Flucht vor dem Krieg: Menschen aus der Ukraine erzählen ihre Geschichten
Geweckt von Explosionen. Die hektische Suche nach dem Reisepass. Eine qualvolle Zugfahrt durch die Dunkelheit, auf der Flucht vor den russischen Truppen. Die Hoffnung auf einen „warmen Platz“, an dem man sich ausruhen kann. Die Geschichten der Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine fliehen mussten, erzählen von Leid – und zeugen alle von einer großen Verzweiflung, die unvermeidlich ist, wenn Millionen Menschen dazu gezwungen werden, innerhalb weniger Tage ihre Heimat zu verlassen.
Unter ihnen ist auch Irina Lopuga, die zwei panische Tage in einer Autoschlange verbrachte, die sich unerträglich langsam auf die polnische Grenzstadt Przemyśl zubewegte. Sie und ihr Mann hatten viel Zeit, zu reden. Allerdings ging es in den Gesprächen nicht mehr um ihren Traum von einem eigenen Haus oder einer Reise nach Ägypten, sondern ums Überleben. „Wir sprachen darüber, wie die ganze Welt plötzlich kopfstand.“
An der Grenze angekommen war es Zeit, Abschied zu nehmen. Alle ukrainischen Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren sind dazu verpflichtet, in ihrem Land zu bleiben und es zu verteidigen. An ihrer Seite sind auch Frauen, die zum ersten Mal in ihrem Leben eine Waffe in der Hand halten. Die, die nicht kämpfen, bereiten Essen zu – und bauen Molotowcocktails. Irinas Ehemann wollte in seiner Kirchengemeinde dabei helfen, alles für die Flüchtlinge aus Kiew vorzubereiten. Bevor er aufbrach, sagt sie „drehte er sich weg und brach in Tränen aus.“
Dann rannten sie los: Irina, ihre Kinder und der Familienhund.
Sie sind nur ein kleiner Teil einer der größten Flüchtlingsströme der letzten Jahrzehnte, auf der Suche nach einem warmen Platz in einem aufgewühlten Europa, das an seine Grenzen kommt und um seine eigene Sicherheit fürchtet. Doch auch, wenn die meisten Familien, die in den Aufnahmeländern ankommen, zerrissen wurden: Der Kampfgeist der Menschen ist noch nicht gebrochen.
ENTSCHEIDUNG
Stimmen von der Grenze: Irina Lopuga, Ludmyla Tkachenko, Nelya Tkachenko, Blessing Oyeleke und Iryna Novikova
Lidiya Ivanenko, die hier ihren Sohn auf dem Arm hält, ist bereits zum zweiten Mal auf der Flucht: Im Jahr 2014 war es der Konflikt mit den von Russland unterstützten Separatisten in der Ostukraine, der sie zwang, ihr Zuhause in der Nähe von Luhansk hinter sich zu lassen und in die Umgebung von Kiew zu ziehen. „Ich habe nicht gedacht, dass der Krieg mich dort einholen würde.“
Anna Bianova, 34, mit ihrem Sohn Maksym und ihrem Neffen Myhaylo Bianov (beide 11). Ihre Schwiegermutter Lyudmyla Shevchuk, 71, hält derweil den Familienhund Archie. Für Anna Bianova war Krieg etwas Unvorstellbares, mit dem frühere Generationen zu kämpfen hatten – nicht aber ihre eigene. „Ist ein solcher Krieg im 21. Jahrhundert überhaupt möglich?”
Es ist schwer, wenn dein Ehemann zurückbleiben muss. Du musst dich entscheiden: Willst du die Kinder retten oder bei ihm bleiben?”
NEYLA TKACHENKO
An der Sammelstelle für Flüchtende in Medyka, Polen, bemühen sich die Menschen um etwas Normalität, während ...
An der Sammelstelle für Flüchtende in Medyka, Polen, bemühen sich die Menschen um etwas Normalität, während sie auf ihre Weiterreise warten.
Bild DAVIDE MONTELEONE
FLUCHT
Stimmen von der Grenze: Anna Bianova und Irina Lopuga
Am Bahnhof waren Millionen Menschen, es war so voll, dass wir uns nicht bewegen konnten. Es war schrecklich. Tränen fielen wie Hagel.”
ANNA BIANOVA
Valentyna Turchyn mit ihrer Mutter, die denselben Namen trägt, und ihren drei Töchtern: Maya, 5, Tanya, ...
Ludmyla Kuchebko, 72, stammt aus der Stadt Schytomyr. Die Sirenen, die vor drohenden Luftangriffen warnen, hat ...
Links:
Valentyna Turchyn mit ihrer Mutter, die denselben Namen trägt, und ihren drei Töchtern: Maya, 5, Tanya, 7, und Galyna, 16. Sie schützen sich gegenseitig gegen die Kälte in einer Flüchtlingsunterkunft in Polen, in die sie ihre Reise aus der ukrainischen Stadt Tscherkassy geführt hat.
Rechts:
Ludmyla Kuchebko, 72, stammt aus der Stadt Schytomyr. Die Sirenen, die vor drohenden Luftangriffen warnen, hat sie hinter sich gelassen, doch die Sorge um ihren Sohn in Kiew trägt sie immer bei sich. Sie hofft, dass Gott „nicht nur meinen Sohn, sondern die ganze Ukraine beschützen wird“. Sie betet für jeden Flüchtenden in jedem Zug. „Wir beten heute nicht nur für die Ukraine – wir beten auch für Russland und unsere Brüder und Schwestern dort.“
Bild ANASTASIA TAYLOR-LIND
Ein provisorisches Bett vor der Sammelstelle für Flüchtende in der Nähe des Grenzübergangs zwischen der Ukraine ...
