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  • 12.08.2015 00:26 - Tian bedeutet Himmel In China wurden Menschen ....
von esther10 in Kategorie Allgemein.

12.08.2015 15:20
Tian bedeutet Himmel

In China wurden Menschen mit Behinderungen lange Zeit versteckt. Kinder wurden ausgesetzt und von den Eltern verstoßen, weil diese überfordert waren. Die Ein-Kind-Politik hat das Schicksal von behinderten Kindern verschärft. Nun werden Änderungen sichtbar. Von Jobst Rüthers



Erst langsam trauen sich die behinderten Jugendlichen mit Schwester Mi in die Stadt und ins öffentliche Leben.

Was für ein schöner Name: Tian Dabao. Die 28-jährige junge Frau lächelt, als sie dem Besucher aus Deutschland ihren chinesischen Namen erklärt. Tian heißt Himmel, und im Chinesischen wird der Nachname zuerst genannt. Dann an zweiter Stelle der Vorname: Dabao. Das heißt „Großer Schatz“. Dass Tian einen solch wunderbaren Namen erhalten hat – wer wird schon mit „Großer Schatz“ angesprochen –, steht so ganz im Widerspruch zu den schrecklichen Erfahrungen, denen sie als Kleinkind ausgesetzt war. Kurz nach der Geburt wurde das Mädchen ausgesetzt. „Es gab in meiner Familie schon sieben Kinder, alles Mädchen. Und ich als letztes Kind war wieder ein Mädchen“, erzählt Dabao. Ihre Eltern waren überfordert, vor allem damit, dass Dabao starke Behinderungen an Armen und Beinen aufwies. „Das konnten meine Eltern nicht ertragen, deswegen haben sie mich ausgesetzt. Jemand aus der Nachbarschaft kam gerade vorbei und sah am Straßenrand einen kleinen Karton, darin lag ich“, berichtet Dabao von ihrer eigenen Geschichte, wie sie sie aus den Erzählungen ihrer älteren Schwestern kennt. Ausgesetzt und alleingelassen. Dabao ist gerade einen Monat alt, als sie zum ersten Mal in eine fremde Familie vermittelt wird, „eine fromme katholische Familie“, wie sie sagt. Die selber schon mehrere Kinder hatte, alles Mädchen. Und nachdem auch hier weitere Mädchen geboren werden, sieht die Pflegefamilie sich überfordert und gibt Dabao wieder ab.

600 Kinder an der Bischofskirche ausgesetzt

Dabao wird in einem kleinen Heim der Ordensschwestern von der Heiligen Theresa aufgenommen. Eine unruhige Zeit beginnt, dreimal zieht Dabao im Waisenhaus ein, zwischendrin holt die Pflegefamilie sie wiederholt zu sich. „Immer, wenn ich im Heim war, habe ich stark abgenommen, weil ich nicht essen wollte. Die Pflegefamilie hat extra eine Ziege gekauft, deren Milch ich trinken konnte. Nach dem dritten Mal hin und her bin ich endgültig im Heim geblieben, ich war damals fünf Jahre alt“, erzählt die junge Rollstuhlfahrerin.

Tian Dabao kann ihre Arme und Beine nicht bewegen und ist deshalb auf Unterstützung angewiesen, um alltägliche Dinge zu verrichten. Und zugleich hat sie besondere Fähigkeiten entwickelt, ihre Einschränkungen auszugleichen, beispielsweise mit dem Mund. Mit großer Geschicklichkeit führt Dabao beim Malen den Pinsel mit dem Mund. Und zieht den Faden durch das Öhr einer dünnen Nadel und reiht dann mit dem Mund Perle an Perle.

