Das Geheimnis der Erziehung Von Pfarrer Robert Mäder Entweder ist der Katholizismus, wie es schon das Wort sagt, das Ganze, oder der Katholizismus ist in Gefahr, nichts zu werden. Wie unser Gott, so unser Glaube. Unser Gott ist ein Allgegenwärtiger, ein Allwissender und Allmächtiger. Darum muß auch die Religion, welche nichts anderes ist als Gott mit uns und wir mit Gott, etwas Allgegenwärtiges sein. Immer und überall! Der Liberalismus hat die Religion, man möchte sagen lokalisiert und temporisiert, eingekerkert innerhalb der engen Grenzen gewisser Orte und Zeiten. Die Religion darf schöne Gottesdienste feiern und fromm im stillen Kämmerlein seufzen, aber über die Luft der Öffentlichkeit hat sich der Liberalismus das Hoheitsrecht vorbehalten.
Don Bosco reklamiert dem Liberalismus gegenüber im Namen des Gewissens und der Freiheit das Recht auf Luft und Licht. Das Recht auf katholisches Recht und katholische Energien als notwendige Voraussetzung zur Erziehung der katholischen Jugend. Und zwar immer und überall und bei allem. Mit anderen Worten: Don Bosco verlangt die Allgegenwart der Religion, das Christkönigtum im vollen Sinn des Wortes. Es ist wieder die Idee vom Milieu. Der junge Mensch soll, um zu starker Tugend heranzuwachsen, hineingestellt werden in eine Umgebung, wo das Maximum von guten und das Minimum von gefährlichen Einflüssen sich geltend machen kann. Don Bosco nennt diese Milieukultur das Präventiv- oder Vorbeugungssystem im Gegensatz zum modernen Erziehungssystem, das sagt: »Werft die Jugend hinaus ins Wasser, damit sie schwimmen lernt!«
Man muß den jungen Menschen einem Maximum von Licht aussetzen, um die moralische „Unmöglichkeit“ der Sünde zu erreichen. »Jeder, der Böses tut, haßt das Licht. Er kommt nicht an das Licht, damit er nicht seiner Taten überführt werde. Wer aber nach der Wahrheit handelt, kommt zum Licht, auf daß seine Werke offenbar werden. Denn sie sind in Gott getan« (Joh 3,20-21). Jede Sünde fängt mit einer gewissen moralischen Verfinsterung an. Das Licht wird ausgeschaltet. Man vergißt die Wahrheit oder man läßt sich umnebeln. Das kann aus Schwachheit, aus Leichtsinn oder aus grober Schuld geschehen. Aber, welches auch der Grund sein mag, die Finsternis ist der Anfang der Sünde.
Hier setzt Don Bosco ein. Er macht Licht um den Menschen. »Es war ein Mann. Von Gott gesandt. Sein Name war Johannes. Der kam zum Zeugnis. Zeugnis sollte er geben vom Licht. Er war nicht das Licht. Nur Zeugnis sollte er geben vom Licht. Das wahre Licht, das jedoch Menschen erleuchtet, kommt in die Welt« (Joh 1,6 ff.). Predigt und Religionsunterricht als Lichtquellen genügen nicht. Es ist Sache des Erziehers, immer wieder die ewigen Wahrheiten als Leuchtsignale an den Lebensweg des jungen Menschen aufzupflanzen.
Das verstand unser Heiliger unaufdringlich und doch eindringlich bei jeder sich darbietenden Gelegenheit zu tun. Charakteristisch ist nach der Richtung die in den salesianischen Häusern eingeführte Sitte der Zweiminutenansprache nach dem Nachtgebet. Ein paar liebe, ernste Worte. Wegweiser und Warnungstafel. Don Bosco nannte diese Gepflogenheit den Schlüssel der Moralität, des guten Fortgangs und Erfolges der Erziehung. Gebt der Jugend immer wieder große, übernatürliche Gedanken, Lichter am Weg.
Man muß den jungen Menschen einem Maximum von übernatürlichen Energien aussetzen, um die moralische „Unmöglichkeit“ der Sünde zu erreichen. Das tun die Sakramente. »Die häufige Beicht, die öftere Kommunion, die tägliche Messe sind die Säulen eines Erziehungsgebäudes, von dem man Drohung und Strafe fernhalten will. Kein Zwang zum öfteren Sakramentenempfang, aber Aufmunterung dazu und passende Gelegenheiten … So bekommen die Jünglinge Lust und Liebe zu den Übungen der Frömmigkeit. Sie machen spontan, gern, freudig mit.«
Don Bosco ist der Torläufer der Frühkommunionbewegung. Im Jahre 1880, 30 Jahre vor dem Erscheinen des berühmten Dekretes Pius X., schrieb der Heilige in seinem Sistema preventivo nella educazione della gioventù: »Man halte fern – wie eine Pest – die Meinung derjenigen, welche die erste Kommunion auf ein zu vorgerücktes Alter verschieben möchten, wo meistens der Teufel schon zum unberechenbaren Schaden der Unschuld vom Herzen eines Jünglings Besitz genommen hat. Nach der Disziplin der Urkirche pflegte man den Kleinen die konsekierten Hostien zu reichen, die bei der Osterkommunion übrigblieben. Das läßt uns erkennen, wie sehr die Kirche die frühzeitige Zulassung der Kinder zur heiligen Kommunion wünscht. Wenn ein Knabe zwischen Brot und Brot zu unterscheiden weiß und sich genügend unterrichtet zeigt, dann schaue man nicht mehr auf das Alter. Der König des Himmels komme und herrsche in dieser gebenedeiten Seele.«
Wir sehen: Das salesianische Präventivsystem in der Erziehung ist wesentlich eucharistisch. Man beugt vor, indem man stärkt. Man stärkt, indem man ißt. Man ißt übernatürlich, indem man kommuniziert. Die Kommunion ist die Seele der vorbeugenden Erziehung. Wir stehen voll Verwunderung vor dem Festungswerk der christlichen Jugendfürsorge gegen Gottlosigkeit und Sittenverderbnis. Allein Don Bosco könnte der heutigen Pädagogik den Vorwurf nicht ersparen, daß sie im allgemeinen ihre Festungen zu spät baut, nach der ersten schweren Sünde, nach der ersten verlorenen Schlacht. Sie beschränkt sich viel zu sehr auf den Dienst der Sanitäter auf dem Kriegsschauplatz, statt vor allem auf die Verhütung der ersten Niederlage zu achten. Denn der Verlust der ersten Schlacht ist sehr oft auch der Verlust des ganzen Jugendfeldzuges. Die Ablehnung der Frühkommunionidee Don Boscos und des zehnten Pius war darum der große Sündenfall der modernen Pädagogik.
