Keuschheit – Katholische Altlast oder christliches Erkennungszeichen?
Vorbemerkung der Redaktion: Im September-Oktober-Heft von „Theologisches“ haben wir die Be-sprechung eines wichtigen Werkes von Gabriele Kuby zum Gender-Thema veröffentlicht. Der nun folgende Beitrag der Autorin konkretisiert die in ihrem Buch angesprochene Problematik im Blick auf die Tugend der Keuschheit. Der auf dem Kongress „Freude am Glauben“ gehaltene Vortrag (Fulda, 27. August 2010) wurde für die Veröffentlichung leicht überarbeitet.
Wann haben Sie zuletzt das Wort Keuschheit in den Mund genommen oder jemanden aussprechen hören? Es ist eines der Worte, das nicht mehr in unsere Zeit zu passen scheint, denn das, was es bezeichnet, entspricht nicht mehr dem Denken, Wollen und Handeln der meisten Menschen. Die Sprache verändert sich mit der gelebten Realität, aber sie ist auch ein Gefäß geheimnisvoller Weisheit, das aus einer anderen Quelle als der menschlichen Wirklichkeit gefüllt wird. Die Strategen der globalen Kulturrevolution vergreifen sich an der Sprache, um die Massen zu manipulieren, weil sie um die Macht des Wortes wissen. Es sollte unsere Alarmglocken schrillen lassen, wenn das Europä-ische Parlament das Wort Mutter zum „sexistischen Stereotyp“ erklären will! Im etymologischen Duden erfahren wir: Das Wort keusch stammt aus dem Frühmittelalter, es ist entlehnt aus dem lateinischen conscius, was bedeutet: mitwissend, eingeweiht, bewusst. Im Duden heißt es: „Aus der Bedeutung ‚der christlichen Lehre bewusst‘ entwickelten sich die Bedeutungen ‚tugendhaft, sittsam, enthaltsam, rein‘ “ – alles Worte, die weitgehend außer Gebrauch gekommen sind. Das Gefäß der Sprache ist nicht aus Stein, es ist abhängig vom Inhalt und sackt in sich zusammen, wenn es von der Wirklichkeit, die es umfängt, entleert wird. Ich werde im folgenden ausgiebig aus dem Katechismus der Katholischen Kirche zitieren, weil kaum mehr zu Gehör gebracht wird, was doch die geltende Lehre der Kirche ist. Das, was wir da lesen, ist Sand im Getriebe der Zeit, leider auch Sand im Getriebe der Kirche. Streuen wir also den Sand aus.
Zur begrifflichen Klärung
Keuschheit ist eine Tugend, die der Kardinaltugend der Mäßigung zugehört, welche, laut Katechis-mus, „die Leidenschaften und das sinnliche Begehren des Menschen mit Vernunft zu durchdringen sucht“ (KKK 2341). Auch der Begriff Tugend kommt kaum mehr vor, nicht in Predigten, nicht in Erziehungsplänen, nicht bei der Erwägung, ob eine Person für hohe Staatsämter geeignet ist. Der Philosoph Alasdair MacIntyre hat darüber ein Werk verfasst mit dem Titel: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart . Auch der dunkle Bruder der Tugend, die Sünde, ist ein Wort, das aus der Mode gekommen ist, allerdings aus ganz anderen Gründen. Um im Bild zu blei-ben: Das Gefäß ist so voll geworden, dass es seinen Inhalt nicht mehr halten kann; überallhin hat er sich ausgebreitet und soll nicht mehr beim Namen genannt werden. Weil es so sehr in Vergessenheit geraten ist, was Tugend ist und bewirkt, sei wieder der Katechis-mus befragt. Dort heißt es: „Die Tugend ist eine beständige, feste Neigung, das Gute zu tun“ (KKK 1803; 1833). „Die menschlichen Tugenden … verleihen dem Menschen Leichtigkeit, Sicherheit und Freude zur Führung eines sittlich guten Lebens. Der tugendhafte Mensch tut freiwillig das Gute. Die sittlichen Tugenden … ordnen alle Kräfte des Menschen darauf hin, mit der göttlichen Liebe vereint zu leben“ (KKK 1804). Halten wir fest, was das eigentliche Ziel des Bemühens um Tugend ist: Mit der göttlichen Liebe vereint leben. Wer möchte das nicht, der eine Ahnung davon hat, dass Gott existiert und dass Gott die Liebe ist? Aber wer ist bereit, den Preis zu zahlen? Wer ist bereit, die Jugend zu lehren, dass die Erfüllung der Sehnsucht nach Glück eben nicht über Spaßmaximierung zu erlangen ist, sondern An-strengung, Überwindung, Selbstbeherrschung in Dienste eines leuchtenden Ziels, das Liebe heißt, eine Liebe, auf die Ehe und Familie gegründet werden können? Keuschheit ist dafür die notwendige Voraussetzung, die Investition, die eingezahlt wird auf die Realisierung des großen Traums der Liebe. Einem Menschen sagen können: „Ich habe auf dich gewartet!