Mädchen und behindert – bis heute ist das eine in China lebensgefährliche Konstellation. In dem Riesenland mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen gab es bis vor kurzem eine rigide Ein-Kind-Politik. Wer mehr als das staatlich erlaubte Kind bekam, wurde mit hohen Gebühren und gesellschaftlichen Nachteilen bestraft. Das führte dazu, das weibliche Föten abgetrieben wurden. Und: Die Ein-Kind-Politik hat über Jahrzehnte auf Eltern den Druck ausgeübt, ein „perfektes Kind“ zu bekommen. Wenn sich abzeichnete, dass der Nachwuchs Behinderungen oder gesundheitliche Einschränkungen aufwies, sahen viele Eltern einen Ausweg nur darin, das eigene Kind auszusetzen. Wie die Eltern von Tian Dabao. Und wie die Eltern von 600 weiteren Kindern, die seit 1988 an der Bischofskirche in Biancun ausgesetzt wurden – wohl in der Hoffnung, dass die Babys rechtzeitig gefunden und versorgt werden. Damals wiederbelebte der Bischof eine Schwesterngemeinschaft, die während der Kulturrevolution verboten worden war. Er gab ihr den Auftrag, Waisenhäuser aufzubauen und ausgesetzten Kindern eine Heimat zu geben. Die kleine Gruppe von jungen Frauen wuchs sehr schnell, als Schwestern von der Heiligen Teresa wollten sie gemeinsam ein religiöses Leben führen. Sie gründeten unweit des Bischofshauses das erste Waisenhaus und nannten es Liming Family. Die heutige Leiterin, Schwester Wang Qinfen, erinnert sich an mühsame Anfänge: „Der Staat hat die Gründung unserer Ordensgemeinschaft nicht gerne gesehen. Nur weil wir uns um die vielen ausgesetzten und behinderten Kinder gekümmert haben, ließen sie uns in Frieden.“ Heute, 27 Jahre später, gehören der Ordensgemeinschaft 100 Schwestern an, 30 junge Frauen befinden sich in der ordenseigenen Ausbildung. Jede Hand wird gebraucht. Der Bedarf an engagierten Kräften, die sich um die Behinderten kümmern, ist groß. Liming Family ist kontinuierlich gewachsen, immer mehr Kinder wurden aufgenommen und neue Einrichtungen gegründet. In Tangqiu, wo Tian Dabao seit nunmehr 23 Jahren ihr Zuhause gefunden hat, leben 30 Jugendliche und junge Erwachsene.

Schwester Wang hat lange Jahre um öffentliche Anerkennung kämpfen müssen. Es gibt viele Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, Schätzungen sprechen von etwa 80 Millionen in China. Weil es bis heute zu wenig Fördereinrichtungen und gezielte Unterstützungsprogramme für Behinderte gibt, wird deren Existenz oftmals geleugnet. „In der nahegelegenen Kreisstadt Ningjin gibt es nur eine Schule für Sehbehinderte und keine Schule für Menschen mit geistiger Behinderung“, klagt Schwester Wang. In den Familien leben viele Menschen mit einer geistigen Behinderung ohne jegliche Förderung und Unterstützung, so die Beobachtung der 44-jährigen Ordensschwester: „Die Dunkelziffer ist nach meiner Einschätzung sehr hoch, weil viele Behinderte versteckt werden.“ Liming Family sucht aktiv den Kontakt zu den betroffenen Familien, häufig werden die Schwestern über die Pfarrgemeinden aufmerksam gemacht, wo Not herrscht.

