Russlands Truppenverlegung Druck in viele Richtungen
Stand: 15.04.2021 04:00 Uhr
Russland hat zusätzliche Truppen an die Grenze zur Ukraine verlegt. Routine, wie Moskau behauptet, oder bahnt sich eine Intervention an? Die Russland-Expertin Stewart analysiert im Interview, dass so nicht nur auf die Ukraine Druck ausgeübt wird.
tagesschau.de: Russland hat Truppen in die Nähe der Grenze zur Ukraine verlegt und spricht von einem Routinevorgang: Ist diese Erklärung plausibel?
Susan Stewart: Diese Erklärung ist nicht plausibel. Russland hat gerade erst eine Übung abgehalten, die am 23. März zu Ende gehen sollte. Die Truppen sind aber immer noch da. Außerdem sind es vergleichsweise große Einheiten, die teilweise aus anderen Militärbezirken dorthin verlagert wurden, was auch unüblich ist. Und es geht nicht nur um den Teil der Grenze zum besetzten Teil der Ukraine, sondern es wurden auch Truppen auf die Krim verlagert und Militärschiffe aus dem Kaspischen ins Schwarze Meer verlegt. Das ist mehr als nur Routine.
Die Sozialwissenschaftlerin Susan Stewart |
Zur Person
Dr. Susan Stewart ist Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin.
"Eine künstlich geschaffene Population"
tagesschau.de: Die russische Regierung macht ihrerseits der ukrainischen Regierung Vorwürfe - sie sei es, die aktuell im Konflikt im Osten des Landes zündele, sodass Russland gegebenenfalls die Interessen seiner Bürger in der Region schützen müsse. Wie stichhaltig ist dieser Vorwurf?
Stewart: Ich würde das eher als eine Art Desinformation bezeichnen. Tatsächlich hat die ukrainische Regierung in den vergangenen Monaten wiederholt Vorschläge unterbreitet, um im Rahmen des Normandie-Formats und der Minsker Vereinbarung voranzukommen. Vor Ort sehen wir nichts, was auf eine massive militärische Eskalation durch die Ukraine hindeuten würde. Russland wiederum hat im vergangenen Jahr rund 400.000 russische Pässe im Donbass verteilt und damit künstlich eine Population von russischen Bürgern geschaffen. Diese könnten nun als Vorwand genutzt werden, um mit der Begründung zu intervenieren, man müsse seine eigenen Leute schützen.
tagesschau.de: Halten Sie denn für denkbar, dass Russland die Truppen verlegt hat, um in der Ostukraine militärisch einzugreifen?
Stewart: Das ist durchaus denkbar, und solange wir die tatsächlichen Absichten der russischen Seite nicht kennen, dürfen wir keine Möglichkeit ausschließen und sollten auf einen Angriff vorbereitet sein. Ein offener Angriff ist aus meiner Sicht aber nicht die wahrscheinlichste Variante. Russland könnte aber die Truppenbewegungen dazu nutzen, um zu verdecken, dass wieder Soldaten und Gerät über die Grenze in die Ostukraine gebracht werden, wo sie die sogenannten Separatisten militärisch stärken könnten.
Das russische Militärlager nahe der Ukraine | ARD-Studio Moskau
Reportage
13.04.2021
Russischer Aufmarsch "Ganzes Feld voller Militärtechnik"
Russlands Armee baut ein riesiges Militärlager nicht weit von der ukrainischen Grenze auf.
Politische Ziele für die Ostukraine
tagesschau.de: Wenn die Truppenkonzentration Druck auf die Ukraine ausüben soll, was wäre das Ziel?
Stewart: Ich vermute, dass sie den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu Fortschritten im Rahmen des Minsker Prozesses bewegen will - was den Sonderstatus der besetzten Gebiete betrifft und die Abhaltung von Wahlen. Die jüngste Waffenruhe hat einige Monate gehalten, und es könnte sein, dass Russland die Erwartung hatte, dass nun politisch etwas geschieht. Außerdem muss man davon ausgehen, dass die russische Regierung sich über Selenskyj geärgert hat, weil er sich nicht fügt. Selenskyj hat Sanktionen gegen einen Oligarchen verhängt, der Russlands Präsident Wladimir Putin sehr nahe steht. Hier strebt Russland möglicherweise an, dass die Sanktionen rückgängig gemacht werden.
tagesschau.de: Ist das auch ein Signal an Deutschland und Frankreich, die in das Normandie-Format und den Minsker-Prozess stark eingebunden sind?
Stewart: Russland hat oft erwartet, dass Deutschland und Frankreich Druck auf die Ukraine ausüben. Teilweise ist diese Rechnung auch aufgegangen. Mittlerweile können Deutschland und Frankreich Russlands Agieren - auch bei Truppenverlagerungen - besser einschätzen. Aber es ist durchaus denkbar, dass Russland dennoch erwartet, dass Berlin und Paris jetzt stärker auf Kiew einwirken.
Ukraines Präsident Selenskyj bei einer Truppeninspektion im Osten des Landes | EPA
In Kampfmontur: Ukraines Präsident Selenskyj bei einer Truppeninspektion im Osten des Landes Bild: EPA
Emotionale Komponenten
tagesschau.de: Sie haben die persönliche Dimension in Bezug auf Putin erwähnt. Nun hat der neue US-Präsident Joe Biden sich gleich nach Amtsantritt ungewöhnlich drastisch über Putin geäußert und gesagt, dass er ihn für einen Mörder halte. Kann das auch eine Rolle spielen?
Stewart: Ich würde Putins Handeln nicht nur als Reaktion auf eine Äußerung Bidens erklären. Russland sieht, dass die neue US-Administration dabei ist, ihren Kurs zu finden, aber es zeichnet sich eine harte Haltung gegenüber Russland ab. Das könnte eine Rolle spielen. Möglicherweise gibt es auch eine emotionale Komponente beim Vorgehen Putins. Er schottet sich immer mehr ab - gegenüber der Bevölkerung, aber auch gegenüber Teilen der russischen Elite und stützt sich auf einen kleinen Kreis von Leuten, die vor allem aus den Sicherheitsdiensten kommen. Und da könnte es sein, dass er sich stärker von solchen Emotionen leiten lässt, auch was Biden betrifft