Braindrain "nicht aufzuhalten" Russland verliert sein wichtigstes Kapital
Von Sarah Platz 10.04.2022, 18:47 Uhr
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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bringt Hunderttausende Russen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Besonders hart zu spüren bekommt das die russische IT-Branche. Für die Wirtschaft des Landes könnte das verheerende Folgen haben.
In Russland herrscht Kofferstimmung. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verlassen Scharen an Russinnen und Russen ihre Heimat. Es fühle sich unmoralisch an, zu bleiben, beschreibt die russisch-US-amerikanische Journalistin Masha Gessen die Bredouille vieler Russen im Magazin "The New Yorker". Es sei, "als sitzt man in einem der Flugzeuge, das Bomben abwirft". Gessen kennt viele der Menschen, die ihr Heimatland Russland in den vergangenen Wochen verlassen haben. Unter ihnen sind Historiker, Medienangestellte und Aktivisten. Zu dem Gefühl, sich verantwortlich zu machen, kommt die Angst vor politischer Verfolgung, der Wehrpflicht und der fortschreitenden Isolation des Landes. "Sie sind gegangen", schreibt die Journalistin, "weil das Russland, das sie aufgebaut und bewohnt haben, verschwindet".
Die Migrationsforscherin Olga Gulina schätzt die Zahl derer, die Russland bereits den Rücken gekehrt haben, auf mittlerweile 300.000. Viele weitere sitzen auf gepackten Koffern, sagt die Leiterin des RUSMPI-Instituts, einem Think Tank für Migrationspolitik, im Gespräch mit ntv.de. "Das sind vor allem junge, produktive, städtische und besonders gut ausgebildete Leute wie Finanzangestellte, Journalisten und IT-Spezialisten." Russland erlebe somit einen "Exodus an schlauen Köpfen", so Gulina. Es seien Menschen, die durch Bildung zum Selbstdenken angeregt wurden. Das Putin-Regime haben sie nie unterstützt. Der Beginn des Kriegs war für sie somit weniger Grund als vielmehr Auslöser, ihre Heimat nun endgültig zu verlassen.
Für viele ist dies der einzige Weg, gegen die Politik des Kremls zu protestieren. Denn seit Beginn des Angriffskriegs hat der russische Präsident Wladimir Putin die Meinungsfreiheit noch einmal massiv eingeschränkt: Jeder Hauch von Solidarität mit der Ukraine ist verboten. Demonstrationen werden unterdrückt, eine freie Presse gibt es nicht mehr, und für eine lange Haftstrafe reicht es, die Angriffe russischer Truppen in der Ukraine Krieg zu nennen. Wer mit der Politik des Kremls nicht einverstanden ist, hat nur noch eine Wahl: im Land bleiben und schweigen oder gehen.
Die meisten reisen mit One-Way-Ticket
Allerdings sind die Hürden für eine Auswanderung hoch. So untersagt Moskau seinen Bürgern, das Land mit mehr als 10.000 Dollar im Gepäck zu verlassen. Auch fehlende Sprachkenntnisse, Probleme bei internationalen Finanztransaktionen sowie geschlossene Botschaften und Lufträume erschweren die Ausreise. Die meisten wandern daher in Länder der Eurasischen Union wie Armenien, Kasachstan oder Kirgistan aus. Hier können sie 30 Tage ohne Anmeldung bleiben und Konten mit Rubel eröffnen, sagt Gulina. Weitere Ziele sind Georgien, Aserbaidschan, Dubai, die Türkei, Griechenland, Bulgarien, Serbien, Usbekistan oder die Mongolei.
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Die Migrationsforscherin betont zudem, dass nicht jeder, der gehen will, auch die finanzielle Möglichkeit dazu hat. Die Preise für Flugtickets und die Mieten in den Zielländern schießen wegen der hohen Nachfrage in die Höhe. "Und trotz all dieser Herausforderungen", sagt die Expertin, "verlassen die meisten Russinnen und Russen ihr Land mit einem One-Way-Ticket". Umfragen haben ergeben, dass 70 Prozent derer, die Russland verlassen haben, "nie wieder nach Russland zurückkehren wollen".
