OSTERZEIT FÜNFTER SONNTAG
29
GERECHTIGKEIT
Ein elementares Verlangen. Zorn und Gelassenheit. Gerechtigkeit und Liebe.
I. Im Antwortpsalm der Liturgie dieses Sonntags heißt es: Ihr Gerechten, jubelt vor dem Herrn (...). Er liebt Gerechtigkeit und Recht, die Erde ist erfüllt von der Huld des Herrn.1 Ist sie es wirklich?
Das sittliche Leben dreht sich gleichsam um die Gerechtigkeit wie die Tür um die Angeln, die cardines. Sie ist eine der vier Kardinaltugenden, ein Eckpfeiler alles Sittlichen. Ohne sie wäre ein geordnetes, fruchtbares Zusammenleben unter den Menschen unmöglich. Die Gerechtigkeit ist, mit Worten von Papst Johannes Paul II., »grundlegendes Prinzip des Lebens und des Miteinander-Lebens, der einzelnen Menschen sowie der menschlichen Gemeinschaften, der Gesellschaften und der Völker. Darüber hinaus ist die Gerechtigkeit Grundlage für das Bestehen der Kirche als Volk Gottes und Grundlage der Koexistenz der Kirche mit den verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen, besonders des Staates, wie auch der internationalen Organisationen. Auf diesem weiten und vielgestaltigen Feld suchen der Mensch und die Menschheit ununterbrochen nach Gerechtigkeit; dies ist ein nie endender Prozeß und eine höchst wichtige Aufgabe.«2
Uns allen ist die dreifache Gestalt dieser Grundtugend vertraut, die - auf verschiedenen Ebenen - jedem das ihm Geschuldete gibt. Sie hat die Beziehungen der einzelnen zueinander im Blick; sie ordnet das Verhältnis des Gemeinwesens zum Einzelnen als seinem Glied; und schließlich regelt sie die Beziehungen der Glieder zum sozialen Ganzen.
Aber jede dieser drei Spielarten lebt aus dem Gerechtigkeitswillen des einzelnen. Es sind immer konkrete Menschen, die mit ihrem gerechten oder ungerechten Handeln die jeweiligen staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen prägen.
Gerechtigkeit ist - nach der Definition des heiligen Thomas von Aquin - »die Haltung, kraft deren jemand standhaften und beständigen Willens einem jeden sein Recht zuerkennt«3. Zwar hängt vieles von einer gerechten staatlichen Ordnung ab. Doch sie bliebe weitgehend steril, wurzelte die Sorge um eine gerechtere Gesellschaftsordnung nicht im konkreten persönlichen Handeln, beginnend im Kleinen.
Und die große Dinge? »Oft scheinen ja die großen Dinge dafür da zu sein, um den Menschen von jenen Stellen abzulenken, wo es ernst wird. Wo wird es also mit der Gerechtigkeit der Ordnung wirklich ernst? Die Antwort würde weniger großartig lauten, dafür aber viel konkreter. Sie würde sich in Fragen kleiden, die ins eigene Leben gingen.
Zum Beispiel: Wenn du jetzt für dich zehn Mark ausgibst und sollst es nachher für einen anderen tun - wiegt der Betrag in deinem Gefühl beide Male gleich schwer? Oder sagst du, denkst du, fühlst du im ersten Fall: >Nur< zehn Mark; im zweiten aber: >Ganze zehn<? Woher das verschiedene Gewicht? Gerechtigkeit wäre, daß der Betrag beide Male gleich wöge, das heißt, die Not des anderen dir so nahe ginge wie deine eigene (...).
Wie ist das zu Hause, in deiner Familie: Hältst du die verschiedenen Personen darin gleich wert? Ist ein böses Wort über diese dir ebenso empfindlich wie über jene? Oder steht es so, daß du diese gerne magst und ein Unrecht gegen sie dich empört - du aber im Fall der anderen findest, die Sache sei nicht so schlimm? Müßte nicht wenigstens dein praktisches Verhalten in beiden Fällen das gleiche sein?
