„Konzil stürzte Kirche und Gläubige in eine doppelte Krise“ – Interview von Benedikt XVI.
16. März 2016
Interview der Tageszeitung "Avvenire" mit Benedikt XVI.
(Rom) Papst Benedikt XVI. durchbrach sein Schweigen, das er sich selbst im Zusammenhang mit seinem unerwarteten Amtsverzicht auferlegte. Seit 2013 lebt er zurückgezogen im Kloster Mater Ecclesiae im Vatikan. Nun gab er dem Avvenire, der Tageszeitung der Italienischen Bischofskonferenz ein langes Interview, das in der heutigen Ausgabe veröffentlicht wurde.
„Lassen wir uns von Christus formen“, lautet der Titel eines geistlichen Interviews, in dem es um Glauben und Theologie geht. Tagesaktuelles und Kirchenpolitik kommen darin nicht vor.
Das Interview führte der belgische Jesuit Jacques Servais, der Direktor der Casa Balthasar in Rom. Pater Servais war unter Kardinal Ratzinger von 1985-1990 Offizial an der Glaubenskongregation und von 1993-1996 Professor für Dogmatik am Institut Johannes Pauls II. in Rom. Er publizierte über Kardinal Newman, Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr.
„Ohne Bindung an das Heil wird auch der Glauben grundlos“
Die zentrale Frage des Interviews ist: „Was ist der Glauben und wie kommt man dazu, zu glauben?“
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. sagte im Interview zur Kirchenkrise:
„Die Missionare des 16. Jahrhunderts waren überzeugt, daß der Ungetaufte für immer verloren ist. Nach dem Konzil wurde diese Überzeugung aufgegeben. Daraus entstand eine tiefe Krise. Ohne Bindung an das Heil wird auch der Glauben grundlos.“
Zum anthropologischen Aspekt von Mensch, Technik und Liebe:
„Die Menschen erwarten sich in ihrem Innersten, daß der gute Samariter ihnen zu Hilfe kommt. In der Härte der technisierten Welt, in der Gefühle nichts mehr zählen, nimmt die Erwartung einer rettenden Liebe zu, die uneigennützig geschenkt wird.“
Zur zunehmenden Bedeutung der Barmherzigkeit:
„Es ist ein Zeichen der Zeit, daß die Idee der Barmherzigkeit ausgehend von Schwester Faustyna immer zentraler und dominanter wird.“
Pater Servais befragte Benedikt XVI. zum Rechtfertigungsstreit um Martin Luther und dem Bestreben des heiligen Franz von Sales, der im Gefolge des Apostels Paulus in der Seelsorge davon angetrieben war, so viele „Ungläubige“ wie möglich vor dem „schrecklichen Schicksal des ewigen Verlorenseins“ zu bewahren. Benedikt XVI. geht in seiner Antwort ausführlich auf die „Entwicklung dieses Dogmas“ extra Ecclesiam nulla salus ein, weil sich seit Beginn der Neuzeit die historischen Perspektiven gegenüber dem Mittelalter „auf radikale Weise“ geändert hätten.
Durch die Aufgabe der kirchlichen Heilsnotwendigkeit löste das Konzil eine „doppelte Krise“ aus
„Doppelte Krise“ von Kirche und Glauben
Dadurch, daß das Zweite Vatikanische Konzil die Überzeugung „definitiv“ aufgegeben habe, daß es für Ungetaufte kein Heil gebe, sei die Kirche und der Glauben in eine „doppelte Krise“ geraten.
„Einerseits scheint das einem künftigen missionarischen Einsatz jede Motivation zu entziehen. Warum sollte man Personen davon überzeugen, den christlichen Glauben anzunehmen, wenn sie sich auch ohne diesen retten können?
Aber auch für die Christen tauchte eine Frage auf: die Notwendigkeit des Glaubens und seiner Lebensform wurde unsicher und problematisch. Wenn es jene gibt, die sich auch auf andere Weise retten können, ist es letztlich nicht mehr evident, warum der Christ an die Notwendigkeit des christlichen Glaubens und seiner Moral gebunden sein soll. Wenn aber der Glauben und das Heil nicht mehr voneinander abhängig sind, wird auch der Glauben grundlos.
In jüngster Zeit wurden verschiedene Versuche unternommen, die universale Notwendigkeit des christlichen Glaubens mit der Möglichkeit, sich ohne sie zu retten, miteinander in Einklang zu bringen.“
Rahners „anonyme Christen“ und die „Oberflächlichkeit“ pluralistischer Religionstheorien keine Lösungen
Benedikt XVI. geht dann auf zwei dieser „Versuche“ ein, darunter auf die These Karl Rahners vom „anonymen Christen“, bei dem Christsein zum Synonym für Menschlichkeit werde. „Es stimmt, daß diese These faszinierend ist“, doch klammere sie „das Drama der Veränderung und der Erneuerung, das zentral für das Christentum ist“, aus.
„Noch weniger akzeptabel ist die von den pluralistischen Religionstheorien vorgeschlagene Lösung, für die alle Religionen, jede auf ihre Weise, Heilswege seien und in diesem Sinn in ihren Wirkungen als gleichwertig zu betrachten seien. Die Religionskritik von der Art wie sie im Alten Testament und von der Ur-Kirche geübt wird, ist wesentlich realistischer, konkreter und wahrer in ihrer Prüfung der verschiedenen Religionen.“ Die pluralistischen Religionstheorien seien „oberflächlich“ und der „Größe der Frage nicht angemessen“.
Schließlich nennt Benedikt XVI. noch einen dritten Lösungsvorschlag, jenen von Henri de Lubac „und einiger anderer Theologen“, die ihre Betonung auf den stellvertretenden Ersatz, die vikarische Substitution gelegt hätten. Damit sei das „Problem nicht zur Gänze gelöst“. Es handle sich aber um eine „wesentliche Intuition“, wobei insgesamt aber „klar“ sei, „daß wir über die gesamte Frage nachdenken müssen“.
Das vollständige Interview im italienischen Original (Avvenire).
http://www.katholisches.info/2016/03/16/...n-benedikt-xvi/
Bild: Avvenire (Screenshot/Vaticanva/OR