Ein provisorisches Bett vor der Sammelstelle für Flüchtende in der Nähe des Grenzübergangs zwischen der Ukraine und Polen bei Medyka, am Rand der polnischen Stadt Przemýsl.
Bild DAVIDE MONTELEONE
KRIEG
Stimmen von der Grenze: Lidiya Ivanenko, Ludmyla Tkachenko, Nelya Tkachenko und Anna Bianova
Die 25-jährige Medizinstudentin Blessing Oyeleke stammt aus Nigeria. Sie ist eine von Tausenden afrikanischen Studierenden in der Ukraine. Auf ihrer Flucht aus der Stadt Ternopil im Westen des Landes hat sie viel Chaos und auch Rassismus erlebt. Über die fünf Jahre, die sie in dem Land verbracht hat, sagt sie jedoch: „In die Ukraine zu kommen war wie ein Traum für mich.“
Die Schwestern Ludmyla und Nelya Tkachenko, 35 und 41, aus Kiew machen sich Sorgen um ihre Kinder, die mit ihnen nach Polen geflohen sind. Bei dem Gedanken an ihre Männer und Familienangehörige, die in der Ukraine zurückgeblieben sind, müssen sie mit den Tränen kämpfen. Neyla sagt, sie fühle sich zerrissen. „Die eine Hälfte meines Herzens ist in der Ukraine, die andere habe ich mitgenommen.“
Es war beängstigend, als die ersten Bomben explodierten.”
LUDMYLA TKACHENKO
Von Freiwilligen gesammelte Schuhe warten in der Nähe der polnischen Stadt Przemýsl darauf, an geflüchtete Menschen ...
Von Freiwilligen gesammelte Schuhe warten in der Nähe der polnischen Stadt Przemýsl darauf, an geflüchtete Menschen aus der Ukraine verteilt zu werden.
Bild DAVIDE MONTELEONE
VERLUST
Stimmen von der Grenze: Ludmyla Kuchebko, Iryna Novikova, Ludmyla Tkachenko und Nelya Tkachenko
Wir wurden in der Ukraine geboren und wir lieben unser Land. Es ist wunderschön. Gott hat es mit allem beschenkt: Wälder, Felder … meine geliebten Felder.”
LUDMYLA KUCHEBKO
Irina Butenko, 33, und ihre Tochter, Kateryna Falchenkko, 8, mussten überstürzt aus der ostukrainischen Stadt Charkiw ...
Iryna Kuzmenko, 41, und ihre Tochter Arianda Shchepina, 11, aus der Stadt Saporischschja in einem Moment ...
Links:
Irina Butenko, 33, und ihre Tochter, Kateryna Falchenkko, 8, mussten überstürzt aus der ostukrainischen Stadt Charkiw fliehen. Als endlich ein Zug kam, der sie in den Westen bringen sollte, „rannten wir darauf zu während hinter uns Schüsse fielen“, sagt Irina. Sie will nie wieder zurückkehren. Kateryna fühlt sich jetzt sicher: „Niemand schießt auf uns oder bedroht uns. Meine Mutter ist immer bei mir.”
Rechts:
Iryna Kuzmenko, 41, und ihre Tochter Arianda Shchepina, 11, aus der Stadt Saporischschja in einem Moment der Ruhe vor der Juliusza Slowackiego-Schule in Przemýsl, Polen.
Bild ANASTASIA TAYLOR-LIND
Mehrere Zehntausende Flüchtende haben Anfang März 2022 bereits die polnisch-ukrainische Grenze in bei Medyka überquert – ...
Mehrere Zehntausende Flüchtende haben Anfang März 2022 bereits die polnisch-ukrainische Grenze in bei Medyka überquert – und der Strom reißt nicht ab.
Bild DAVIDE MONTELEONE
ZUKUNFT
Stimmen von der Grenze: Iryna Butenko, Ludmyla Tkachenko, Nelya Tkachenko, Blessing Oyeleke, Lidiya Ivanenko und Irina Lopuga
Wir brauchen nicht viel. Ein warmes Plätzchen reicht uns.”
LIDIYA IVANENKO
Iryna Novikova, 42, floh mit ihrer Tochter aus Kiew. Alles musste so schnell gehen, dass nicht ...
Amoakohene Ababio Williams, 26, stammt ursprünglich aus Ghana. Nach seiner Flucht aus Odessa wurde er, wie ...
Links:
Iryna Novikova, 42, floh mit ihrer Tochter aus Kiew. Alles musste so schnell gehen, dass nicht einmal Zeit blieb, um zu duschen, Zähne zu putzen und sich umzuziehen. „In so einer Situation braucht man das alles nicht. Ich weiß nicht, wie ich gerannt bin – meine Beine haben mich einfach getragen.“ Ihre Tochter hatte sie vor bevorstehenden Angriffen gewarnt, doch „ich konnte es einfach nicht glauben.“
Rechts:
Amoakohene Ababio Williams, 26, stammt ursprünglich aus Ghana. Nach seiner Flucht aus Odessa wurde er, wie einige andere Schwarze Männer auch, vor der polnischen Grenze von seiner ukrainischen Ehefrau Sattennik Airapetryan, 27, und ihrem gemeinsamen 1-jährigen Sohn Kyle Richard getrennt. „Ich dachte, das war’s. Vielleicht sehe ich sie nie wieder.“ Doch es kam anders.
