzdem, dass es wohl daran liegt, dass ein überragender Teil unserer Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben möchte.
Nach dem Motto: Soll da doch ein Krieg toben, oder eine Flutkatastrophe alles überschwemmen …
Ja, in dem Sinne: Ich kann sowieso nichts ausrichten. Was soll ich schon machen? Mich geht das doch nichts an. In Russland kursiert gerade etwas, das ich die „Zwei-bis-drei-Monats-Theorie“ nenne. Überall hört man: Noch zwei, drei Monate, dann renkt sich alles wieder ein. Keine Ahnung, woher dieser Schwachsinn kommt, aber es ist ein Versuch, sich an die eigene Realität zu klammern. Eigentlich ist es ein Versuch, weiterhin alles zu leugnen. So funktioniert die russische Propaganda.
Die Propaganda erklärt dir, warum du nichts tun sollst
Mich würde interessieren, warum die Propaganda die Menschen nicht davon überzeugen konnte, dass es Covid gibt, aber sie so leicht davon überzeugen kann, dass es in der Ukraine Faschismus gibt?
Aus einem ganz einfachen Grund: Die Aufgabe von Propaganda ist es nicht, dich von etwas zu überzeugen oder dir einen bestimmten Standpunkt aufzudrängen, sondern dir einen Grund zu geben, nichts zu tun. Sie erklärt dir, warum du nichts tun sollst. Als erklärt wurde, dass es Covid gibt und dass man etwas unternehmen muss, da war sie machtlos, weil der Mensch nichts tun will. Jetzt wird erklärt, warum das alles eine kurze Operation ist, dass sie erfolgreich enden wird, dass es eine unmittelbare Bedrohung für Russland gibt, und dass das alles überhaupt keine echten Ukrainer betrifft. Kurzum: Alles ist gut. Alles ist gut, alles ist bald vorbei, die politische Führung hat alles im Griff. Das genügt den Leuten, um ihr normales Leben ruhig weiterzuleben.
Der Vorteil bei den Belarussen ist, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts
Ich denke, das Problem im heutigen Russland ist nicht, dass die Russen massenhaft diese bestialische Aggression gegen die Ukraine gutheißen würden. Das gibt es so nicht. Es gibt einzelne militarisierte Gruppen, aber das ist etwas anderes. Das Problem liegt darin, dass die Menschen versuchen so zu tun, als würde sie das alles nichts angehen, als könnten sie einfach ihr Privatleben weiterleben, an das sie sich gewöhnt haben und das sie sich mit großer Mühe aufgebaut haben. Das dürfen wir nicht vergessen: Viele Russen machen gerade eine sehr schwere Erfahrung. Das Leben, das sie jetzt führen, haben sie sich wirklich lange, mit großem Aufwand und hohen Investitionen aufgebaut. Sie haben viele Jahre alles hineingesteckt, deswegen klammern sie sich jetzt so an diese Welt.
Im Großen und Ganzen ist das sogar nachvollziehbar, doch wenn man das konsequent betreibt, läuft man Gefahr, zum Instrument für alles Mögliche zu werden. Das scheint mir das Hauptproblem im gegenwärtigen Russland. Besonders deutlich wird das im Vergleich zu Belarus, denn dieser grauenhafte Krieg, in dem wir uns befinden, ist ein Krieg, in den nicht nur Russland und die Ukraine unmittelbar involviert sind, sondern natürlich auch Belarus. Aber der Vorteil bei den Belarussen ist, wenn man das so sagen kann, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts.
Woran liegt das? Daran, dass deren Leben schwerer und ärmer war?
Ich denke, es liegt unter anderem einfach daran, dass es dort 2020 ein Moment der Solidarität gab, über das sehr viel gesprochen wurde, auch wenn es zu keinem entsprechenden politischen Resultat geführt hat. Aber es hat den Belarussen etwas Größeres gegeben. Deswegen verschließen sie in der gegenwärtigen Situation nicht die Augen, ziehen sich nicht in den Käfig des Privaten zurück. Ihnen ist zwar klar, dass sie wenig ausrichten können, aber sie tun nicht so, als seien sie nur Instrument und als ginge sie das alles nichts an. Das stellt, so scheint mir, einen sehr wichtigen Kontrast dar.
Russland wird aufs Schrecklichste verlieren
Das war der erste Teil. Der zweite hängt, wie mir scheint, damit zusammen, richtig zu verstehen, was da gerade passiert. Es ist selbstverständlich kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Allein die Idee ist vollkommen absurd und irrsinnig.
Allein schon deswegen, weil Russland aufs Schrecklichste verlieren wird. Unendlich verlieren wird. Es wird in jedem Fall eine katastrophale Niederlage. Es ist kein positives Szenario denkbar.
Kannst du das genauer erklären?
In jeder nur denkbaren Hinsicht wird das für Russland eine Katastrophe. Es tut weh, das zu sagen, aber Russland zerstreitet sich auf diese Art für immer mit den zwei Völkern, die ihm kulturell am nächsten stehen – mit den Ukrainern und den Belarussen. Russland verliert absolut alle engen Verbündeten und Freunde. Mit wem sollen wir denn noch befreundet sein? Wer auf diesem Planeten kommt denn noch infrage? Wir jagen uns in eine völlig sinnlose, ewige Einsamkeit, in die wir eigentlich überhaupt nicht hineingeraten wollen. Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals.
Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals
Was macht denn Russland in den letzten zwanzig Jahren? Es rennt der ganzen Welt hinterher und ruft: „Wir brauchen euch nicht! Wir kommen auch alleine klar!“ Das ist ein neurotisches Verhalten, das uns jetzt geradewegs in die Katastrophe führt. Ich glaube, eine Katastrophe wie diese hat es in Russland noch nie gegeben.
Gehörst du zu den Leuten, die jetzt die Seiten der Geschichte übereinanderlegen und lauter Parallelen zum Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre in Russland sehen?
Oj, ich sehe sehr viele Parallelen, aber nicht zur russischen Geschichte, sondern zu der deutschen.
Ach ja?
Ja. Wir befinden uns in einer Situation, die in vielerlei Hinsicht an die 1920er und 1930er Jahre in Deutschland erinnert. Es gibt im Wesentlichen zwei historische Folien: das Regime von Napoleon III. in Frankreich 1848 bis 1870 und das, was in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geschah. In beiden Fällen sehen wir eine abrupte Einführung eines Wahlrechts, bei dem den Massen schließlich nur die Option bleibt, einen starken Anführer zu wählen, der faktisch die Befugnisse eines Monarchen besitzt. Sprich eine demokratisch gewählte Monarchie, eine Monarchie mit der Gunst der Massen. Genauso nannte es Napoleon III. Er wurde zum Präsidenten über das ganze Volk gewählt, zum ersten französischen Präsidenten: Ich bin ein Imperator, der regelmäßig Volksabstimmungen durchführt. Und was bekomme ich dafür? Ich bekomme die Garantie, dass ...
… alle dich lieben.
Ja, das Volk steht hinter mir, und was mache ich damit? Ich zeige es den Eliten, ich zeige es der Bürokratie, ich zeige es dem Volk, erzähle ihm, wer die wahre Macht hat. Er erhebt sich über das ganze System.
In Russland sitzt der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief
Die zweite wichtige Sache ist die historische Niederlage. Daraus resultieren Ressentiment, Revanchismus, Kränkung und Zorn. So war es in Frankreich, die Leute erinnerten sich durchaus an die Napoleonischen Kriege, und sie haben wieder einen Napoleon gewählt. Die Leute wollten einen neuen Napoleon, auch wenn es nicht derselbe [Napoleon Bonaparte – dek] war. Das gab es natürlich auch in Deutschland mit der verbreiteten Dolchstoßlegende und der [dieser zufolge von inneren Feinden verschuldeten – dek] Niederlage im Ersten Weltkrieg. Und jetzt beobachten wir das in Russland, wo der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief sitzt, wie sich jetzt zeigt. All diese Regime hatten irgendwann ein Wirtschaftsmodell für sich gefunden, das relativ erfolgreich war.
Du meinst, dass Russland … also die UdSSR den Kalten Krieg verloren hat?
Ich meine das nicht nur, es wäre doch auch merkwürdig nicht zu bemerken, dass dieser Rahmen irgendwann aufgedrängt wurde. Sagen wir, das Ende des Kalten Krieges hatte ein erzieherisches Element. Es gab eine Doktrin der Modernisierung, die implizierte, dass es den einen richtigen Entwicklungsweg gibt und die Länder, die von ihm abgewichen sind, auf die Schulbank müssen, damit ihnen die Lehrer aus dem Westen erklären, wie man es machen muss. Sie wurden also belehrt. Und zwar mit ganz aufrichtigen Absichten, weil man wollte, dass sie es endlich lernen, ihren Kinderschuhen entwachsen und das Gleiche aufbauen wie alle, weil es in Wirklichkeit nur einen richtigen Weg gibt. So etwas führt in jedem Land dazu, dass man sich wie ein Minderjähriger behandelt fühlt. Und erst recht in so einem riesigen, mächtigen Land wie Russland. Das erzeugt gleich ein Gefühl der Erniedrigung.
Was Putin dann gemacht hat, ist dieses Gefühl endlos weiter anzufachen. Es war nicht ganz unbegründet, dieses Gefühl, aber jetzt ist es eine Emotion, die ganz Russland einfach verbrennt.
Putin hat das Gefühl der Erniedrigung endlos weiter angefacht
In dieser Hinsicht gibt es natürlich viele Parallelen zu Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Und die plebiszitären Regime, die dort jeweils entstanden, machten jedes Mal das Gleiche: Sie zerstören die Innenpolitik. Das heißt, sie schließen schon die Idee einer Opposition aus. Die Opposition als eine Größe, die im selben Land existiert, aufrichtig das Beste für dieses Land will und sich dabei radikal von den eigenen Überzeugungen unterscheidet. Diese Idee ist ihnen grundsätzlich fern, weil das in ihren Augen die Einheit zerstört. Es kann einfach keine Opposition geben.
Weil es keine Opposition geben kann, wird jede politische Feindschaft externalisiert, das heißt, sie wird schlichtweg zur Konfrontation von außen erklärt. Es kann keine Opposition geben, also gibt es nur Verräter und innere Feinde. Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form.
Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form
All diese Regime nahmen das gleiche Ende. Sie überschätzten massiv die Bedrohung von außen. Sie bildeten sich eine Gefahr ein, wo im Grunde keine war. Sie verloren die Fähigkeit, mit anderen Staaten Bündnisse einzugehen. Und sie alle arbeiteten eifrig daran, eine mächtige militärische und wirtschaftliche Allianz gegen sich zu erschaffen. Mit enormem Tempo brachten sie Länder um Länder gegen sich auf, einten Staaten mit eigentlich ganz unterschiedlichen Interessen. Und dann fuhren sie gegen eine Betonmauer, indem sie sich in desaströse Militärkampagnen mit immensen Opfern stürzten. „Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“