Ungarn: „Sehr starkes Mitgefühl für Flüchtlinge“
Syrische Flüchtlinge vor dem Budapester Ostbahnhof. Ziel: Deutschland - REUTERS
04/09/2015 16:30SHARE:
In Ungarn harren weiter Tausende Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten in Syrien und Irak aus. Hunderte haben sich Berichten zufolge zu Fuß auf den Weg nach Österreich gemacht. Die Asylsuchenden sollen sich nach dem Willen der Behörden in einem der fünf Flüchtlingszentren des Landes registrieren lassen, wie es das EU-Recht vorsieht, doch viele Menschen lehnen das ab, weil sie nicht in Ungarn bleiben wollen. Rund um den Budapester Ostbahnhof kampieren seit Wochen Menschen auf Durchreise. Sie versorgt der ungarische Malteser Hilfsdienst. Wir haben mit Christiana Habsburg gesprochen, die mit ihrem Mann Michael Habsburg-Lothringen, dem Botschafter des Malteserordens in Ungarn, Tag für Tag dort Dienst tut.
„Der ungarische Malteser-Hilfsdienst ist von Anfang an schon dort, wir haben da so einen kleinen Van dort stehen, wo wir Ärzte haben und wir gehen hinunter in diese große Halle, in der diese Unglücksmenschen zurzeit kampieren, jetzt schon seit vielen Wochen und gehen zu den einzelnen Menschen hin“, berichtet die ehrenamtliche Helferin. „Es sind meistens harmlose Sachen, also Bauchweh und wund gelaufene Füße, das ist eines der Hauptprobleme, weil so viele von ihnen ohne Schuhe ein paar Hundert Kilometer gelaufen sind. Und da machen wir eben die erste Hilfe, die man machen kann.”
RV: Sie registrieren aber auch eine wachsende Unruhe unter den Menschen. Wie würden Sie die beschreiben?
„Die Frauen sitzen ganz geduldig unten mit den Kindern und warten einfach, was geschieht. Und die Männer besprechen sich miteinander. Wir spüren einfach die Unruhe, sie möchten weiter, sie möchten alle nach Deutschland: „Germany, Germany!“, weil sie dort Verwandte haben, weil ein Bruder, ein Onkel, jemand schon dort lebt, oder nach Schweden, nach Norwegen, wo anscheinend doch relativ viel Syrier schon leben. Wir spüren nur, dass die Ungeduld wächst. Sie sind trotzdem, wenn man mit ihnen spricht, immer unendlich freundlich, höflich, liebevoll und vor allem – was für uns menschlich so wunderschön ist – mit einem unglaublich große Herzen, also wenn man ihnen ein Lächeln schenkt, kommen zehn Lächeln zurück. Eine Herzlichkeit, eine Freundlichkeit, obwohl sie wirklich nichts haben und in einer schweren Situation sind, dass wir jedes Mal ganz beglückt von dort wieder zurück kommen.
Das ist menschlich unglaublich bereichernd, die Arbeit mit ihnen. Nur tun sie mir so leid, weil es ist immer die Anspannung: Wie geht es weiter? Und alles, was wir ihnen wünschen, ist, dass auf irgendeine Weise in Europa entschieden wird, ich weiß nicht – Notstandgesetze: Dürfen sie weiterreisen? Dürfen sie erst einmal in ein Camp in Deutschland, wo sie dann genau dieselbe Registrierung machen wollen, machen können oder ihre Anträge stellen. Ich weiß es nicht, ich bin froh, dass ich kein Politiker bin. Es ist schwer zu lösen.”
RV: Wie gehen denn die Bürger in Ungarn mit dieser unerwarteten Situation um?
„Völlig unerwartet, da haben sie vollkommen recht - völlig unerwartet. Zunächst einmal haben die Leute durch die Fernsehbilder einfach Angst und sagen: „Was ist das?“ Aber im Moment, wo die selber das mit ihren eigenen Augen sehen, sind die von einer Hilfsbereitschaft, die vollkommen überwältigt. In der Bahnhofshalle können wir uns da unten kaum retten vor Menschen, die sagen: „Was kann ich tun? Wo kann ich helfen?“ Sie kommen mit riesigen Tüten, mit Essen. Eine alte Frau, eine Ungarin, hat sich mit einem Berg von Decken in die Mitte gestellt, um Decken zu verteilen. Die wollen, wollen helfen. Die wissen halt alle von der eigenen Haut noch, was es heißt, Flüchtling zu sein. Die haben alle 1989 noch im Kopf, als all die DDR-Flüchtlinge durchkamen. Hier ist ein sehr starkes Mitgefühl, absolut sehr stark.” Verständnis für Viktor Orban
RV: Heißt das nicht auch, es gibt eine offensichtlich Diskrepanz zwischen den hilfsbereiten Menschen und der Politik in Ungarn? Die Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban zeigen von Herz keine Spur.
„Im Moment ist dieser arme Mann vollkommen überrannt. Er sieht sich alleine. Er ist ja ein überzeugter Christ, ein evangelischer überzeugter Christ. Und er hat mehrmals gesagt, als Christen ist unsere erste Pflicht zu helfen. Auf der anderen Seite steht er unter einem wahnsinnigen Druck von den anderen Europäern, die ihm sagen, ihr seid die Außengrenze, ihr müsst jetzt richtig handeln. Ihr müsst die Außengrenze schützen und auf der anderen die Leute richtig registrieren, sonst haltet ihr die Regeln nicht ein. Ich glaube, das ist zum Wahnsinnigwerden. Im Moment sind die [ungarischen Regierungsverantwortlichen] einfach überrannt und wissen nicht, wie sie mit dieser unerwarteten und unvorbereiteten Situation umgehen sollen. Insofern ist er unter Druck. Aber er sagt, unsere Pflicht ist zunächst so lange wie wir können die Regeln einzuhalten, die wir einhalten müssen, und die Europa von uns verlangt. Wer immer am Außenrand sitzt, hat das Problem und muss damit umgehen.” RV: Eine solche akute und massive Notlage wie die der Flüchtlinge in Ungarn ruft immer Veränderungen im öffentlichen und im politischen Bewusstsein eines Landes hervor. Zeichnet sich so etwas aus Ihrer Sicht schon ab?
„Was ich mir einfach hoffe, ist, dass da generell in Europa etwas passiert. Dass da eine Wandlung der Herzen geschieht. Ich sage Ihnen meine ganz persönliche Meinung, die ich im Herzen habe: Wir brauchen in Europa dringend ein Weggehen von diesem egoistischen Ich-mein Geld-meine Karriere-Denken, und der Rest geht mich nichts an. Jetzt sind wir konfrontiert von einem Moment auf den anderen mit einer harten Wahrheit, die aber ihre schönen Seiten hat und ein wahres menschliches Problem ist. Und ich sehe, dass die Reaktion kommt, die ich mir erträume. Dass die Menschen über ihren Schatten springen und sagen: Gerade jetzt will ich helfen. Rein menschlich gesehen: das kann auch ein Segen für uns in Europa werden! Dass sie plötzlich ihre Herzen wieder entdecken. Und im Übrigen hoffe ich einfach, dass eine Lösung gefunden wird, dass die weiterreisen können. Es kommen genügend nach, aber dann hätte man die Sache besser im Griff." (rv 04.09.2015 gs) http://de.radiovaticana.va/news/2015/09/...2%80%9C/1169651
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