“ – ist das nicht erstrebenswert? Am Traualtar stehen und wirklich Braut sein in leuchten-der Schönheit, die nur die Reinheit schenkt. Den großen Friedensschluss zwischen Mann und Frau mit dem Versprechen lebenslanger Treue besiegeln – das klingt wie Kitsch, verklärte Romantik, gänzlich out of tune mit der heutigen Zeit. Und doch lebt dieser Traum in den Herzen junger Men-schen, viele suchen und manche finden den Höhenweg der Liebe. Keuschheit ist die Tugend der Mäßigung im Bereich der Sexualität. Sie ist immer notwendig, vor der Ehe, in der Ehe, in der Ehelosigkeit, dem Zölibat. Insbesondere das sexuelle Begehren neigt zur Maßlosigkeit und gebärdet sich gerne wie ein wildgewordenes Pferd, das von seinem Reiter nicht mehr gelenkt werden kann. Der Katechismus definiert Keuschheit so: „Keuschheit bedeutet die geglückte Integration der Geschlechtlichkeit in die Person und folglich die innere Einheit des Menschen in seinem leiblichen und geistigen Sein. Die Geschlechtlichkeit, in der sich zeigt, dass der Mensch auch der körperlichen und biologischen Welt angehört, wird persönlich und wahrhaft menschlich, wenn sie in die Beziehung von Person zu Person, in die vollständige und zeitlich unbe-grenzte wechselseitige Hingabe von Mann und Frau eingegliedert ist“ (KKK 2337). In nuce ist in dieser Definition die Lehre der Kirche über die Geschlechtlichkeit enthalten. Keuschheit bedeutet keine Ablehnung der Sexualität, keine „Sexualfeindlichkeit“, die der Kirche so gerne vorgeworfen wird. Keuschheit ist nicht leibfeindlich, auch wenn es leibfeindliche Häresien (wie den Manichäismus) gegeben hat. Die Tugend der Keuschheit beruht auf einem spezifischen Menschenbild, nämlich dem: Der Mensch ist in der Ebenbildlichkeit Gottes um seiner selbst willen geschaffen und zur Liebeseinheit mit Gott berufen. Darin liegt seine Würde, und diese Würde ver-bietet es, dass er für irgendetwas benutzt wird, etwa zur sexuellen Befriedigung. Der Mensch ist ei-ne Einheit aus Leib und Geist, eine Person, die dann in der Wahrheit lebt, wenn der sexuelle Trieb vom Geist durchdrungen und gelenkt wird, um Mann und Frau zur lebenslangen, wechselseitigen Hingabe zu befähigen, auf dass sie gemeinsam ihr letztes Ziel erreichen: das ewige Leben.
Eine das Gewissen beunruhigende Wahrheit Zu allen Zeiten war die Keuschheit ein hohes Ideal, das mal mehr, mal minder erreicht wurde, aber das Ideal wurde nie aufgegeben. Heute ist es im Begriff zu erlöschen. Keuschheit erscheint den meisten Zeitgenossen, besonders jenen, die über mediale Deu-tungsmacht verfügen, in der Tat als katholische Altlast, die zu entsorgen ist wie Müll, in der irrigen Vorstellung, dass wir dadurch unsere Sorgen loswürden. Keuschheit erscheint vor allem jenen als jüdisch-christliche Altlast, die sie als freiheitsberaubende Fessel empfinden und auf dieser Erde darum kämpfen, noch im letzten Winkel die Traditionen zu zerstören, die durch restriktive sexuelle Normen stabile Familienstrukturen ermöglicht haben. Die Wucht des Kampfes gegen die katholische Sexualmoral ist erklärungsbedürftig. Es kann ja niemand behaupten, die wenigen, die ihr noch anhängen, würden irgendwelche Versuche machen, sie der Mehrheit aufzuzwingen. Alles ist erlaubt, anything goes, alle Naslang dürfen sich die Zuschauer an neuen Grenzüberschreitungen im Fernsehen oder in der Bildzeitung ergötzen. Warum also so viel Aufregung darüber, wenn eine Stimme zwar ohne Macht, aber mit Vollmacht den „mo-ralischen Relativismus“ beklagt? Erklärbar ist das nur, wenn wir ernst nehmen, was Gott durch Jeremia sagt: „Ich lege mein Gesetz in sie hinein, ich schreibe es auf ihr Herz“ (Jer 32,33). Wir tragen also den Maßstab des Ge-wissens im eigenen Herzen, und dieses Gewissen soll nicht geweckt werden.
