14.08.2015
Grünen-Politikerin Claudia Roth entsetzt über Flüchtlingslage auf Kos "Habe so etwas noch nie gesehen"
Claudia Roth © dpa
Auf der griechischen Ferieninsel Kos suchen nach wie vor täglich bis zu 1.000 Flüchtlinge Zuflucht. Grünen-Politikerin Claudia Roth hat Kos besucht und spricht gegenüber domradio.de von unmenschlichen Verhältnissen vor Ort.
domradio.de: Der Bürgermeister der Insel warnt mittlerweile wegen des Flüchtlingsansturms vor einem "Blutvergießen". Sie haben mit ihm gesprochen. Wie haben Sie die Lage erlebt?
Claudia Roth (Bundestagsvizepräsidentin und Grünen-Politikerin): Ich habe ein totales Chaos und eine Situation, die außer Kontrolle geraten ist, erlebt. Ich habe Flüchtlinge gesehen, die völlig auf sich alleine gestellt sind - ohne eine richtige Erstaufnahme zu bekommen. Ihnen fehlt selbst die Basisversorgung. Die Flüchtlinge kommen über das Meer, sie haben nasse Kleidung und bekommen weder trockene Kleidung noch Nahrung, Wasser oder medizinische Versorgung. Und sie sind nicht menschenwürdig untergebracht. Man hat mit einem offenen Brief, den der Bürgermeister verschickt hat, diese Spannung sogar eher eskaliert. Es kam zu Handgemengen mit Rauchbomben und Stöcken. Flüchtlinge sind aus der ganzen Stadt bei gleißender Sonne in das Stadion getrieben wurden. Dort gab es nur zwei Toiletten, die nach kürzester Zeit schon gar nicht mehr funktioniert haben. Ich habe so etwas wirklich noch nie gesehen. Und ich habe mich zutiefst geschämt, dass die Flüchtlinge aus aller Welt mitten in Europa die Hölle auf Erden erleben.
domradio.de: Sie haben als deutsche Politikerin vor Ort gestanden und mit Verantwortlichen auf Kos gesprochen. Was haben Sie mit ihnen besprochen und wie vielen die Reaktionen aus?
Claudia Roth: Ich habe versucht, den Hotelbesitzern die Angst zu nehmen, die sagen, die Situation schade ihrem Tourismus. Ich habe denen entgegnet, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass die Touristen, die dort Urlaub machen, sehr sensibel sind und genau schauen, wie man mit Menschen umgeht. Die werden sich fragen, was denn da los ist, wenn die Menschen auf kleinsten Flecken campieren müssen. Es muss eine Basisversorgung und eine Koordination her. Da ist niemand verantwortlich und der Bürgermeister hat sich auch nicht darum gekümmert, dass es eine Infrastruktur gibt. Glücklicherweise gibt es Organisationen wie "Ärzte ohne Grenzen" oder Initiativen wie "Kos Solidarity", die sich engagieren. "Kos Solidarity" sind Lehrer und Lehrerinnen, die seit Mai für die Flüchtlinge gekocht haben. Zum Schluss konnten sie sich das aber kräftemäßig und finanziell auch nicht mehr leisten, weil sie für bis zu 2.000 Menschen hätten kochen müssen. Bei der Finanzkrise, die auf Griechenland lastet, ist es dennoch keine Entschuldigung, dass man Menschen so behandelt. Und deshalb geht die Kritik auch in Richtung Athen. Auf meine Frage, welches Ministerium denn zuständig sei, antwortete man mir, es seien vier bis fünf Ministerien, die aber ihre Verantwortung vor sich hertragen und jeweils einem anderen zuschustern.
domradio.de: Jetzt soll ein Schiff geschickt werden, das dann als eine Art schwimmende Verwaltungseinheit funktionieren soll. Was halten Sie von dieser Maßnahme?
Claudia Roth: Wenn dieses Schiff tatsächlich einsatzbereit ist, Toiletten und Duschen funktionieren, die Registrierung erfolgt und die Menschen schnellstmöglich die Insel verlassen können, um aufs Festland und weiter nach Europa zu kommen, dann ist das ein längst überfälliger Schritt. Man muss aber auch Land zur Verfügung stellen. Vertreter von "Ärzte ohne Grenzen" haben mir gesagt, dann könnte der UNHCR auch ganz anders mithelfen. Eines muss uns klar sein: Es gibt einen Exodus in dieser Region und der wird nicht morgen beendet sein. Ich war in diesem Jahr schon drei Mal wegen der Flüchtlingskatastrophe auf Sizilien. Sizilien ist eine der ärmsten Regionen Italiens. Aber da funktioniert es einfach anders. Und dies hat auch mit der Rolle der Kirche zu tun. Wenn dort eine große Gruppe Flüchtlinge ankommt, werden rechtzeitig die Ärzte informiert. Es kommen die Wohlfahrtsverbände wie die Caritas. Dann wird gefragt, welche Kirchen Räume zur Verfügung haben. Die Klöster öffnen ihre Türen. Ich habe ein Jesuitenkloster besucht, das Flüchtlinge untergebracht hat und einen Pfarrer getroffen, der seine Kirche in der Nähe des Hafens von Palermo für Flüchtlinge hergerichtet hat. Da merkt man, dass die christliche Verantwortung wahrgenommen wird. Das habe ich alles auf Kos überhaupt nicht gesehen. Die Kirchen dort waren verriegelt und mit Ketten gesichert.
domradio.de: Was spielt denn die EU in dieser Lage für eine Rolle?
Claudia Roth: Die Mitgliedsstaaten der EU müssen sehr viel Verantwortung übernehmen. Wir können nicht die Augen verschließen. Es ist keine Lösung, so wie es Bulgarien jetzt versucht, eine 100 Kilometer lange Mauer zur türkischen Grenze hin zu errichten. Oder wie Ungarn mit einem 175 Kilometer langem Zaun. Es ist auch nicht sinnvoll - so wie es in Deutschland wieder passiert - darüber zu debattieren, wie man die Leistungen für Flüchtlinge im vermeintlichen Glauben reduziert, es würden dann weniger Flüchtlinge kommen. Es ist ein Wettlauf der Schäbigkeit, den sich Europa leistet und ich habe mich schon gefragt, womit Europa denn den Friedensnobelpreis verdient hat, wenn außer sechs Ländern überhaupt kein Staat Menschen aufnehmen will.
domradio.de: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Uta Vorbrodt
(dr)
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