Die im Dunkeln sieht man nicht

Wie in der Familie Gu. Die beiden Eltern haben Sorge um beide Söhne, die seit der Geburt geistig behindert sind. Der jüngere Gu Bingbing ist 27, zwei Jahre älter sein Bruder Gu Zongzong. Er wird von seinen Eltern als besonders pflegebedürftig eingeschätzt, benötigt viel Versorgung und Betreuung. Der Staat zahlt nur eine geringe finanzielle Unterstützung, an schulische oder sonstige Fördermöglichkeiten für ihn ist nicht zu denken. Schwester Wang schaut alle paar Wochen bei der Familie vorbei, heute hat sie dreißig Eier als kleine Lebensmittelgabe dabei. Die Eltern von Bingbing und Zongzong machen sich große Sorgen, wie es mit den beiden Söhnen weitergehen kann, wenn sie selber nicht mehr in der Lage sind, sie zu versorgen. Schon jetzt ist der Vater oft krank. Er lebt von Gelegenheitsjobs und kann nur wenig zum Haushaltseinkommen beitragen. Mutter Gu ist an den Hof gebunden und kann keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, weil die beiden Söhne und die Großmutter die ständige Anwesenheit notwendig machen. Denn auch die Großmutter ist auf Krücken angewiesen und kann den kleinen Vierkant-Hof nicht mehr verlassen. So bleibt der Familie zum Leben nur das, was der Anbau von Weizen und die Taubenzucht auf dem Hof hergeben. Trotz der offensichtlichen Armut schlagen sie die Unterstützungsangebote von Schwester Wang immer wieder aus: „Wir brauchen nichts“, sagt Frau Gu, es ist ihr sichtlich unangenehm. Ob für den jüngeren Sohn wohl irgendwann ein Platz in einer Werkstatt gefunden werden kann? Schwester Wang würde das begrüßen, für die Familie wäre das eine große Entlastung. Zugleich zeigt sie Skepsis, sie schätzt, dass es in diesem Dorf mit seinen rund 10 000 Einwohnern 30 Kinder mit Behinderungen gibt, die auf Fördermöglichkeiten warten, bisher vergeblich.

Die Schwestern überlegen deshalb, neue Programme für die ambulante Tagesverpflegung anzubieten. Es würde eine Entlastung der betroffenen Familien bedeuten. Und zudem die Förderung von Menschen, die wegen ihrer Behinderung nie eine Schule oder Ausbildungseinrichtung besucht haben. Noch wissen Schwester Wang und ihre Mitstreiterinnen nicht, wie sie ein neues Angebot finanzieren sollen. Der Staat zahlt für jeden Heimbewohner einen monatlichen Zuschuss von gerade mal umgerechnet fünf Euro. Für Operationen, die die Jugendlichen aufgrund ihrer Behinderungen immer wieder brauchen, gibt es keinerlei finanzielle Unterstützung. Die katholische Kirche in China verfügt über keine regelmäßigen Einnahmen und kann deshalb die Ordenseinrichtungen nicht bezahlen.

Schwester Wang berichtet von langen Auseinandersetzungen mit den Behörden, um zumindest geringe Unterstützung zu erhalten. „Früher bekamen wir zu hören: ,Die Kinder gehören nicht in die Gesellschaft.‘ Es wurde von ,menschlichem Müll‘ geredet. Ich habe mich dann ins Amt gesetzt und gesagt, dass ich erst gehe, wenn sie mir Geld für die Kinder geben.“ Mehr als 15 Jahre hat Schwester Wang für die finanzielle Unterstützung und die Anerkennung der Behinderten gekämpft, langsam erntet sie die Früchte. „Früher wurde uns polizeilich verboten, in der Öffentlichkeit über die Probleme der Behinderten zu sprechen. Jetzt kommen der Bürgermeister und Behördenvertreter in unser Heim, um sich zu informieren. Wir werden eingeladen, Vorträge zu halten und können unsere Filme zeigen“, lächelt die resolute Ordensfrau. Sie freut sich über Lebensmittel- und Sachspenden aus der Nachbarschaft von Liming Family. Und sie freut sich über die zahlreichen Hände, die unentgeltlich anpacken. Das Priesterseminar schickt regelmäßig drei Seminaristen, die im Heim mithelfen. Und auch unter den Einwohnern von Tangqiu finden sich Freiwillige, die für kürzere oder längere Zeit zupacken. Die pädagogische und pflegerische Arbeit leisten neun Ordensschwestern, zumeist ohne fachliche Vorkenntnisse.