Bild ANASTASIA TAYLOR-LIND
National Geographic Fotografin Anastasia Taylor-Lind fotografiert in den Themenbereichen Frauen, Gesellschaft und Krieg.
Alice Aedy ist Dokumentarfotografin mit dem Schwerpunkt soziale Gerechtigkeit.
National Geographic Explorer Davide Monteleone ist Fotograf und visueller Künstler. Sein besonderes Interesse liegt in dem Bereich der post-sowjetischen Länder. Seine Arbeit wird von National Geographic gefördert.
Der ukrainischer Filmstudent Petro Halaburda aus Warschau, Polen, half als Übersetzer bei der Produktion dieser Strecke.
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Immaterielles Kulturerbe der UNESCO: Fünf neue Einträge für deutsche Traditionen
Seit 2003 würdigt die UNESCO lebendige kulturelle Traditionen, die vom Menschen und seiner Kreativität getragen werden. Nun kommen in Deutschland fünf weitere hinzu – darunter die handwerkliche Apfelweinkultur.
Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 11. März 2022, 14:03 MEZ
Neueintrag im Register des Immateriellen Kulturerbes: Für seine Apfelweinkultur ist unter anderem auch Frankfurt bekannt.
Neueintrag im Register des Immateriellen Kulturerbes: Für seine Apfelweinkultur ist unter anderem auch Frankfurt bekannt.
Bild Holger Ullmann / visitfrankfurt
Weinkultur, Kneippen oder Skat spielen – die Liste des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland umfasst ein breites Spektrum an gemeinschaftlichen Traditionen. Seit dem 9. März 2022 gibt es fünf Neueinträge bei der UNESCO: die handwerkliche Apfelweinkultur, das Brieftaubenwesen, die Trakehner Pferdezucht und der Willibaldsritt in Jesenwang. Zusätzlich wurde das Pflasterer- und Steinsetzer-Handwerk als Modellprogramm für den Erhalt des Immateriellen Kulturerbes gewürdigt.
Somit erweitert sich die Liste des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland auf 131 Einträge lebendiger Traditionen, die laut der UNESCO-Kommission die Vielfalt des kulturellen Lebens in Deutschland widerspiegeln. „Deutschland ist geprägt von einer reichen Kulturlandschaft. Ihre Heterogenität zeigt sich im Bundesweiten Verzeichnis, das die unterschiedlichen Facetten kultureller Ausdrucksformen abbildet“, sagt Isabel Pfeiffer-Poensgen, Nordrhein-Westfalens Kulturministerin und Vorsitzende der Kulturministerkonferenz.
Was ist das Immaterielle Kulturerbe?
Tanz, Theater, Musik, mündliche Überlieferungen, Naturwissen und Handwerkstechniken – zum immateriellen Kulturerbe zählen lebendige Traditionen, die Kreativität ausdrücken und von menschlichem Wissen und Können getragen werden. „Das Immaterielle Kulturerbe vermittelt Kontinuität und Identität, prägt das gesellschaftliche Zusammenleben und leistet einen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung“, so die UNESCO.
Beliebt sind Stadttauben bei vielen Menschen nicht. Fütterungsverbote sind dennoch rechtswidrig – laut eines neuen Gutachtens.
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Seit 2003 sind der Schutz, die Dokumentation und der Erhalt solcher Traditionen sowie ihre Weiterentwicklung durch das UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes gesichert. Weltweit verzeichnet die UNESCO seither über 580 Einträge auf insgesamt drei Listen – darunter 131 Einträge aus Deutschland.
Die kürzeste Liste ist das UNESCO-Register guter Praxisbeispiele, das Modellprojekte listet, die Immaterielles Kulturerbe fördern und mit innovativen Methoden erhalten. Darunter fällt auch das in diesem Jahr aufgenommene deutsche Pflasterer- und Steinsetzer-Handwerk, welches sich laut UNESCO „kontinuierlich an technische Entwicklungen anpasst und insbesondere den Städtebau in Deutschland prägt.“
Neben dem Eintrag des Modellprojekts gab es vier weitere Neueinträge, die in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurden:
Die handwerkliche Apfelweinkultur
Die Apfelweinkultur in Deutschland ist vor allem in den Bundesländern Hessen, Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz verbreitet. In das Register aufgenommen wurde sie in diesem Jahr, weil die Tradition vor allem von Familien, Vereinen und Keltergemeinschaften getragen wird, die ihr eigenes Obst anbauen und ihr Wissen über Generationen hinweg weitergeben und weitergegeben haben. „Ein wichtiger Teil der handwerklichen Apfelweinkultur ist für viele Menschen das Gemeinschaftserlebnis“, so die UNESCO.
Die UNESCO hebt zusätzlich die durch die Apfelweinkultur entstandenen landschaftsprägende Streuobstwiesen hervor sowie die Fertigkeiten um die Obstbaumpflege und den Beitrag der Verbände und Vereine zum Sortenerhalt.
Trakehner Jahressiegerstute Belle Fleur mit Medaille.
Die Trakehner Jahressiegerstute aus dem Jahr 2018: Belle Fleur von E.H. Millennium u.d. Belle Rouge v. E.H. Le Rouge.