Hier, nicht bei der Abmessung der Steuerlasten, fängt die wirkliche Gerechtigkeit der Ordnung an: zu Hause, im Verkehr mit den Freunden, im Büro - eben dort, wo du mit den Menschen zusammen bist; darin, daß du jedem nach deiner Möglichkeit sagst und gibst und tust, worauf er Anspruch hat.«4
II. »Gott ruft uns durch alles, was im Alltag geschieht, durch die Freude und das Leid unserer Mitmenschen, durch die irdischen Sorgen unserer Freunde und Bekannten, durch die vielen kleinen Dinge des Familienlebens. Und Gott ruft uns auch durch die großen Probleme, Konflikte und Aufgaben, die geschichtliche Epochen prägen und das Hoffen und Mühen eines Großteils der Menschheit in ihren Bann ziehen.«5 Ein geschärftes Gespür für Gerechtigkeit läßt uns alles ernst nehmen: die »vielen kleinen Dinge des Familienlebens« wie »die großen Probleme, Konflikte und Aufgaben, die geschichtliche Epochen prägen« Das Kleine wie das Große geht uns an - beides gehört zu den irdischen Wirklichkeiten, die durch uns menschlicher, gerechter, gottgerichteter werden sollen. Auch wenn es meistens nicht in unserer Hand liegt, das Große, Weltbewegende ins Werk zu setzen, d»rfen wir doch nicht so tun, als ginge es uns gar nichts an: »Wie verständlich sind die Ungeduld, die Beklemmung und die ungestümen Wünsche jener, die mit einer natürlichen christlichen Seele nicht resignieren wollen angesichts der persönlichen und sozialen Ungerechtigkeit, die das menschliche Herz hervorbringen kann. So viele Jahrhunderte schon leben die Menschen zusammen, und noch immer gibt es so viel Haß, so viel Zerstörung, so viel Fanatismus in Augen, die nicht sehen, und in Herzen, die nicht lieben wollen.«6
Wieviele Erniedrigungen, Diskriminierungen, Ungerechtigkeiten, welche extreme Not ganzer Völker müssen wir täglich mit ansehen: »Die Reichtümer der Erde verteilt unter einige wenige, die Bildungsgüter einem kleinen Kreis vorbehalten und draußen Hunger nach Brot und Wissen. Draußen menschliches Leben, das heilig ist, weil es von Gott kommt, und das behandelt wird wie eine Sache, wie Zahlen in einer Statistik. Ich verstehe und teile diese Ungeduld, eine Ungeduld, die mich drängt, auf Christus zu schauen, der uns ständig auffordert, jenes neue Gebot der Liebe zu verwirklichen.«7
Welch weites Feld für unsere persönliche Gewissenserforschung! Wer sich nach Gerechtigkeit sehnt, hinterläßt eine Spur der Liebe und Menschenfreundlichkeit. Er bekämpft die Ungerechtigkeit in seinem bescheidenen Wirkungsbereich: in Familie, Betrieb, Gemeinde - und fühlt sich zutiefst solidarisch mit denen, die himmelschreiende Ungerechtigkeiten erleiden. Um so schmerzlicher empfindet er seine Ohnmacht.
Freilich, »erst von Gott her wird wirkliche und volle Gerechtigkeit werden, durch das Gericht. Wir sollten uns die Offenbarung, daß dieses Gericht über alles Menschliche ergehen wird, sehr nahekommen lassen. Das Erste, was jeder denken soll, wenn er ans Gericht denkt, lautet: Es wird Gericht sein über mich! Dann aber auch über alle jene Formen und Größen des Menschlichen, vor denen wir so leicht das Gefühl bekommen, sie seien souveräne, keiner Prüfung unterworfene Mächte: der Staat, die Kultur, die Geschichte.«8
Zorn und Empörung über die Unmenschlichkeit ungerechter Strukturen überall in der Welt sind ein nur verständlicher Ausdruck der Sehnsucht nach Gerechtigkeit - aber sie dürfen uns weder den Blick für »kleine Unmenschlichkeiten« in unserem überschaubaren Lebensbereich versperren noch die gelassene Einsicht trüben, daß Gott alles richten wird.