Schwester Mi Lihong hat heute Tagesdienst. Seit den frühen Morgenstunden unterstützt sie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen beim Aufstehen, der Morgentoilette und dem Frühstück. Das Morgengebet ist für alle Hausbewohner selbstverständlich. Nachdem jeder seinen Beitrag zum Hausputz geleistet hat, bereitet Schwester Mi die Arbeitstische vor. Jede und jeder soll nach seinen individuellen Möglichkeiten eine Aufgabe übernehmen. Schwester Mi geht von einem zum anderen, um das Gespräch zu suchen und ihre Hilfe anzubieten. Für die jungen Leute ist aber auch selbstverständlich, sich gegenseitig zu unterstützen. Tian Dabao ist dankbar, wenn ihr eine Freundin die ,Hände ersetzt‘ und beim Einfädeln der Perlenschnur behilflich ist. Die Hälfte ihres jungen 34-jährigen Lebens hat Schwester Mi im Orden der Heiligen Teresa verbracht. Eingetreten ist sie mit 17, als ihre Eltern sie gegen ihren Willen verheiraten wollten. „Sie sagten mir, dass ich am nächsten Tag dem Heiratskandidaten vorgestellt werde. Ich war entsetzt und bin in die Kirche gegangen, um zu überlegen, was zu tun ist. Ich habe mich dann gegen die Heirat und für den Ordenseintritt entschieden.“ Es war ein schwieriger Weg, gegen den Willen des Vaters. „Mein Vater wollte nicht, dass ich in den Orden eintrete, weil er Repressalien des Staates gegen die Kirche befürchtete“, erinnert sich Schwester Mi. Es habe viele Jahre gedauert, sich mit dem Vater auszusöhnen.

Es fehlt an Ausbildungsmöglichkeiten

Um sich auf die schwierige Arbeit in der Behinderten-Einrichtung vorzubereiten, hat sie im Fernstudium Psychologie studiert. Später ermöglichte ihr der Orden einen zweijährigen Aufenthalt in Europa; sie ging nach Belgien und arbeitete in einer Einrichtung für Sonderpädagogik. In China gibt es viel zu wenig Fördereinrichtungen, es gibt viel zu wenig Differenzierung und Spezialisierung, und so gibt es auch viel zu wenig ausgebildetes Personal. In der Arbeit mit Behinderten sei China noch Entwicklungsland, urteilt Schwester Mi. Und erzählt eine Geschichte: „Der liebe Gott trifft sich mit seinen Engeln und verteilt Aufgaben. Als der letzte Engel auf seine Aufgabe wartet, die er auf der Erde zu erfüllen hat, sagt Gott zu ihm: ,Du gehst als Behinderter in die Welt!‘ Der Engel ist entsetzt. ,Warum muss ich das?‘, fragt er. Und Gott antwortet ihm: ,Damit die Menschen Gelegenheit haben, die Liebe zu üben!‘“

In der Liming Family gibt es viele Kinder und Jugendliche mit dem gleichen Namen: Tian. Schwester Mi sagt, dass alle Kinder, die von ihren Eltern ausgesetzt und in der Liming Family aufgenommen wurden, diesen Namen tragen: Tian, Himmel. Er soll Zuversicht und Optimismus ausdrücken, gerade bei den Menschen, die einen solch schwierigen Start ins Leben hatten.

