1. Oktober – Der heilige Melar (+ 411)
Vor vielen Jahren ging ich einsam auf dem großen Kirchhof in Karlsruhe umher und las viele Inschriften auf Kreuzen und Grabsteinen. Nur ein einziger Spruch hat mich angerührt und ist mir im Gedächtnis geblieben; er steht auf dem Totenkreuz eines fünfjährigen Kindes und lautet:
„Leb wohl, du liebes, treues Herz!
Dein kurzes Leben war ein langer Schmerz.“
An dieses Kind und diesen Vers erinnerte mich wieder die Legende des heiligen Melar, der auch eine so traurige Kindheit gehabt hat. Die alte Sage über ihn berichtet folgendes:
1. „Da im Anfang der Religion die apostolische Lehre sich über den Erdkreis bei allen Völkern verbreitete, wurde auch die Völkerschaft von Britannien zum Glauben bekehrt, und viele, die dem Herrn glaubten und die apostolischen Vorschriften befolgten, glänzten durch verschiede Tugendwunder; zu ihrer Zahl hat auch der selige Melar nach unserer festen Überzeugung gehört.“
2. „Er war nämlich von edlem britannischen Geschlecht, und sein Vater, Melian, besaß das Herzogtum von Cornubia, zu dessen Zeit sieben Jahre lang kein Regen auf Erden fiel. Da aber im siebten Jahr eine Ratsversammlung der Vornehmsten des Landes gehalten wurde, wie der allgemeinen Not abzuhelfen sei, kam Rinold, vom bösen Geist getrieben, und tötete seinen Bruder Melian und riss die Regierung an sich.“
3. „Es hatte aber Melian einen kleinen Sohn von sieben Jahren, den der Oheim nach des Vaters Mord zu töten versuchte aus Furcht, dass, wenn der Junge übrigbleibe und zum Mannesalter käme, er ihm das Herzogtum wieder entrisse. Rinold, im Zweifel, was er machen solle, führte den Jungen mit sich nach Cornubia; dort war eine Versammlung von Bischöfen und vielen anderen zusammengekommen; auf das Bitten und Flehen der Versammelten wurde der Junge nicht getötet, sondern ihm nur die rechte Hand und der linke Fuß abgehauen. Später machte man aber dem seligen Melar eine silberne Hand und einen Fuß aus Messing; und er nahm fromm und unschuldig von Tag zu Tag in den Tugenden zu, wurde in einem Kloster von Cornubia ernährt und beschäftigte sich mit Lesen der heiligen Schriften bis zum vierzehnten Jahr.“
4. „Da versprach aber sein Oheim dem Pfleger Cerialtan viele Geschenke und Besitzungen, wenn er seinen Zögling töte; und sie wurden des ruchlosen Handels einig, dass Cerialtan den Kopf des Unschuldigen abhaue, dem Rinold brächte und den versprochenen Lohn erhalten solle. Als der Junge enthauptet war, sollte der Sohn des Cerialtan den Kopf unbemerkt fortbringen; da er aber über die Mauer steigen wollte, stürzte er durch Fügung des gerechten Gottes von der Mauer, brach das Genick und starb.“
5. „Nun fasste Cerialtan den Kopf und floh damit zu Rinold. Dieser empfing ihn mit großer Freude und sprach: „Mach dich auf und besteige den Gipfel des Berges, und so weit du das umherliegende Gebiet überschauen kannst, werde ich dir es gern zum Besitz geben.“ Jener aber stieg auf den Berg und, indem er sich umschauen wollte, wurde er des Lichtes beider Augen beraubt und starb dann eines schnellen Todes. Sein Fleisch aber wurde flüssig wie Wachs in der Nähe des Feuers.“
6. „Da nun der Leib des heiligen Melar an dem Ort seines Martertums begraben wurde, wurde er den folgenden Tag über dem Erdboden gefunden; und da der Körper an drei verschiedenen Orten begraben wurde und jedes Mal das gleiche geschah, so wurde Rat geschlagen. Man legte den heiligen Leib auf einen Wagen, an den zwei wilde Stiere gespannt wurden. Und sieh, die Tiere zeigten sich auf einmal zahm, zogen den Leichnam bis zu einem gewissen Ort und blieben dann stehen. Da aber der Volksmenge dieser Ort nicht gefiel als Ruhestätte des Heiligen, so legten sie Hände, Arme und Schultern an die Räder, um sie in Bewegung zu setzen; aber der Wagen war durch höhere Einwirkung so fest und unbeweglich, dass er durch keine menschliche Kunst oder Kraft vom Platz zu bringen war. Da sie nach öfteren Versuchen nichts ausrichteten, sagten sie Gott Dank und beerdigten an eben diesem Ort ehrerbietig den Leichnam. Die, die seinen Beistand anflehten, pflegten aber mit Gewährung der gewünschten Hilfe erfreut zu werden.“
7. „Drei Tage danach, als dem Rinold der Kopf des Märtyrers gebracht worden war und er ihn angerührt hatte, starb der Tyrann eines unglückseligen Todes. Der Kopf wurde zu dem übrigen Leib begraben, aber nach Verlauf von vielen Jahren in die Kirche zu Ambrisburia gebracht und als Reliquie verehrt. Einmal brachen Räuber nachts in die Kirche von Ambris buria ein und trugen den Schrein des heiligen Melar mit sich fort; sie rissen die goldenen und silbernen Spangen hinweg und warfen dann das Behältnis mit den Reliquien in eine Höhle. Ein Priester aber, der vor Tag aufgestanden war, sah eine strahlende Lichtsäule, die vom Himmel zu der Höhle herabhing; er näherte sich dem Ort, fand den Schrein und trug ihn zur Kirche zurück.