Die Unzucht als Widerspruch zur Keuschheit
Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Last der Keuschheit Christen von Jesus selbst auferlegt ist. „Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen“, lehrt Jesus in der kürzesten Ver-dichtung seiner Lehre, den Seligpreisungen. Kann es ein reines Herz in einem schmutzigen Leib geben? Noch versteht jeder, was im Bereich der Sexualität mit Schmutz gemeint ist, jeder weiß, was ein schmutziger Witz oder ein schmutziger Film ist. Immer geht es darum, dass einer den anderen schamlos zur Triebbefriedigung benutzt. Paulus sagt:„Hütet euch vor der Unzucht! Jede andere Sünde, die der Mensch tut, bleibt au-ßerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich gegen den eigenen Leib. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?“ (1 Kor 6,18-19). Und wieder taucht da ein Wort auf, das im Begriff ist, unter „Hassrede“ eingeordnet und kriminalisiert zu werden: die Unzucht. Bevor das Wort unter dem Schutt und den Scherben der De-moralisierung ganz begraben ist, sei noch einmal der Katechismus der Katholischen Kirche zitiert. In Zeiten, in denen de Heterosexuellen die Ehe zunehmend überflüssig finden, die Homosexuellen sie aber um so entschlossener für sich beanspruchen, weiß kaum einer mehr, wie trennscharf die Sünde der Unzucht definiert ist: „Unzucht ist die körperliche Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau, die nicht miteinander verheiratet sind. Sie ist ein schwerer Verstoß gegen die Würde dieser Menschen und der menschlichen Geschlechtlichkeit selbst, die von Natur aus auf das Wohl der Ehegatten sowie auf die Zeugung und Erziehung von Kindern hingeordnet ist. Zudem ist sie ein schweres Ärgernis, wenn dadurch junge Menschen sittlich verdorben werden“ (KKK 2353). Paulus war es darum zu tun, die Juden von der Gesetzlichkeit in die Freiheit der Liebe und Gnade Christi zu führen und die Heiden vor dem Joch jüdischer Gesetzesstarre zu bewahren. Dar-um kämpfte er auf dem ersten Apostelkonzil von Jerusalem: „Darum halte ich es für richtig, den Heiden, die sich zu Gott bekehren, keine Lasten aufzubürden; man weise sie nur an, Verunreini-gungen durch Götzenopferfleisch und Unzucht zu meiden“ (Apg 15,20).