Hintergrund

China ist mit fast 1,4 Mrd. Menschen das bevölkerungsreichste Land der Erde. Nach offiziellen Angaben leben mehr als 80 Millionen Menschen mit Behinderungen in China. Allerdings sind die Sozialsysteme darauf nicht eingerichtet. In den Städten und besonders auf dem Land mangelt es an ambulanten und stationären Pflegediensten. Auch an Schulen und Fördereinrichtungen fehlt es. Die Kirchen engagieren sich verstärkt für Menschen mit Behinderungen, verfügen aber nicht in ausreichendem Maße über geschultes Personal und Ressourcen, um Einrichtungen zu führen. JR
Tagespost.de


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In China wurden Menschen mit Behinderungen lange Zeit versteckt. Kinder wurden ausgesetzt und von den Eltern verstoßen, weil diese überfordert waren. Die Ein-Kind-Politik hat das Schicksal von behinderten Kindern verschärft. Nun werden Änderungen sichtbar. Von Jobst Rüthers



Erst langsam trauen sich die behinderten Jugendlichen mit Schwester Mi in die Stadt und ins öffentliche Leben.

Was für ein schöner Name: Tian Dabao. Die 28-jährige junge Frau lächelt, als sie dem Besucher aus Deutschland ihren chinesischen Namen erklärt. Tian heißt Himmel, und im Chinesischen wird der Nachname zuerst genannt. Dann an zweiter Stelle der Vorname: Dabao. Das heißt „Großer Schatz“. Dass Tian einen solch wunderbaren Namen erhalten hat – wer wird schon mit „Großer Schatz“ angesprochen –, steht so ganz im Widerspruch zu den schrecklichen Erfahrungen, denen sie als Kleinkind ausgesetzt war. Kurz nach der Geburt wurde das Mädchen ausgesetzt. „Es gab in meiner Familie schon sieben Kinder, alles Mädchen. Und ich als letztes Kind war wieder ein Mädchen“, erzählt Dabao. Ihre Eltern waren überfordert, vor allem damit, dass Dabao starke Behinderungen an Armen und Beinen aufwies. „Das konnten meine Eltern nicht ertragen, deswegen haben sie mich ausgesetzt. Jemand aus der Nachbarschaft kam gerade vorbei und sah am Straßenrand einen kleinen Karton, darin lag ich“, berichtet Dabao von ihrer eigenen Geschichte, wie sie sie aus den Erzählungen ihrer älteren Schwestern kennt. Ausgesetzt und alleingelassen. Dabao ist gerade einen Monat alt, als sie zum ersten Mal in eine fremde Familie vermittelt wird, „eine fromme katholische Familie“, wie sie sagt. Die selber schon mehrere Kinder hatte, alles Mädchen. Und nachdem auch hier weitere Mädchen geboren werden, sieht die Pflegefamilie sich überfordert und gibt Dabao wieder ab.

600 Kinder an der Bischofskirche ausgesetzt

Dabao wird in einem kleinen Heim der Ordensschwestern von der Heiligen Theresa aufgenommen. Eine unruhige Zeit beginnt, dreimal zieht Dabao im Waisenhaus ein, zwischendrin holt die Pflegefamilie sie wiederholt zu sich. „Immer, wenn ich im Heim war, habe ich stark abgenommen, weil ich nicht essen wollte. Die Pflegefamilie hat extra eine Ziege gekauft, deren Milch ich trinken konnte. Nach dem dritten Mal hin und her bin ich endgültig im Heim geblieben, ich war damals fünf Jahre alt“, erzählt die junge Rollstuhlfahrerin.

Tian Dabao kann ihre Arme und Beine nicht bewegen und ist deshalb auf Unterstützung angewiesen, um alltägliche Dinge zu verrichten. Und zugleich hat sie besondere Fähigkeiten entwickelt, ihre Einschränkungen auszugleichen, beispielsweise mit dem Mund. Mit großer Geschicklichkeit führt Dabao beim Malen den Pinsel mit dem Mund. Und zieht den Faden durch das Öhr einer dünnen Nadel und reiht dann mit dem Mund Perle an Perle.

