EIN LIED GEHT UM DIE WELT
Stille Nacht, ein Lied, das auf der ganzen Welt voll Inbrunst in den Gottesdiensten der Heiligen Nacht gesungen wird, das aber auch in der Adventszeit auf Weihnachtsmärkten erklingt und wochenlang in Kaufhäusern aus den Verstärkern dröhnt.
Seit 15 Jahren erst ist uns aus der Hand des Verfassers ein Manuskript bekannt, das aus dem Jahre 1822 oder 1823 stammt.
Der Liedtext selbst entstand 1816. Im Dezember 1818 komponierte Franz Xaver Gruber dazu eine Melodie, die er für zwei Singstimmen und Gitarre einrichtete.
GEBURT AM 24. DEZEMBER
Was wissen wir über die Entstehung von "Stille Nacht"? Am 24. Dezember 1818 übergab der damalige Hilfspriester in Oberndorf bei Salzburg, Joseph Mohr (1792-1848), unehliches Kind eines fahnenflüchtigen Soldaten und einer Strickerin, dem befreundeten Lehrer, Organisten und Mesmer Franz Gruber (1787-1863), Sohn eines Leinewebers, das zwei Jahre zuvor verfaßte Gedicht mit der Bitte, eine passende Melodie für zwei Solostimmen und Chor sowie für Gitarrenbegleitung zu schreiben. Gruber überbrachte am gleichen Abend eine Komposition, und in der Heiligen Nacht wurde das Lied aufgeführt und beifällig aufgenommen.
EIN PHÄNOMEN
Ich weiß nicht, wie Sie zu diesem Lied stehen. Den einen gilt es als kitschig, unheilige Allianz von Text und Musik, "holder Knabe im lockigen Haar", dazu Terzen und gediegen-wiegender Sechs-Achtel-Takt. Für die anderen ist es das Weihnachtslied schlechthin, das Lied, das sie Weihnachten spüren läßt. So oder so, "Stille Nacht" ist ein Phänomen. Was bewegt Menschen in - fast - aller Herren Länder, wenn sie am Heiligen Abend in hundert Sprachen "Stille Nacht" anstimmen?
HIMMLISCHE RUH
In der ersten Strophe wiegt das heilige Paar, fernab von anderen Menschen, sein Kind: "Schlafe in himmlischer Ruh!" Ein frommer Wunsch und zugleich ein hilfloser Wunsch, Denn hier liegt das reizende Kind, biblisch das arme Kind im Stall und zugleich das Gotteswort, das seine göttliche Ruhe für uns und um unseres Heiles willen aufgegeben hat. Und doch wünschen wir ihm mit Maria und Josef: "Schlafe in himmlischer Ruh!"
FÜR UNS
Das Kind lacht, es lacht Liebe, sagt die zweite Strophe. Liebe, das bedeutet: Liebe zu uns. In dieser Strophe ist auch ausdrücklich von "uns" die Rede. "Da uns schlägt die rettende Stund".
Hier, jetzt, geschieht es uns, ereignet sich unsere Rettung: "Jesus! In deiner Geburt!"
THEOLOGISCHE DEUTUNG
In der dritten Strophe wird die Szene geöffnet oder verlassen zugunsten ihrer theologischen Deutung. Das "Heil" der Welt und die Fülle der Gnaden, die Höhe des Himmels und die "Menschen-Gestalt" des Gotteswortes gilt es zu bedenken.
FRIEDENSWELT
In der vierten Strophe wird die theologische Deutung, die Thematisierung der Menschwerdung, abgelöst von der Freude über die so gewonnene Geschwisterlichkeit aller Menschen und Völker. Dies unterstreicht auch die fünfte Strophe, die an die alttestamentliche Verheißung einer solchen Friedenswelt erinnert(Gen 8,21).
KIND VON AUFKLÄRUNG UND ROMANTIK
"Stille Nacht", ein weihnachtliches Erzähllied samt theologischer Deutung, ist als Kunstwerk einerseits ein legitimes Kind der josephinischen Aufklärung. Zweifellos verdankt "Stille Nacht" seine enorme Wirkung aber vor allem der Strömung der Romantik und ihren Ausläufern in unsere Zeit.
"Stille Nacht", ein verschneites Kirchlein im Salzburger Land, einfache Menschen vom Lande, das hohe Paar in seiner Abgeschiedenheit, das Idyll der unberührten Natur, der eine Neubeginn, der Glanz des Himmels, das Kind als Erlöser, die eigene heile Kindheit und ihr Verlust, Tränen der Ergriffenheit. Als "Tiroler Volkslied" kam das Lied nach Leipzig, und von dort aus, also von einem städtischen Ausgangspunkt aus, trat es seinen Siegeszug um die Welt an.
STILLE NACHT
Das Lied und seine Wirkung, gehören dazu nicht auch die Stille der Nacht, von der das Lied singt, und die "himmlische Ruh", die es beschwört, Verheißungen, die, um großflächig wirksam zu werden, den Lärm und das Getriebe der modernen Großstadt brauchen, aber auch unsere permanente Überforderung durch innere Anspannung und Anstrengung, unser notorisches Nicht-abschalten-Können, am Tag und in der Nacht? Unsere epochale Unfähigkeit zu schweigen, still zu werden, zur Ruhe zu kommen? Stoßen wir hier auf ein Geheimnis der ungeheuren Anziehungskraft von "Stille Nacht"?
SCHWUND
Die dritte bis fünfte Strophe verschwanden schon bald aus den sich rasant vermehrten Drucken, sie hätten die romantische Reise des Liedes nur behindert. Die Deutung der Geburt als Menschwerdung schien unverzichtbar (dritte Strophe), aus dem Eigennamen "Jesus" wurde häufig das allgemeinere "Christ", die in Jesus geschenkte Geschwisterlichkeit der Völker der Welt (vierte Strophe) drohte den volkstümlichen Rahmen zu sprengen, und die Verwurzelung im Alten Testament, "in der Väter urgrauer Zeit" schien wohl zu schwerfällig und zu sperrig, um weiter bewahrt zu werden.
Doch auch der auf drei Strophen verkürzte Gesang, oder wohl gerade das reduzierte Lied, wirkt, es weckt Sehnsüchte,öffnet verschlossene Gemüter, macht die Hornhaut der Seele noch einmal weich und zart.
Eine Chance, eine Hoffnung. Wer wollte darüber klagen? Wer würde sich nicht freuen über jedes einzelne Wunder dieser Nacht!
Aus: Magnificat, Verlag Butzon & Bercker
Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.
1. Joh. 4.16