Die Keuschheit als Grund für den Siegeszug des Christentums
Unzucht war also eine der unumstößlichen Trennlinien zwischen Heiden und Christen. Die Philo-sophin Gertrude Anscombe schreibt: „In der Antike gab es eine enorme Spannung zwischen der heidnischen und der christlichen Moral… Das Verbot der Unzucht muss besonders auffällig gewe-sen sein; es muss für viele eine tiefgreifende Veränderung des Lebens mit sich gebracht haben, wie es das heute täte. Christliches Leben bedeutet eine Trennung von den Maßstäben der Welt: Man konnte kein Anbeter Baals sein, man konnte nicht den Götzen opfern, Sodomie üben, neugeborene Kinder töten und dennoch ein treuer Christ sein.“ Der Grund dafür war die revolutionäre neue Sicht des Christentums auf die Frau: „Die Christen wurden gelehrt, dass Gatte und Gattin gleiche Rechte am Leib des anderen haben; eine Ehefrau wird beleidigt durch den Ehebruch ihres Gatten, ebenso wie der Gatte durch den seiner Gattin. Das Christentum akzeptierte auch die sexuelle Abwertung der Frau nicht, es rief die Prosti-tuierte zur Umkehr auf und verwarf auch das von der Gesellschaft respektierte Konkubinat. Und schließlich war durch das Wort des Herrn die Scheidung für Christen ausgeschlossen“ . In dieser „reinen und strengen Moral“ sieht Edward Gibbon einen Grund, warum das Chris-tentum das Römische Reich beerbte. In seinem berühmten Werk Verfall und Untergang des Römi-schen Reiches schreibt er: „Während dieser große Körper [das Römische Reich] durch offene Ge-walt erschüttert oder durch langsamen Verfall untergraben wurde, flößte sich eine reine und demü-tige Religion allmählich den Herzen der Menschen ein, wuchs empor in der Stille und Dun-kelheit, schöpfte neue Kraft aus dem Widerstande und pflanzte endlich das triumphierende Pa-nier des Kreuzes auf die Trümmer des Kapitols“. Wie war das möglich? Gibbon führt fünf Ursa-chen für den Siegeszug des Christentums an: „Die frühen Christen glaubten an das ewige Leben, sie waren unbeugsam und eifrig, sie wirkten Wunder, sie bewahrten Einheit und sie besaßen eine reine und strenge Moral“ . Sollten spätere Generationen Grund haben zu fragen, warum die christliche Kultur im Wes-ten untergegangen ist, so könnte die Antwort sein: Die Christen glaubten in ihrer Mehrheit nicht mehr an das ewige Leben, sie beugten sich dem Zeitgeist und waren lau, sie wirkten keine Wunder, sie waren gespalten und zerstritten und sie gaben die reine und strenge Moral auf.
Die „Entsorgung“ der Keuschheit in den letzten vier Jahrzehnten
Die letzten vier Jahrzehnte können als Entsorgungsphase von Tugend beschrieben werden, insbe-sondere im sexuellen Bereich. Spaß wurde als Lebenssinn verkauft und Sex als dessen höchster: Sex außerhalb der Ehe, Sex von Kindesbeinen an, Sex zwischen Alt und Jung, professioneller Sexservice für Behinderte, Sex zwischen Menschen gleichen Geschlechts (homo), Sex abwechselnd mit dem gleichen und dem anderen Geschlecht oder beiden zusammen (bi), Sex mit wechselndem eigenem Geschlecht (trans), Sex in serieller Monogamie und Sex in Polygamie und Polyandrie, dies alles auf dem Milliarden-Dollar-Markt der Pornographie zum visuellen Konsum jedem Mann und jeder Frau und jedem Kind dargeboten. Es gilt als Gebot der Toleranz, dies alles gut zu heißen. Es schlecht zu nennen, wird als Diskriminierung der Rechte von Minderheiten diskriminiert. So wird der Wertediskurs erstickt. Den Kindern und Jugendlichen wird das oben genannte sexuelle Menu per Schulzwang im jahrelangen, fächerübergreifendem Sexunterricht zur Auswahl angeboten. (Fast) alles ist erlaubt, sofern die Beteiligten es freiwillig tun. Grüne und Linke hatten sich lange dafür eingesetzt, dass auch „einvernehmlicher Sex“ zwischen Erwachsenen und Kindern freigegeben werde. Der Gesetz-geber hat zwar das Schutzalter kontinuierlich gesenkt, aber den Riegel doch noch nicht ganz zu-rückgezogen. Nun sehen wir: auch der hält nicht mehr: Millionenfach werden Kinder von Erwach-senen sexuell missbraucht. Kein Hahn krähte danach. Erst als ans Licht kam, dass dies auch inner-halb der Kirche geschieht, gab es berechtigtes, wenn auch scheinheiliges öffentliches Ent-setzen. Die Botschaft der säkularen Medien an die Kirche ist keineswegs: Lebt endlich, was ihr lehrt, reinigt euch von den homosexuellen Netzwerken in der Kirche, wie es euer Papst fordert, sondern ganz im Gegenteil: Gebt endlich den Zölibat und eure Sexualmoral auf! In diesen Chor stimmen die großen Laienverbände der Katholischen Kirche ein, das Zentralko-mitee der deutschen Katholiken, die katholischen Frauenverbände, der BdkJ, aber leider auch solche, die das gläubige Volk zu hüten und zu lehren hätten. So bezeichnete kürzlich ein Mo-raltheologe die „kirchliche Sexualmoral als nicht mehr zeitgemäß“ und forderte, die Kirche müsse den Schwulen und Lesben eine Antwort geben, wie sie mit ihrer Veranlagung umgehen sollen. Es fehle ein positives Echo für jene Homosexuellen, die eine feste Beziehung eingehen wollten . So wird die biblische Offenbarung und die bis zum heutigen Tag unveränderte Lehre der Kirche mit einem einzigen Kratzfuß vor dem Zeitgeist ins Aus gekickt.