Mädchen und behindert – bis heute ist das eine in China lebensgefährliche Konstellation. In dem Riesenland mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen gab es bis vor kurzem eine rigide Ein-Kind-Politik. Wer mehr als das staatlich erlaubte Kind bekam, wurde mit hohen Gebühren und gesellschaftlichen Nachteilen bestraft. Das führte dazu, das weibliche Föten abgetrieben wurden. Und: Die Ein-Kind-Politik hat über Jahrzehnte auf Eltern den Druck ausgeübt, ein „perfektes Kind“ zu bekommen. Wenn sich abzeichnete, dass der Nachwuchs Behinderungen oder gesundheitliche Einschränkungen aufwies, sahen viele Eltern einen Ausweg nur darin, das eigene Kind auszusetzen. Wie die Eltern von Tian Dabao. Und wie die Eltern von 600 weiteren Kindern, die seit 1988 an der Bischofskirche in Biancun ausgesetzt wurden – wohl in der Hoffnung, dass die Babys rechtzeitig gefunden und versorgt werden. Damals wiederbelebte der Bischof eine Schwesterngemeinschaft, die während der Kulturrevolution verboten worden war. Er gab ihr den Auftrag, Waisenhäuser aufzubauen und ausgesetzten Kindern eine Heimat zu geben. Die kleine Gruppe von jungen Frauen wuchs sehr schnell, als Schwestern von der Heiligen Teresa wollten sie gemeinsam ein religiöses Leben führen. Sie gründeten unweit des Bischofshauses das erste Waisenhaus und nannten es Liming Family. Die heutige Leiterin, Schwester Wang Qinfen, erinnert sich an mühsame Anfänge: „Der Staat hat die Gründung unserer Ordensgemeinschaft nicht gerne gesehen. Nur weil wir uns um die vielen ausgesetzten und behinderten Kinder gekümmert haben, ließen sie uns in Frieden.“ Heute, 27 Jahre später, gehören der Ordensgemeinschaft 100 Schwestern an, 30 junge Frauen befinden sich in der ordenseigenen Ausbildung. Jede Hand wird gebraucht. Der Bedarf an engagierten Kräften, die sich um die Behinderten kümmern, ist groß. Liming Family ist kontinuierlich gewachsen, immer mehr Kinder wurden aufgenommen und neue Einrichtungen gegründet. In Tangqiu, wo Tian Dabao seit nunmehr 23 Jahren ihr Zuhause gefunden hat, leben 30 Jugendliche und junge Erwachsene.

Schwester Wang hat lange Jahre um öffentliche Anerkennung kämpfen müssen. Es gibt viele Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, Schätzungen sprechen von etwa 80 Millionen in China. Weil es bis heute zu wenig Fördereinrichtungen und gezielte Unterstützungsprogramme für Behinderte gibt, wird deren Existenz oftmals geleugnet. „In der nahegelegenen Kreisstadt Ningjin gibt es nur eine Schule für Sehbehinderte und keine Schule für Menschen mit geistiger Behinderung“, klagt Schwester Wang. In den Familien leben viele Menschen mit einer geistigen Behinderung ohne jegliche Förderung und Unterstützung, so die Beobachtung der 44-jährigen Ordensschwester: „Die Dunkelziffer ist nach meiner Einschätzung sehr hoch, weil viele Behinderte versteckt werden.“ Liming Family sucht aktiv den Kontakt zu den betroffenen Familien, häufig werden die Schwestern über die Pfarrgemeinden aufmerksam gemacht, wo Not herrscht.