Bild Stefan Lafrentz / Trakehner Verband
Die Trakehner Zucht
Die Trakehner Pferde, benannt nach einem der fünf Hauptgestüte Preußens, sind eine traditionelle Reitpferdeart, die bis heute in allen Reitdisziplinen vertreten ist. Das Trakehner Pferd gilt als besonders sensibel und wird deshalb häufig auch im therapeutischen Reiten und im Para-Reitsport eingesetzt.
Nach Angaben der UNESCO erhalten die Zuchtvereine die Tradition durch jährliche Veranstaltungen wie Märkte und Turniere und durch Förderprogramme für junge Reitende: „Die niedrigschwellige Teilnahme garantiert einen Zugang verschiedener Bevölkerungsschichten.“ Außerdem bestünde die Züchterschaft hauptsächlich aus privaten Züchterinnen und Züchtern, die keine kommerzielle Zucht betreiben.
Das Brieftaubenwesen
Die im 19. Jahrhundert entwickelte Praxis, Tauben als Nachrichtenüberbringer einzusetzen, ist heute hauptsächlich ein Hobby. Dennoch gab es zur Hochzeit des Brieftaubenwesens über 100.000 Brieftaubenzüchter und -züchterinnen. Heute sind es noch etwa 28.000.
Die UNESCO hebt im Zusammenhang mit dem Brieftaubenwesen hervor, dass der Verband heutzutage nicht nur veterinärmedizinische Grundlagenforschung betreibt, sondern auch Taubenkliniken fördert. „Bei der Weitergabe von Wissen und Können im Brieftaubenwesen geht es um das Zusammenleben von Mensch und Tier sowie das Wissen um das Verhalten, die Biologie und artgerechte Lebensweisen der Tauben“, heißt es.
Der Willibaldsritt in Jesenwang
Als im Jahr 1712 eine Tierseuche die Jesenwanger Bauern heimsuchte, beteten sie zum heiligen Willibald, die Tiere der Region zu verschonen. Der Sage nach hatten die Bauern damit Erfolg – und die Tradition des jährlichen Ritts durch die Kirche St. Willibald zu Ehren des heiligen Willibalds war geboren.
Heute nehmen jährlich bis zu 300 Reiterinnen und Reiter mit ihrem Gespann an der Wallfahrt, die um den 7. Juli stattfindet, teil. „Die Organisation des Willibaldritts wird insbesondere von lokal ansässigen Familien geprägt. Diese vermitteln das spezifische Wissen und Können auch an die jüngeren Generationen“, so die UNESCO.
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Historischer Fund: Jüdisches Tauchbad in Chemnitz ausgegraben
Die archäologischen Überreste einer alten jüdischen Mikwe in Sachsen werden aktuell auf Alter und Geschichte untersucht. Wie sie erhalten werden können – und was sie für die Region bedeuten.
Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 25. Feb. 2022, 16:28 MEZ
Das rechteckige Tauchbecken der Mikwe mit dem runden Wassersammler im Hintergrund.
Historische Überreste: Das rechteckige Tauchbecken der Mikwe mit dem runden Wassersammler im Hintergrund.
Bild DR. CHRISTOPH HEIERMANN
Eine rundgemauerte, brunnenähnliche Struktur, ein rechteckiges Becken, zwei Treppenstufen: Die Überreste des rituellen jüdischen Tauchbads am Rande der Chemnitzer Innenstadt offenbarten sich den Archäologinnen und Archäologen nur Schritt für Schritt. Jetzt liegt die Mikwe frei. Das traditionelle jüdische Tauchbad wurde im Herbst 2021 bei Bauarbeiten entdeckt.
Nach Angaben von Christoph Heiermann vom Landesamt für Archäologie Sachsen handelt es sich bei der Chemnitz Mikwe um einen Fund „von großer überregionaler Bedeutung“. Die ausgegrabene Struktur ist eine der wenigen und ältesten Bauzeugnisse jüdischer Kultur in Sachsen. Mikwen dienen bis heute zur rituellen Reinigung des Körpers und Geistes und sind ein fester Bestandteil jüdischer Gemeinden.
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Auch Barbara Klepsch, sächsische Staatsministerin für Kultur und Tourismus, betont den Stellenwert des Fundes: „Die in der Chemnitzer Innenstadt entdeckte Mikwe ist ein wertvolles Zeitzeugnis unserer Kulturgeschichte. Sie zeigt, dass jüdisches Leben bereits vor Jahrhunderten Teil der sächsischen Gesellschaft war.“
Genaue Datierung und alte Münzen
Die Überreste der Mikwe entdeckten die Archäologinnen und Archäologen nun im Rahmen von Bauarbeiten zwischen Kellerresten der Vorkriegsbebauung. Über das Areal war nach dem zweiten Weltkrieg ein Parkplatz gebaut worden, der jetzt einem Neubau weichen sollte.
Die genauere Bestimmung des Alters des rituellen Tauchbads steht nach Angaben von Heiermann gerade erst am Anfang. Die Struktur selber liefere bisher nämlich wenig Anhaltspunkte für eine Datierung. „Sicher ist lediglich, dass die Mikwe gegen Ende des 18. Jahrhunderts bereits verfüllt war und nicht mehr genutzt wurde“, so Heiermann. Aktuell wird allerdings noch an der Restauration einiger in den Verfüllschichten gefundener Münzen gearbeitet – mit Glück kann eine Bestimmung dieser doch noch eine genauere Datierung des Tauchbades zulassen.
Befundsituation der Mikwe während der Ausgrabung.