Die katastrophalen Folgen des Verlustes der Keuschheit
Eine Gesellschaft, die lange der Auffassung war, die Aufklärung habe der Vernunft und Rationalität zum Sieg verholfen und mit dem Fall der Mauer sei das Ende aller Ideologie gekommen, verstopft Augen, Ohren und Herz vor den Zeichen der Zeit. Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um zu erkennen: - Die systematische Verhütung und straffreie Massentötung ungeborener Kinder führen zum Aus-sterben der Bevölkerung. - Die Sexualisierung der Bevölkerung und die Aufhebung aller sexuellen Normen führen zur Auflö-sung der Familie. - Die Auflösung der Familie führt massenhaft zu Angst, Depression und psychischen und so-matischen Störungen aller Art. Zerbrochene Familien erzeugen leistungsschwache, orientierungslose, kranke Jugendliche, von denen sich viele in Süchte aller Art flüchten und ein wachsender Anteil in die Kriminalität rutscht. Der Kinder- und Jugendgesundheitsservey (KiGGS, 2003-2006), spricht von einer „‘neuen Morbidität‘, die vorrangig von Störungen der Entwicklung, der Emotionalität und des Sozialverhal-tens bestimmt ist… Insgesamt zeigt sich in der Studie eine Verschiebung von akuten hin zu chroni-schen Erkrankungen wie Fettleibigkeit, Asthma oder Allergien und eine Zunahme psychischer Er-krankungen.“ . Neue Zahlen aus NRW zeigen, dass die Zahl der psychiatrischen Fälle bei Kindern zwischen 2000 und 2008 um fast die Hälfte gestiegen ist . Der Bedarf an Ärzten, Therapeuten, Poli-zisten, Justizbeamten und Gefängnissen übersteigt zusehends die Leistungsfähigkeit einer Gesell-schaft, die unaufhaltsam in die demografische Katastrophe hineinrutscht. Wie nachhaltig, um ein modisches Kunstwort zu gebrauchen, wie zukunftsfähig ist eine Ge-sell-schaft, die aller Vernunft zum Trotz Kinder und Jugendliche immer weiter in die Sexualisierung hineintreibt? Eine großangelegte Langzeitstudie von 14.000 US-amerikanischen Jugendlichen erbrachte folgende Ergebnisse: Jugendliche, die keine sexuellen Beziehungen haben, haben eine geringere Wahrscheinlich-keit, depressiv zu werden, einen Selbstmordversuch zu machen, sich mit Geschlechtskrankheiten anzustecken, uneheliche Kinder zu bekommen und als Erwachsene Sozialempfänger zu werden. Sie haben eine größere Wahrscheinlichkeit, stabile, lang dauernde Ehen einzugehen. Im Vergleich mit sexuell aktiven Jugendlichen haben jene, die bis zum 18. Lebensjahr keine sexuellen Beziehungen haben, eine - 60 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit, von der Schule zu fliegen - 50 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit, die Schule ohne Abschluss abzubrechen - eine fast doppelte so große Wahrscheinlichkeit, das College abzuschließen . Eltern haben in der Regel an all diesen erfreulichen Wirkungen sexueller Enthaltsamkeit im Jugendalter Interesse. Aber wer kämpft mit den Schulen, wer ringt mit den eigenen Kindern darum, ihnen diesen Weg erstrebenswert zu machen, ihn wenigstens nicht zu verbauen? Legt man die Last der Keuschheit auf eine Waagschale und die Lasten, die für den Einzel-nen und die Gesellschaft entstehen, wenn die Menschen diese Last abwerfen, dann dürfte das Er-gebnis für jeden nüchternen Betrachter klar sein. Wir verstehen, warum Jesus sagt: „Mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht“ (Mt 11,30). Aber an den Schalthebeln der Macht sitzen linke Ideologen, die sich auch in den C-Parteien eingenistet haben. Sie scheren sich nicht um den dramatischen Verfall der seelischen Gesundheit und Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Sie diffamieren Menschen, die für die vom Grundgesetz geschützte Familie eintreten, bestehend aus Vater, Mutter und