Für den Moment könnte Putin dieser Braindrain sogar in die Karten spielen. Denn es sind genau jene gebildeten und global interessierten Menschen, die ihm gefährlich werden könnten. "Die Russen, die gerade auswandern, sind innovativ", sagt der Wirtschaftswissenschaftler und Studiendekan des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin, Theocharis Grigoriadis im Gespräch mit ntv.de. "Das heißt, sie haben die Fähigkeit, einen Wandel herbeizuführen - wirtschaftlich und auch politisch." Dass jene Menschen nun gehen, mache es Putin leichter, "die Opposition im Land klein zu halten", erklärt der Ökonom.
Russlands Humankapital schwindet
Auf lange Sicht könnte die starke Abwanderung hoch gebildeter Russen jedoch gravierende Folgen für die Wirtschaft des Landes haben. Denn sie nehmen nicht nur ihr Geld, sondern vor allem ihre Fähigkeiten mit. "Das Humankapital gehört zu den wichtigsten Faktoren von Russlands Wirtschaftswachstum - es treibt Innovation und Kreativität voran", sagt Grigoriadis. So kommt ein großer Teil der Auswanderer aus der IT-Branche. Seit Beginn des Kriegs haben etwa 50.000 bis 70.000 russische IT-Fachleute ihr Land verlassen, berichtete der Russische Verband für elektronische Kommunikation (RAEC). Und dies sei nur die erste Welle. Der Verband rechnet allein im April mit bis zu 100.000 weiteren Fachkräften, die das Land verlieren wird.
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Dass gerade die Technologie-Spezialisten in Massen das Land verlassen, sei nicht verwunderlich, sagt Grigoriadis. Russlands Ausbildung in diesem Bereich genieße global einen guten Ruf. "Russische IT-Kräfte sind daher sehr gefragt im Ausland." Die überwiegend jungen IT-Fachkräfte haben damit sehr gute Chancen auf Jobs und bessere Gehälter außerhalb Russlands.
Während die junge Generation ihre Erfahrungen mit dem globalen Kenntnisstand vernetzen möchte, gleitet Russland immer weiter in die Isolation. "So etwas treibt die Menschen aus dem Land", sagt Grigoriadis. Allerdings sei dieser Trend nicht erst seit dem 24. Februar dieses Jahres zu beobachten. "Man spricht schon seit der Krim-Annexion vom Putin-Exodus in Russland." So verlassen die Russen ihr Land nicht nur wegen dessen Kriegsverantwortung, sondern auch wegen der eigenen wirtschaftlichen Situation, die "in den vergangenen zehn Jahren immer schlechter wurde."
Der Kreml ist alarmiert
"In den letzten mehr als zwölf Jahren gab es im Durchschnitt kein Wirtschaftswachstum und immer weniger Möglichkeiten für junge Menschen", sagte Nikolai Roussanov, ein Wirtschaftswissenschaftler an der Universität in Pennsylvania, zum "Business Insider". Wegen des russischen Angriffskriegs und der darauffolgenden Sanktionen des Westens wurde Russland "schnell zu einem wirtschaftlichen Paria": Bei IKEA, H&M, McDonald's und Co. gingen die Lichter aus, viele Tech-Konzerne wie Twitter und Meta wurden verboten. Hunderttausende verloren ihre Arbeit. Diese Entwicklung werde das Land in die schwerste Rezession seit Anfang der 1990er Jahre stürzen, prophezeit Roussanov. Und: "Die Abwanderung wird sich noch beschleunigen."
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Das alarmiert offenbar auch den Kreml. So kündigte das russische Finanzministerium bereits "Maßnahmen zur Unterstützung der IT-Branche" an. IT-Unternehmen und Softwareentwickler sollen deutliche Steuererleichterungen und bessere Darlehens-Konditionen erhalten. Für die Mitarbeiter der Branche soll sogar die Wehrpflicht ausgesetzt werden.
Wirtschaftswissenschaftler Grigoriadis geht jedoch nicht davon aus, dass die Maßnahmen irgendjemanden zum Bleiben bewegen. Die Russen gehen wegen einer Vielzahl an Gründen. Dazu gehört die wirtschaftliche Situation des Landes, die gesellschaftliche Isolation und schließlich die Politik des Kremls und der Krieg gegen die Ukraine. "Ich denke, Putin ist überhaupt nicht mehr in der Lage, diese Leute zu behalten", sagt Grigoriadis. Der Braindrain in Russland sei damit nicht mehr zu stoppen.