Befundsituation der Mikwe während der Ausgrabung.
Bild THOMAS RETER / CHRISTOF SCHUBERT
Klar ist auch: Bei dem Tauchbad handelt es sich um eine Kellermikwe. Sie befand sich also vermutlich in Privatbesitz und wurde so nur von einer oder wenigen Familien genutzt.
Ein wichtiges Denkmal
Laut Landesamt Sachsen hat der Erhalt des rituellen Tauchbads Priorität. „Es besteht Einigkeit darüber, dass die Mikwe als ortsgebundenes Denkmal an Ort und Stelle erhalten bleibt und vor schädlichen Einflüssen geschützt werden soll“, so Heiermann. Die Abstimmungen mit dem Investor und dem federführenden Architekturbüro stünden allerdings ebenso wie die Untersuchung des Fundes erst am Anfang.
Fest steht bisher, dass die Mikwe zunächst durch eine Einhausung von ihrem ursprünglichen Milieu getrennt wird. Um den Prozess möglichst denkmalschonend zu gestalten, soll auch ein Blick auf ähnliche Fälle geworfen werden, in denen Mikwen ausgegraben und schließlich geschützt wurden, so Heiermann.
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Im Oktober 2021 bröckelte die Revolution im Sudan. Gegen den Staatsstreich der Generäle erhob sich die junge Generation – und beschwörte dabei das kulturelle Erbe des Landes.
Von Kristin Romey
Veröffentlicht am 22. Feb. 2022, 15:20 MEZ
Sudan: Aufbegehren der Jugend
Im Oktober 2021 bröckelte die Revolution im Sudan. Gegen den Staatsstreich der Generäle erhob sich die junge Generation – und beschwörte dabei das kulturelle Erbe des Landes.
Bild Nichole Sobecki
Im April 2019, war die 30-jährige islamistische Diktatur des Omar al-Baschir gestürzt worden. Der zivil-militärische Souveränitätsrat des Landes war dabei, das Erbe des angeklagten Kriegsverbrechers sowie 30 finstere Jahre der Unterdrückung, des Völkermords, der internationalen Sanktionen und der Abspaltung des Südsudans zu überwinden. Doch um die Mittagszeit des 25. Oktober 2021, nur wenige Wochen vor dem geplanten Übergang zur zivilen Kontrolle, nahm das Schicksal des Landes eine neue Wendung. Der Vorsitzende des Souveränitätsrates, Generalleutnant Abdel Fattah al-Burhan, löste die Regierung auf und stellte den zivilen Premierminister unter Hausarrest. Der General sprach von einem Ausnahmezustand. Die sudanesische Bevölkerung aber erkannte den Staatsstreich. Hunderttausende demonstrierten in der Hauptstadt Khartum und in weiteren Gebieten. Wie es sich für einen Regimewechsel im 21. Jahrhundert gehört, spielte sich alles in Echtzeit in den sozialen Medien ab.
Social Media für die königlichen Ahnen
Während des Sturzes der al-Baschir-Regierung im Frühjahr 2019 machten auf Twitter und Facebook bemerkenswerte Bilder die Runde: Ein Meer von jungen Männern und Frauen versammelte sich in friedlichem Widerstand gegen das Regime und forderte eine andere Welt für ihre Generation. Eine Szene wurde in der Reihe von Handyfotos und Videoclips endlos geteilt: Eine junge Frau in traditioneller weißer sudanesischer Kleidung stand auf einem Auto, deutete mit dem Finger in den Himmel und skandierte mit der Menge: „Mein Großvater ist Taharqa, meine Großmutter ist eine Kandake!“ Es handelte sich nicht um Unterstützung einer politischen Gruppierung oder sozialen Bewegung.
Schulkinder besuchen die Pyramidengräber der kuschitischen Könige und Königinnen in der alten Hauptstadt Meroe. Unter der ...
Schulkinder besuchen die Pyramidengräber der kuschitischen Könige und Königinnen in der alten Hauptstadt Meroe. Unter der Diktatur von Omar al-Baschir unterdrückte der sudanesische Lehrplan das nicht muslimische Erbe des Landes und seine Wurzeln in Afrika südlich der Sahara.
Bild Nichole Sobecki
Die Demonstranten erklärten sich vielmehr zu Nachkommen des alten kuschitischen Königs Taharqa sowie der kuschitischen Königinnen und Königinmütter, deren wichtigster Titel „Kandake“ war. Diese königlichen Ahnen, die sogenannten „schwarzen Pharaonen“, standen an der Spitze eines mächtigen Reiches, das einst vom Gebiet des heutigen Nordsudans aus regierte und sich von Khartum bis zum Mittelmeer erstreckte. Das Reich von Kusch – auch Nubien genannt – wird meist nur als Fußnote in Büchern über die altägyptische Geschichte erwähnt. Selbst im Sudan unter dem Regime al-Baschirs lernten Schüler nicht viel über Kusch. Wie konnte das Erbe eines antiken Königreichs, das nicht einmal unter Archäologen, geschweige denn unter Durchschnittssudanesen besonders bekannt war, plötzlich zur Kampfparole auf den Straßen Khartums werden?
Reich von Kusch: schlampige Archäologie?