Die im Dunkeln sieht man nicht

Wie in der Familie Gu. Die beiden Eltern haben Sorge um beide Söhne, die seit der Geburt geistig behindert sind. Der jüngere Gu Bingbing ist 27, zwei Jahre älter sein Bruder Gu Zongzong. Er wird von seinen Eltern als besonders pflegebedürftig eingeschätzt, benötigt viel Versorgung und Betreuung. Der Staat zahlt nur eine geringe finanzielle Unterstützung, an schulische oder sonstige Fördermöglichkeiten für ihn ist nicht zu denken. Schwester Wang schaut alle paar Wochen bei der Familie vorbei, heute hat sie dreißig Eier als kleine Lebensmittelgabe dabei. Die Eltern von Bingbing und Zongzong machen sich große Sorgen, wie es mit den beiden Söhnen weitergehen kann, wenn sie selber nicht mehr in der Lage sind, sie zu versorgen. Schon jetzt ist der Vater oft krank. Er lebt von Gelegenheitsjobs und kann nur wenig zum Haushaltseinkommen beitragen. Mutter Gu ist an den Hof gebunden und kann keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, weil die beiden Söhne und die Großmutter die ständige Anwesenheit notwendig machen. Denn auch die Großmutter ist auf Krücken angewiesen und kann den kleinen Vierkant-Hof nicht mehr verlassen. So bleibt der Familie zum Leben nur das, was der Anbau von Weizen und die Taubenzucht auf dem Hof hergeben. Trotz der offensichtlichen Armut schlagen sie die Unterstützungsangebote von Schwester Wang immer wieder aus: „Wir brauchen nichts“, sagt Frau Gu, es ist ihr sichtlich unangenehm. Ob für den jüngeren Sohn wohl irgendwann ein Platz in einer Werkstatt gefunden werden kann? Schwester Wang würde das begrüßen, für die Familie wäre das eine große Entlastung. Zugleich zeigt sie Skepsis, sie schätzt, dass es in diesem Dorf mit seinen rund 10 000 Einwohnern 30 Kinder mit Behinderungen gibt, die auf Fördermöglichkeiten warten, bisher vergeblich.

Die Schwestern überlegen deshalb, neue Programme für die ambulante Tagesverpflegung anzubieten. Es würde eine Entlastung der betroffenen Familien bedeuten. Und zudem die Förderung von Menschen, die wegen ihrer Behinderung nie eine Schule oder Ausbildungseinrichtung besucht haben. Noch wissen Schwester Wang und ihre Mitstreiterinnen nicht, wie sie ein neues Angebot finanzieren sollen. Der Staat zahlt für jeden Heimbewohner einen monatlichen Zuschuss von gerade mal umgerechnet fünf Euro. Für Operationen, die die Jugendlichen aufgrund ihrer Behinderungen immer wieder brauchen, gibt es keinerlei finanzielle Unterstützung. Die katholische Kirche in China verfügt über keine regelmäßigen Einnahmen und kann deshalb die Ordenseinrichtungen nicht bezahlen.

Schwester Wang berichtet von langen Auseinandersetzungen mit den Behörden, um zumindest geringe Unterstützung zu erhalten. „Früher bekamen wir zu hören: ,Die Kinder gehören nicht in die Gesellschaft.‘ Es wurde von ,menschlichem Müll‘ geredet. Ich habe mich dann ins Amt gesetzt und gesagt, dass ich erst gehe, wenn sie mir Geld für die Kinder geben.“ Mehr als 15 Jahre hat Schwester Wang für die finanzielle Unterstützung und die Anerkennung der Behinderten gekämpft, langsam erntet sie die Früchte. „Früher wurde uns polizeilich verboten, in der Öffentlichkeit über die Probleme der Behinderten zu sprechen. Jetzt kommen der Bürgermeister und Behördenvertreter in unser Heim, um sich zu informieren. Wir werden eingeladen, Vorträge zu halten und können unsere Filme zeigen“, lächelt die resolute Ordensfrau. Sie freut sich über Lebensmittel- und Sachspenden aus der Nachbarschaft von Liming Family. Und sie freut sich über die zahlreichen Hände, die unentgeltlich anpacken. Das Priesterseminar schickt regelmäßig drei Seminaristen, die im Heim mithelfen. Und auch unter den Einwohnern von Tangqiu finden sich Freiwillige, die für kürzere oder längere Zeit zupacken. Die pädagogische und pflegerische Arbeit leisten neun Ordensschwestern, zumeist ohne fachliche Vorkenntnisse.