Kindern, als „Familien-fundamentalisten“ – ungerührt vom Elend der zerbrochenen Familien und den bodenlosen Belas-tungen und Kosten, die dadurch dem Gemeinwesen entstehen; sie benutzen ihre Macht über die Ausbildung von Erziehern und Lehrern und die schulischen Curricula, um den Eltern das vom Grundgesetz garantierte Erziehungsrecht zu entreißen und Kinder vom Kindergarten an zu sexuali-sieren durch Institutionen wie die staatliche Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die staatlich geförderte Abtreibungsorganisation Pro Familia und Donum Vitae. Eltern, die sich wider-setzen, kommen in Deutschland ins Gefängnis, die Kinder ins Heim . Die Politiker wissen seit Jahr-zehnten, dass die Sozialsysteme aufgrund der demografischen Krise zusammenbrechen brechen, aber sie rühren nicht an der Propagierung von Verhütungsmitteln in den Schulen, an der Straffreiheit der Abtreibung und an der Familienzerstörungspolitik. Der Kampf um die Sexualisierung ist keineswegs ein blindes Geschehen, sondern eine von den Machteliten dieser Welt über die UN und EU betriebene globale politische Strategie zur Reduk-tion der Weltbevölkerung. Dieser Kampf, dem die Kirchen kaum Widerstand entgegensetzen, ist in seinem Kern ein Kampf gegen Gott, ein Kampf gegen das Christentum. Es kann nicht anders sein, denn Gott ist die Liebe und beruft den Menschen in die Liebeseinheit des ewigen Lebens.
Die Keuschheit in der Berufung zur wahren Liebe, ein Erkennungszeichen des echten Christentums
Deus caritas est, lauten die ersten drei Worte der ersten Enzyklika Papst Benedikt XVI., in der es ihm darum geht, im Bewusstsein der Menschen die Liebe aus dem Käfig des Egoismus zu befreien. Im Herzen weiß es jeder und hat – hoffentlich – Inseln der Erfahrung, was Liebe ist: Im Blick eines anderen die Freude über die eigene Existenz wahrnehmen, ein Blick, der sagt: „Wunderbar, dass es dich gibt. Dein Wohlergehen ist meine Freude.“ Gott, so glauben wir, hat jeden einzelnen aus Liebe erschaffen und zur Liebe berufen. Diese Bejahung muss von Menschen bestätigt werden, damit wir der Berechtigung und Gutheit unserer Existenz inne werden. Deswegen heftet sich der Blick des Neugeborenen an die Augen der Mutter, weil die liebende Existenzbejahung, die daraus fließt, so lebenswichtig ist wie die Milch aus der Brust. So groß ist die existentielle Bedürftigkeit des Menschen nach Liebe, und so überaus gefähr-det, so brüchig deren Erfüllung! Welch großes Privileg, wenn ein junger Mensch mit einer satten Grundausstattung mit elterlicher Liebe in die Pubertät kommt. Denn nun erwacht der Geschlechtstrieb, in Jungen später als bei Mädchen, dafür mit zwan-zig Mal stärkerer hormoneller Wucht. Was tun? Wie damit umgehen? Durch die Medien, durch die Schule, von den Gleichaltrigen kommt eine buchstäblich überwältigende Botschaft: Befriedige dei-ne sexuelle Lust, es macht Spaß, es ist dein Recht, es ist „sicher“. Alle tun es, tu du es auch. Patrick Fagan vom Heritage Institut sagt: „Die große Mehrheit der halbwüchsigen jungen Männer, die Kondome überziehen, und der jungen Frauen, welche die Pille nehmen, haben nicht die Ab-sicht, die Person zu heiraten, mit der sie im Bett sind… Sie wissen, dass sie sich wieder trennen werden. Sie weisen zurück und gewöhnen sich in ihrem Intimleben daran, zurückgewiesen zu wer-den. Dadurch schaffen sie eine Kultur, die nicht auf Zugehörigkeit und Liebe beruht, sondern auf Zurückweisung und Leiden. Sie zahlen einen Preis, der größer ist, als die meisten vermuten“ . Wie schwer ist es, treu zu sein, wenn die Worte „Ich liebe dich“ schon benutzt, schon abgenutzt und öfter gebrochen wurden? Die Liebe, die Einheit zwischen zwei Menschen