Die frühesten historischen Berichte über die Kuschiten stammen von den Ägyptern. Die versuchten, die demütigende Eroberung aus ihren Annalen zu tilgen und die Kuschiten lediglich als eine von vielen lästigen Gruppen darzustellen, die die Grenzen unsicher machten. Diese Erzählung wurde von den ersten europäischen Archäologen, die im 19. Jahrhundert in den Sudan kamen, nicht hinterfragt. Sie stöberten in verfallenen kuschitischen Tempeln und Pyramiden herum und erklärten die Funde zu bloßen Imitationen ägyptischer Monumente. Der Rassismus der meisten westlichen Gelehrten verstärkte diese Sichtweise des afrikanischen Königreichs. „Die einheimische negroide Rasse hatte weder einen nennenswerten Handel noch eine nennenswerte Industrie entwickelt und verdankte ihre kulturelle Stellung den ägyptischen Einwanderern und der importierten ägyptischen Zivilisation“, schrieb George Reisner. Der Archäologe von der Harvard University führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten wissenschaftlichen Ausgrabungen in den Königsgräbern und Tempeln von Kusch durch.
Der sudanesische Archäologe Sami Elamin hält Reisner für ebenso schlampig in seiner Methode wie fehlgeleitet in der Interpretation. Im Jahr 2014 durchsuchten Elamin und ein Archäologenteam einen großen Erdhügel an Reisners Ausgrabungsstätte am Fuße des Jebel Barkal. „Wir haben eine Menge Objekte gefunden“, sagt Elamin, „sogar kleine Götterstatuen.“Elamin stellt fest, dass immer mehr Einheimische den Jebel Barkal besuchen und durch die Ruinen wandern. „Sie stellen viele Fragen zu den Altertümern, der Geschichte und der Zivilisation“, sagt er. Mit seinen Kollegen ist er bestrebt, einer wissensdurstigen Generation dieses ferne Kapitel der Geschichte näherzubringen. Als sudanesische Archäologen hätten sie eine Verantwortung, sagt er, die Bürger zu vereinen, indem sie ihnen die Leistungen auch weit zurückliegender Generationen vor Augen führen.
Anhänger des Sufismus, einer mystischen Ausrichtung des Islams, vollziehen am Grab von Scheich Hamed al-Nil in ...
Anhänger des Sufismus, einer mystischen Ausrichtung des Islams, vollziehen am Grab von Scheich Hamed al-Nil in Omdurman das Dhikr. Der Sudan ist die Heimat einer der größten Sufi-Gemeinschaften der Welt. Ihre Führer haben großen Einfluss. Einige Sufi-Orden unterstützten den Volksaufstand, der zum Sturz von al-Baschir führte.
Bild Nichole Sobecki
Revolte mit dem Mut der Könige und Königinnen
Das Bild der revolutionären Kandake, die in weißem Gewand unter den Demonstranten steht und ihren Finger in den Himmel reckt, während sie die kuschitischen Könige und Königinnen beschwört, wurde als Street Art in Khartum und auf der ganzen Welt verewigt. Mit 23 Jahren wurde Alaa Salah zu einem Gesicht der sudanesischen Revolution. Diese Rolle machte aus der Ingenieurstudentin eine internationale Persönlichkeit, die man einlud, um vor dem UN-Sicherheitsrat über die Rolle der Frauen im neuen Sudan zu sprechen.
Als die Demonstranten auf den Straßen von Khartum den Sprechgesang „Mein Großvater ist Taharqa, meine Großmutter ist eine Kandake“ anstimmten, erklärte Salah, hätten sie damit ihren Stolz auf den Mut und die Tapferkeit der alten Könige und Königinnen ausgedrückt. Es gab ihnen das Gefühl, selbst Teil dieser alten Zivilisation mit ihren starken Anführern zu sein. Vor allem galt das für die Frauen, die bei den Protesten eine zentrale Rolle spielten. Der Staatsstreich hatte noch mehr Unsicherheit in eine Nation und Generation getragen, die sich nach Demokratie und Stabilität sehnt. Die meisten der prächtigen Paläste und Tempel von Kusch sind verschwunden, geplündert und vom Sand verschluckt. Doch bis heute wachen die Pyramiden der einstigen Könige und Königinnen in der Wüste. Auf den Friedhöfen der Städte liegen die Gräber von Scheichs und protestierenden Studenten. Sie überdauern, während Bürger, Politiker und Generäle um die Macht kämpfen, Regimes zusammenbrechen und wieder aufgebaut werden. Jedem, der zuhören will, sagen sie: Wir haben dafür gekämpft. Wir waren auch einmal hier.
Die Februar 2022-Ausgabe von NATIONAL GEOGRAPHIC ist seit dem 18.01.2022 im Handel erhältlich!
Die Februar 2022-Ausgabe von NATIONAL GEOGRAPHIC ist seit dem 18.01.2022 im Handel erhältlich!
Bild NATIONAL GEOGRAPHIC
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Rätselhafte Gänge: Wer löst das Geheimnis der Erdställe?
Alte Tunnelsysteme in Bayern und Österreich lassen Forscher bis heute rätseln. Erdställe sind eines der letzten großen Geheimnisse des Mittelalters.
Von Simone Kapp
Veröffentlicht am 10. Feb. 2022, 09:21 MEZ, Aktualisiert am 10. Feb. 2022, 19:42 MEZ
Dunkle Höhle im Erdreich mit Lichteinlass
Wann oder warum Erdställe gebaut wurden, ist ein Geheimnis, das viele Menschen in seinen Bann zieht.