Schwester Mi Lihong hat heute Tagesdienst. Seit den frühen Morgenstunden unterstützt sie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen beim Aufstehen, der Morgentoilette und dem Frühstück. Das Morgengebet ist für alle Hausbewohner selbstverständlich. Nachdem jeder seinen Beitrag zum Hausputz geleistet hat, bereitet Schwester Mi die Arbeitstische vor. Jede und jeder soll nach seinen individuellen Möglichkeiten eine Aufgabe übernehmen. Schwester Mi geht von einem zum anderen, um das Gespräch zu suchen und ihre Hilfe anzubieten. Für die jungen Leute ist aber auch selbstverständlich, sich gegenseitig zu unterstützen. Tian Dabao ist dankbar, wenn ihr eine Freundin die ,Hände ersetzt‘ und beim Einfädeln der Perlenschnur behilflich ist. Die Hälfte ihres jungen 34-jährigen Lebens hat Schwester Mi im Orden der Heiligen Teresa verbracht. Eingetreten ist sie mit 17, als ihre Eltern sie gegen ihren Willen verheiraten wollten. „Sie sagten mir, dass ich am nächsten Tag dem Heiratskandidaten vorgestellt werde. Ich war entsetzt und bin in die Kirche gegangen, um zu überlegen, was zu tun ist. Ich habe mich dann gegen die Heirat und für den Ordenseintritt entschieden.“ Es war ein schwieriger Weg, gegen den Willen des Vaters. „Mein Vater wollte nicht, dass ich in den Orden eintrete, weil er Repressalien des Staates gegen die Kirche befürchtete“, erinnert sich Schwester Mi. Es habe viele Jahre gedauert, sich mit dem Vater auszusöhnen.

Es fehlt an Ausbildungsmöglichkeiten

Um sich auf die schwierige Arbeit in der Behinderten-Einrichtung vorzubereiten, hat sie im Fernstudium Psychologie studiert. Später ermöglichte ihr der Orden einen zweijährigen Aufenthalt in Europa; sie ging nach Belgien und arbeitete in einer Einrichtung für Sonderpädagogik. In China gibt es viel zu wenig Fördereinrichtungen, es gibt viel zu wenig Differenzierung und Spezialisierung, und so gibt es auch viel zu wenig ausgebildetes Personal. In der Arbeit mit Behinderten sei China noch Entwicklungsland, urteilt Schwester Mi. Und erzählt eine Geschichte: „Der liebe Gott trifft sich mit seinen Engeln und verteilt Aufgaben. Als der letzte Engel auf seine Aufgabe wartet, die er auf der Erde zu erfüllen hat, sagt Gott zu ihm: ,Du gehst als Behinderter in die Welt!‘ Der Engel ist entsetzt. ,Warum muss ich das?‘, fragt er. Und Gott antwortet ihm: ,Damit die Menschen Gelegenheit haben, die Liebe zu üben!‘“

In der Liming Family gibt es viele Kinder und Jugendliche mit dem gleichen Namen: Tian. Schwester Mi sagt, dass alle Kinder, die von ihren Eltern ausgesetzt und in der Liming Family aufgenommen wurden, diesen Namen tragen: Tian, Himmel. Er soll Zuversicht und Optimismus ausdrücken, gerade bei den Menschen, die einen solch schwierigen Start ins Leben hatten.

Hintergrund

China ist mit fast 1,4 Mrd. Menschen das bevölkerungsreichste Land der Erde. Nach offiziellen Angaben leben mehr als 80 Millionen Menschen mit Behinderungen in China. Allerdings sind die Sozialsysteme darauf nicht eingerichtet. In den Städten und besonders auf dem Land mangelt es an ambulanten und stationären Pflegediensten. Auch an Schulen und Fördereinrichtungen fehlt es. Die Kirchen engagieren sich verstärkt für Menschen mit Behinderungen, verfügen aber nicht in ausreichendem Maße über geschultes Personal und Ressourcen, um Einrichtungen zu führen. JR
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