schafft, ja sie „ein Fleisch“ werden lässt, kann sich nur zwischen Menschen ereignen, die in sich selbst eine Einheit geworden sind. Um per-sonale Integrität zu erlangen, ist ein Reifungsprozess notwendig, der Selbstbeherrschung erfordert. Eltern, Lehrer, Paten und Priester haben – hätten – die Aufgabe, in diesem Prozess Vorbild, Weg-weiser, Helfer und Beschützer zu sein, damit die Tugend in der Seele und dem Willen des Men-schen „Heimatrecht“ bekommt, wie Johannes Paul II. sagt . „Erst die zu einer Tugend gewordene Liebe kann den objektiven Forderungen der personalistischen Norm entsprechen, die verlangt, dass die Person geliebt werde, und nicht zulässt, dass sie – auf welche Weise auch immer – ‚gebraucht‘ wird“ . Das Gebrauchen einer anderen Person zur sexuellen Befriedigung entpersonalisiert die Se-xualität, oder, um es mit Rollo May auszudrücken: „Das Feigenblatt wird an einen anderen Platz verrückt, es verdeckt nunmehr das Gesicht“ . Ein aktueller Werbespruch des Handy-Anbieters Ali-ce bringt es auf den Punkt: „Verbinden, ohne sich zu binden.“ Die Zeugnisse der Opfer sexuellen Missbrauchs, ihre Wut, ihre Verzweiflung, ihre Verbitterung, die wir an den Fernsehschirmen sehen konnten, zeigen: Nichts verletzt die Würde des Menschen so sehr, verwundet ihn in seinem We-senskern so tief, wie der Missbrauch der Sexualität. Wer bereit ist, einen anderen im Innersten zu missbrauchen, der wird bereit sein, Menschen für jeden egoistischen Zweck zu gebrauchen. Deswe-gen ist die sexuelle Verwahrlosung die schiefe Ebene in die Tyrannei, die schon Plato in seiner Re-publica beschrieben hat. Ein Vorbote des neuen Totalitarismus ist das verschärfte Antidiskriminie-rungsgesetz der EU, das nicht mehr zulassen wird, dass wir im Bereich der Sexualität zwischen gut und böse unterscheiden. Weil wir in einem Meer von Scheitern, von Versagen, von gebrochenen Versprechen und zerbrochenen Verheißungen leben, sind wir im Begriff, unsere Sehnsucht nach Liebe, nach der Be-gegnung mit dem Du, nach Treue, als romantischen Traum abzutun und unsere Gesetze dem Schei-tern anzupassen. Aber das Erkennen und das Erkanntwerden im liebenden Blick des anderen ist die ewige Aufforderung an den Menschen, der aus Liebe geschaffen und zur Liebe berufen ist. Wer je auf die häretische Idee verfällt, Gott lehne die körperliche Liebe ab, der lese das Hohelied der Bibel: „Ich schlief, doch mein Herz war wach. Horch, mein Geliebter klopft: Mach auf, meine Schwester und Freundin, meine Taube, meine Makellose! Mein Kopf ist voll Tau, aus meinen Lo-cken tropft die Nacht…“ (Hld 5,2) „Meinem Geliebten gehöre ich, und mir gehört der Geliebte, der in den Lilien weidet“ (Hld 6,3) Wer in der Literatur der Welt hat so schöne Worte gefunden? Für den Mystiker Johannes vom Kreuz erfüllte sich das Hohelied in seiner Liebe zu Jesus. Bei aller ekstatischen Hingerissenheit warnt das Hohelied dreimal: „Stört die Liebe nicht auf, weckt sie nicht, bis es ihr selbst gefällt“ (Hld 2,7; 3, 5; 8,4). Wir dürfen das Ideal der Keuschheit als Voraussetzung der Liebe nicht fahren lassen, wenn wir uns selbst nicht aufgeben wollen als Person, als Gesellschaft, als Volk, als Christen. Liebe ist kein romantisches Gefühl, sondern die stärkste Herausforderung die es gibt und der Sinn unserer Existenz. Wir sind es der jungen Generation schuldig, ihr den Weg der Liebe zu zeigen, deren Voraussetzung die Keuschheit ist. Ich selbst versuche dies in Kursen zu tun, die den Namen tragen ONLY YOU – gib der Liebe eine Chance. Ja, die Tugend der Keuschheit ist ein christliches Erkennungszeichen, ein untrügliches.
©2012 Gabriele Kuby
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