Bild Dieter Ahlborn
Erdställe kommen hauptsächlich im nordöstlichen Alpenvorland vor. Allein in Bayern gibt es über 700 der unterirdischen Gangsysteme. Man findet sie aber auch am Niederrhein, in Österreich und Tschechien, sowie vereinzelt in Frankreich, Spanien, Ungarn und Irland. Doch von wem wurden sie erbaut, und wozu?
Über Jahrhunderte wurden die engen, niedrigen Tunnel auf einer Gesamtlänge von 50 Metern oder mehr in den Boden getrieben, mit engen Durchschlupfen, Stufen und Nischen versehen – und dann fast zeitgleich Ende des 13. Jahrhunderts aufgegeben. Doch wer die sogenannten Erdställe baute, welchem Zweck sie dienten und warum sie auf einen Schlag verlassen wurden, ist noch immer ein Geheimnis. „Das ist ein wahnsinnig großes archäologisches Rätsel, das noch keiner verstanden hat“, schwärmt Birgit Symader, die Vorsitzende des Arbeitskreises für Erdstallforschung e.V. im Gespräch mit NATIONAL GEOGRAPHIC.
Erklärungsversuche und Geheimnisse
Das Wort „Erdstall“ kommt aus dem Niederösterreichischen und bezeichnet keinen Stall für Vieh, sondern leitet sich von „Stelle“ oder „Stollen“ ab. Die Forschung definiert einen Erdstall durch besondere bauliche Gegebenheiten: Es gibt nur einen Eingang und es muss ein Kreisgang oder eine Engstelle - der sogenannte Schlupf - vorhanden sein. Nischen, Bänke und Stufen sind weitere Charakteristika.
Erdstall mit Gängen, Kammern und Schlupfen
Erdställe setzen sich aus verschiedenen Kammern, Gängen und Schlupfen zusammen.
Bild Bearbeitet Grafik, D. Ahlborn. Vorlage: Modell Harald Fähnrich, Der Erdstall Nr. 4, Roding 1978
Außerdem haben alle Erdställe gemeinsam, dass man ihnen bisher keinen Zweck zuordnen konnte. Erklärungsversuche gibt es trotzdem: Wurden die Erdställe zum Beispiel als Lager genutzt? Gegen diese Theorie spricht, dass in den Erdställen kaum Spuren menschlicher Nutzung gefunden wurden. Hinzu kommt, dass die Erdställe sehr schmal und niedrig und nur schwer begehbar sind.
Auch als Fluchtort kommen Erdställe nicht in Frage, da sie nur einen Eingang haben: Hätten Angreifer den Erdstall entdeckt, wären ihnen die darin versteckten Menschen hilflos ausgeliefert gewesen. Zudem ist es in Erdställen kalt. Ein wärmendes Feuer hätte den Sauerstoff in den Gängen aufgebraucht.
Einer weiteren Theorie nach dienten die Erdställe zu Zeiten der Völkerwanderung als Leergräber. Die Körper der Toten lagen weit entfernt, doch ihr Geist konnte in den Leergräbern nahe bei den Hinterbliebenen sein. Einige Forscher deuten die Erdställe als eine Art Wartesaal für Seelen. Diese Theorie stützt sich insbesondere darauf, dass sämtliche Erdställe etwa zu der Zeit aufgegeben wurden, als die Kirche begann, die Lehre vom Fegefeuer zu verbreiten.
Solange jedoch keine Belege für die eine oder andere Theorie gefunden werden, wehren sich Archäologen gegen eine voreilige Zweckbestimmung der Erdställe.
Die Anfänge liegen im Dunkeln
Wann die Erdställe gegraben wurden, ist noch nicht eindeutig geklärt. Ein Grund dafür ist, dass es bislang noch keine Methode gibt, die Verwitterung von Gestein unter der Erdoberfläche zu datieren. „Mit einer Datierung könnte man die Bauzeit genauer bestimmen, aber bislang fehlt uns diese archäologische Dokumentation“, so Birgit Symader.
Auch deshalb versucht Dieter Ahlborn von der Interessengemeinschaft Erdstallforschung eine Datierung der Erdställe in Verbindung mit der Siedlungsgeschichte: „Im Hochmittelalter erlebte Mitteleuropa eine Blütezeit. Die Bevölkerung wuchs und es wurden zahlreiche Dörfer gegründet, in denen Erdställe angelegt wurden.“ Die Dörfer und Hilfsschächte zum Bau der Erdställe sind archäologisch nachweis- und somit datierbar. „Als im Spätmittelalter die Bevölkerungszahlen durch Unruhen, Krieg und Hungersnöte zurückgingen, wurden viele Dörfer und mit ihnen die Erdställe wieder verlassen.“ Allerdings schränkt Archäologin Birgit Symader ein, dass die Hilfsschächte auch erst verschlossen worden sein könnten, als die Anlagen nicht mehr gebraucht wurden.
Tatsächlich sind die wenigen Relikte, die in den Erdställen bisher gefunden wurden, auf das Hochmittelalter bis ins späte 13. Jahrhundert zu datieren. „Die meisten Funde in Bayern stammen aus dem 11. Jahrhundert“, erklärt Dieter Ahlborn. „Insgesamt passen die Erdstalltätigkeiten in einen historischen Kontext des Hochmittelalters.“
Die Funde geben jedoch lediglich Auskunft darüber, wann die Erdställe zuletzt genutzt, aber nicht, wann und von wem sie errichtet wurden. Bislang wurden nur drei Anlagen archäologisch untersucht. Die hier geborgenen Funde erlauben eine Datierung. Bei allen bisher gefundenen Erdställen handelt es sich zudem um Fragmente, nicht um vollständige Anlagen.