III. Urantrieb, sich für die Gerechtigkeit einzusetzen, ist die Liebe zu Christus. Je treuer wir dem Herrn sind, um so gerechter werden wir sein, um so engagierter für die Gerechtigkeit. Was könnte uns mehr anspornen, als zu wissen, daß der Andere, der Nächste - besonders der Notleidende - Christus selbst ist, daß wir also je nachdem, ob wir gerecht oder ungerecht handeln, Christus aufnehmen oder ihn zurückweisen. Denn er wartet auf uns in unseren Brüdern und Schwestern: Ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben (...). Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.9
»Christen haben den Auftrag, die sittliche Botschaft des Neuen Testamentes zu erfüllen, nämlich Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit zu praktizieren, nicht nur privat, sondern auch öffentlich in der Gesellschaft; wenn auch immer unter dem bescheidenen Vorbehalt, daß die absolute Wahrheit, die perfekte Gerechtigkeit, die vollkommene Liebe und die umfassende Freiheit hier auf Erden weder erkennbar noch erreichbar sind. Und vor allem haben Christen die Pflicht, den (nicht nur im materiellen Sinne) >Armen< die Frohe Botschaft vom Reiche Gottes zu verkünden - und dabei glaubwürdige Werke der Barmherzigkeit zu üben.«10
Ein Christ, der glaubt und im Nächsten Christus sieht, wird weder apathisch noch wie ein bloßer »Macher« reagieren. Der Ansporn der Liebe Christi wird ihm immer wieder neue Impulse geben, Gerechtigkeit zu üben: caritas enim Christi urget nos: die Liebe Christi drängt uns.11
Das Zweite Vatikanische Konzil lehrt: »Damit die Übung dieser Liebe über jeden Verdacht erhaben sei und als solche in Erscheinung trete, (...) muß man zuerst den Forderungen der Gerechtigkeit Genüge tun, und man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist.«12 Echte Nächstenliebe setzt den Sinn für Gerechtigkeit voraus: »Ohne Gerechtigkeit kann es keine Liebe geben. Die Liebe >übersteigt< die Gerechtigkeit, aber zugleich findet sie in der Gerechtigkeit ihre Bewährung. Sogar Vater und Mutter müssen, wenn sie ihr Kind lieben, gerecht zu ihm sein. Gerät die Gerechtigkeit ins Wanken, ist auch die Liebe gefährdet.«13
Bloßes Gerechtsein kann leicht routiniert und somit lieblos werden und die Wärme des »ganzen« Herzens Christi drosseln. Bitten wir den Herrn also, »daß er uns ein gutes Herz gebe, fähig, auf das Leiden anderer mit Mitleid zu antworten und zu verstehen, daß die Qual, die das Menschenleben auf Erden begleitet und oft viele Seelen ängstigt, nur durch die Liebe gelindert werden kann.«14
1 Ps 33,4-5. - 2 Johannes Paul II., Ansprache bei der Generalaudienz am 8.11.78. - 3 Thomas von Aquin, Summa theologica, II-II,58,1. - 4 R.Guardini, Tugenden, Mainz/Paderborn 1987, S.53. - 5 J.Escrivá, Christus begegnen, 110. - 6 ebd., 111. - 7 ebd.. - 8 R.Guardini, a.a.O., S.56. - 9 Mt 25,42.45. - 10 W.Ockenfels, Hat die Kirche in der sozialen Frage versagt?, in: Plädoyer für die Kirche, Aachen 1992, S.177. - 11 2 Kor 5,14. - 12 II.Vat.Konz., Dekret Apostolicam actuositatem, 8. - 13 Johannes Paul II., a.a.O. - 14 J.Escrivá, Christus begegnen, 167.
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