Daß das nicht bloß Theorie ist, beweist der bekannte Vorfall mit Lord Palmerston. Es war 1877. Der Minister Englands besuchte ein salesianisches Institut in Turin. Er betrat einen Studiensaal mit 500 Knaben. Kein Laut im ganzen ungeheuren Raum. Trotzdem kein einziger Aufseher da war. Der englische Lord erstaunte aufs höchste, als man ihm sagte, daß vielleicht das ganze Jahr keine Störung zu beklagen oder zu ahnden sei.
»Wie ist das möglich, ein solches Stillschweigen, eine solche Disziplin?« »Mein Herr«, antwortete der Direktor des Hauses, »das kann man bei euch nicht nachmachen.« »Warum?« »Das ist katholisches Geheimnis!« »Was für ein Geheimnis?« »Die häufige Beichte, die öftere Kommunion, die andächtig angehörte tägliche Messe.« »Sie haben recht, diese mächtigen Erziehungsmittel fehlen uns. Gibt es keinen Ersatz dafür?« »Wenn man diese religiösen Mittel nicht gebraucht, dann muß man zum Stock greifen.« »Sie haben recht. Sie haben recht. Entweder die Religion oder der Stock! Ich will das in London erzählen.« Wir sehen: Man muß den jungen Menschen einem Maximum von übernatürlichen Energien aussetzen, um die moralische „Unmöglichkeit“ der Sünde zu erreichen.
Ein drittes Gesetz der salesianischen Präventivmethode: Man muß den jungen Menschen in ein Maximum von katholischer Luft hineinsetzen, um die moralische „Unmöglichkeit“ der Sünde zu erreichen. Ich verstehe unter katholischer Luft die einheitliche, übernatürliche Einstellung der ganzen Umgebung. Der Zögling Don Boscos findet weder Zeit noch Ort noch Gelegenheit zum Bösen. Er lebt sozusagen beständig unter den Augen der Autorität. Er fühlt sich nie allein, aber gerade darin findet er eine Förderung, keine Hemmung, weil die Autorität nicht etwas Polizeihaftes, sondern etwas Väterliches an sich trägt. Das Haus des Vaters hat nie den Charakter eines Gefängnisses.
Wenn die Pædagogia perennis, die Erziehungsweisheit der christlichen Jahrhunderte, nach katholischer Luft für katholische Jugend ruft, verlangt sie naturgemäß auch energische Abwehr gegen alles Unchristliche und Unkatholische, alles Luftvergiftende. Don Bosco nimmt jeden auf, der guten Willens ist, aber er ist unerbittlich gegen das Gemeine. »Man gebrauche die größte Wachsamkeit, um den Eintritt von schlechten Kameraden und Büchern in das Erziehungsinstitut zu verhindern. Hauptsache für ein Haus ist ein guter Portier.«
Es war ein verhängnisvoller Fehler, daß wir bei unsern katholischen Unternehmungen allzuoft den „Portier“, den Engel mit dem Flammenschwert, vergessen, Zugeständnisse gemacht an den Zeit- und Weltgeist, oder gar dem Interkonfessionalismus und der Konfessionslosigkeit Tür und Fester geöffnet haben. Don Bosco sagt uns: Hütet die Tore! Der beste Schutz gegen die Schwindsucht jugendlicher Charakterlosigkeit ist die reinkatholische Luft! Darum: Nicht hinaus in die Welt und mit der Welt, sondern zurück von der Welt!
Durch ein Maximum von göttlichem Licht, von Gnadenenergie und katholischer Luft zu einem Maximum von Christentum! Man sucht jetzt das Heil der Völker in der Rückkehr zur Rasse. Es gibt auch eine übernatürliche Rassenkultur. Wir sind durch die Taufe in Christus ein göttliches Geschlecht geworden. Das Wichtigste, was wir unserer katholischen Jugend zu sagen haben, heißt Wiedergeburt. Das höchste menschliche Lebensgesetz »sei, was du bist« lautet für sie: »Seid Christen!« Wiedergeburt besteht darin, daß man das wieder ganz wird, was man von Haus aus ist, daß man also zu seinem eigentlichen Wesen zurückkehrt.
Quelle: »Die Schildwache«, Basel, Jahrgang 1934.
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