Mühlsteine in einem Erdstall
Im Erdstall in Mitterschneidhart wurden zwei Mühlsteine entdeckt.
Bild Dieter Ahlborn
Bei den bisher gesicherten Funden handelt es sich beispielweise um Keramikscherben aus dem 11. Jahrhundert, die bei den Grabungen in Grasfilzing und Rabmühle geborgen wurde. In anderen Erdställen wurde außerdem Holzkohle von Kienspänen und in Einzelfällen nicht mehr identifizierbares organisches Material gefunden. Keiner der bisher untersuchten Funde konnte jedoch einer bestimmten Kultur oder spirituellen Praxis zugeordnet werden.
Auch aus diesem Grund gehen Archäolog*innen wie Birgit Symader nicht davon aus, dass die Erdställe das Werk eines bestimmten Volksstammes sind. Viel mehr hält sie die Bodenbeschaffenheit für einen entscheidenden Faktor bei der Verbreitung der Erdställe. Auch Dieter Ahlborn bekräftigt: „Die Anlagen unterscheiden sich von der Statik her – in instabileren Böden sind die Bauten breiter – aber wir finden Erdställe in den unterschiedlichsten Geologien.“ Ideale Voraussetzungen für Erdställe sind ein ausreichend fester Boden, der eine Bearbeitung mit einfachen Werkzeugen erlaubt. Dazu zählen zum Beispiel Lehm, Sandstein oder Löss, aber auch verwitterter Granit. In sehr instabilen Böden kommen Erdställe ebenso wenig vor, wie in massivem Fels.
Die Bearbeitungsspuren im Boden liefern einige der wenigen gesicherten Beweise der Erdstallforschung. An ihnen kann man etwa ablesen, aus welcher Richtung der Bau vorangetrieben wurde. Zudem erlauben sie eine ungefähre Abschätzung, wie lange der Bau gedauert hat: Ein einziger Erdstall bedeutete einen Arbeitsaufwand von mehreren Jahren, abhängig von der Bodenbeschaffenheit.
Denkmalschutz für Erdställe
Einen neu entdeckten Erdstall klammheimlich wieder zuzuschütten, davon kann Birgit Symader nur abraten: Es handelt sich dabei um eine Ordnungswidrigkeit, die mit Geldstrafen geahndet wird. „Das Strafmaß entspricht mittlerweile dem, was die archäologische Dokumentation des Erdstalls gekostet hätte“, warnt die Forscherin. Weil über die Erdställe noch so vieles im Dunkeln liegt, ist jede verschüttete Anlage ein großer Verlust.
Besonders durch Umsiedelungen und Kriege ging vielerorts das Wissen um die archäologische Bedeutung der Erdställe verloren, sodass viele Anlagen bereits verschüttet wurden. Doch Erdställe sind Bodendenkmäler und als solche meldepflichtig. Es gelten die Regelungen der einzelnen Bundesländer. In Bayern müssen neu entdeckte Erdställe an die Untere Denkmalschutzbehörde oder das Landesamt für Denkmalschutz gemeldet werden.
Zudem sollten Laien nicht auf eigene Faust in den Erdstall steigen: Die Anlagen können einsturzgefährdet sein, außerdem besteht die Gefahr, stecken zu bleiben. Auch werden so archäologisch bedeutsame Spuren zerstört, warnt Symader: „Das ist ein Bodendenkmal, das Menschen genutzt haben. Dem sollten wir mit Respekt begegnen.“
Schlupfhöhle in einem Erdstall
Auch die Funktion der engen Schlupfe ist nach wie vor ein Rätsel.
Bild Dieter Ahlborn
Zwerge, Teufel und Menschen
Dass die meisten Erdställe bisher im Bayerischen Wald und in der Oberpfalz gefunden wurden, hängt laut Birgit Symader hauptsächlich damit zusammen, dass hier das Wissen um ihre Existenz über Jahrhunderte mündlich überliefert wurde. Zwar hat sich im Volksglauben die Interpretation als Schrazellöcher oder Teufelslöcher erhalten, damit einhergehend jedoch auch das Bewusstsein, dass die Gänge, die vor allem unter Bauernhöfen, aber auch in der Nähe von Kirchen und Friedhöfen oder auf freiem Feld gefunden wurden, von besonderer historischer Bedeutung sind. „Ob Erdställe gefunden werden oder nicht, hängt immer von den Menschen ab“, ist die Archäologin überzeugt.
Das Bewusstsein für die kulturgeschichtliche Bedeutung der Erdställe hat sich nach Einschätzung von Birgit Symader in den letzten Jahren jedoch deutlich gebessert. Dies zeigt sich auch darin, dass den Denkmalschutzbehörden immer mehr Erdställe gemeldet werden.
Erdstallvorkommen müssen nicht auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt sein. Der wichtigste Faktor bei der Erstallforschung ist laut Birgit Symader, dass es in allen Gebieten mit hohem Erdstall-Aufkommen Menschen gab und gibt, die sich gekümmert und danach gesucht haben, die mit den Anwohnern sprachen und so ein Bewusstsein für die Einzigartigkeit der Erdställe schufen. „Ich bin mir sicher, gäbe es jemanden, der sich darum kümmert, würde das in vielen Bereichen Deutschlands anders aussehen“, so die Archäologin. „Es steht und fällt mit den Menschen.“
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