Melar starb am 1. Oktober 411.“
So weit geht der alte Bericht. Es wird wohl jeder herzliches Mitleid mit dem armen Waisenkind fühlen, dem der Vater hingemordet wird, dem Hand und Fuß abgehauen, und dem sieben Jahre später auch noch das Leben gewaltsam genommen wird. Warum aber wird der junge Melar ein Märtyrer genannt, da er doch nicht um des Glaubens willen den Tod gelitten hat, sondern durch die Herrschsucht des unmenschlichen Rinold? Wenn ein Kind getauft ist, so ist seine Seele rein und schön vor Gott und wenn es stirbt, steht ihm nichts im Weg, alsbald in den Himmel zu kommen. Aber eine solche Kinderseele hat eben nichts aufzuweisen als das Verdienst Jesu Christi. Wenn hingegen ein Kind so weit herangewachsen ist, dass es auch Gott und den Heiland erkennt und liebt, und einen frommen Wandel führt, so ist eben eine solche Seele noch höher gestiegen und ein besonderer Gegenstand des Wohlgefallens Gottes, und wenn es stirbt, kann man es wohl um seine Fürbitte beim himmlischen Vater anrufen. Wenn aber ein unverdorbenes, gottesfürchtiges Kind erst noch schwere Leiden dulden muss, sei es infolge von Armut oder Krankheit, sei es durch böse Menschen, so sind diese Leiden nicht, wie gewöhnlich bei uns erwachsenen Menschen, ein Zuchtmittel für Sünden und Fehler, sondern sie sind ein besonderes Ehrenzeichen für das fromme Kind. Gott will ihm damit einen höheren Rang im Himmel verleihen; es soll größere Ähnlichkeit mit Christus bekommen, der auch unschuldig gelitten hat. Ein solches Kind, das mit christlicher Geduld Schweres leidet, wird von Gott mit einer unaussprechlichen Liebe geliebt und bekommt den Rang eines Märtyrers. Dies hat sich bei dem heiligen Melar auch erwiesen durch die Wunder, die bei seinen Reliquien geschehen sind.
Wenn du daher siehst, dass dein eigenes oder ein fremdes Kind schwer leiden muss, so lass keine Zweifel an Gottes Vorsehung oder Güte in dir aufkommen; schau im Licht des Glaubens über die Erde hinaus und bedenke, dass Gott dem Kind mit dem Kreuz gleichsam ein Guthaben, eine Verschreibung schenkt, die ihm ganz besondere Güter und Freuden jenseits zusichert. Hilf du dem Kind nur, dass es in seinem Leiden viel nach dem himmlischen Vater und Jesus Christus seine junge Seele wende; dann wirst du an ihm einen kräftigen Beistand im Himmel haben. Es scheint sogar, dass Gott solchen jungen Märtyrern gleichsam zur Freude und zum Spiel es vergönnt, zuweilen Hilfe auf die Erde zu bringen, wie christliche Eltern oft durch ihr Kind das Almosen schicken, das sie einem Armen zugedacht haben. Es wird gerade ein solches Ereignis in der Geschichte des heiligen Melar erzählt, das ich hier noch beifüge. Der heilige Melar erschien einmal dem Sakristan und sprach: „Godrich, stehe auf, das Gewölbe der Kirche hat Risse und ist nahe daran, einzustürzen.“ Dieselbe Erscheinung kam in der nächsten Nacht wieder; beim dritten Mal sprach sie: „Godrich, steh schnell auf und nimm die Bilder und den Schmuck des Altars und gehe möglichst geschwind hinaus, denn du stehst in ganz naher Todesgefahr.“ Kaum war der Sakristan zur Schwelle der Kirche hinausgetreten, so stürzte hinter ihm das Gewölbe der Decke herab und verschüttete den inneren Raum der Kirche.
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