11.11.2015 15:30 Der Gipfel der Religionen Ressourcen gegen den Culture Clash: Wofür können Religionen mobilisieren? Von Martin Kugler ANZEIGE: Angeregte Gespräche in der Gipfelpause (v.l.n.r.): Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Rabbi Walter Rothschild, Gastgeber Florian Werner und Moderator Hans Winkler. Foto: Dieter Mathis vergrößern Die brennenden Fragen rund um die Flüchtlingskrise, die großen Themen Migration und Integration werden in Zukunft unbefangener, ehrlicher und mit ganz neuen Perspektiven behandelt werden müssen. Und die Rolle der Religionen als Ursache und mögliche Antwortgeber auf die bestehenden und zu erwartenden Konflikte muss viel intensiver und konkreter in den Blick genommen werden. Diese beiden Erkenntnisse zogen sich wie ein roter Faden durch die Diskussionen des in St. Christoph am Arlberg in Tirol tagenden ersten „Gipfels der Religionen“. Im traditionsreichen Arlberg Hospiz Hotel ging am vergangenen Wochenende mit prominenten Vertretern der drei monotheistischen Weltreligionen der Erstling eines neuen Veranstaltungsformats über die Bühne. In dem kleinen Ski-Ort wird in wenigen Tagen nicht nur die höchstgelegene Kunsthalle Europas eröffnet, man will auch in die Fußspuren des „Philosophicum“ im nahegelegenen Lech am Arlberg treten, mit einem anderen Fokus und gleicher Ambition.
Zu Beginn stellte der deutsche Theologe Thomas Möllenbeck die Frage: „,Religion‘ – was ist das? Ist es gefährlich?“ Und er wandte sich gegen das häufige Vorurteil, der vielbeschworene „clash of cultures“ wäre weniger dramatisch, wenn die Religionen schon so erfolgreich „verweltlicht“ wären, wie in den sogenannten „offenen“ Gesellschaften des Westens. „Ihre Säkularisierung kann Religionen genauso gefährlich machen wie ihre Verabsolutierung“, so der am Internationalen Theologischen Institut (ITI) in Trumau bei Wien lehrende Möllenbeck, und spielte damit auf die Vereinnahmung der Religion durch die Politik an. Wenn „Gott“ nicht ernst genommen und „zum Funktionieren“ der Gesellschaft verzweckt wird, dann ist der nächste Schritt meist die totalitäre Verzweckung des Menschen durch den „Gott“ Gesellschaft. Dass diese Warnung sich ebenso an islamische wie an europäische Mächte richte, bestätigte die Religionswissenschaftlerin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz in einem historischen Rekurs: „Es scheint unzweifelhaft, dass beide, die rote und die braune Großideologie, ihren ,Erfolg‘ einer pseudoreligiösen Aufladung ihrer Botschaft verdankten, das meint: einer Bindung religiöser Sehnsüchte an eine politische ,Heilslehre‘, verkörpert in den ,Großen Führern‘ aller Couleur.“
Das Herzstück der Tagung widmete sich der Frage, welche Ressourcen Christen, Moslems und Juden gegen den Culture Clash mobilisieren könnten. Der bekannte liberale Berliner Rabbiner Walter Rothschild brachte angesichts der Langfristigkeit der aktuellen Krise die spezifische Fähigkeit gläubiger Menschen ins Spiel, im Kontext zu denken und ohne „schnelle Antworten“ zu leben. „Religiöse Menschen denken langfristig. Es gab eine Zeit vor der Zeit und es wird eine Zeit nach der Zeit geben. Areligiöse Menschen denken oft nur an hier und jetzt. Auch die Politik denkt in der Flüchtlingskrise nur kurzfristig.“
Ein Vertreter der bosnischen Muslime, Muhamed Fazlovic aus Sarajevo, unterstrich die authentisch-europäische Spielart des Islam in seinem Land und die Bedeutung seiner Gemeinschaft als „Vermittlerin“ eines Konfliktes, den die meisten Referenten mit Navid Kermani als innerislamischen Krieg sahen. Fazlovic nannte die Krise der Familienwerte als eines mehrerer Felder, auf denen eine Zusammenarbeit von Christen und Muslimen in Europa fruchtbar sein könnte.
Als weltkirchliche Stimme kam Prälat Gianpietro Dal Toso, Sekretär des Päpstlichen Rats „Cor Unum“, zu Wort und widmete sich zunächst den Schwächen eines Europa, das seine christliche Seele vergessen habe. Es diktiere vielfach die Angst als Reaktion der Schwäche gegenüber einem Phänomen historischer Dimension. „Angst um unseren materiellen Wohlstand, Angst um unser kulturelles Erbe, Angst um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, Angst, dass unsere kirchliche Gemeinschaften einst wie Minderheiten sein werden wie jetzt im Mittleren Orient. Angst ist allerdings keine gute Ausgangsbasis für (...) eine fruchtbare Begegnung mit dem Anderen, weil Angst Aggression auslöst.“ Und doch seien diese Ängste sehr ernst zu nehmen.
„Jesus selbst war als Flüchtling in Ägypten“
Der aus Südtirol stammende Mitarbeiter des Papstes wies auf die Verantwortung eines Kontinents hin, der für Millionen Menschen weltweit ein Anziehungspunkt sei. „Seit der Gründung der Europäischen Union wiederholen wir, dass Europa eine Seele braucht. Europa scheint sich aber jahrzehntelang nur um Fragen der Wirtschaft gekümmert zu haben (...) Wir haben die Wirklichkeit allein mit der betäubenden Droge des Wohlstands wahrgenommen. Aber dies bedeutet, dass wir nur um uns selbst kreisen, um unsere authentischen oder vermeintlichen Bedürfnisse, um Interessen, Rechte, Positionen (...). Wir haben aber ein viel größeres Potenzial. Die Europäer sind über unbekannte Meere hinausgesegelt, haben die Größe einer sinngebenden Synthese vermittelt, haben eine globale Kultur ermöglicht. Dessen sollten wir uns neu bewusst werden.“
Der „Entwicklungshilfeminister des Vatikans“ erinnerte daran, dass Migration immer schon ein zweischneidiges Thema war. „Jesus selbst war als Flüchtling in Ägypten, da er von Herodes verfolgt war. (...) Die Geschichte ist von solchen Erscheinungen durchdrungen, wobei die Begegnung der Völker zwar viel Leid auslösen kann, aber der Menschheit zugleich immer neue Impulse gibt. Ohne Migration wären heute die Schweiz oder Deutschland nicht das, was sie sind.“ Dal Toso warnte aber auch vor einer generellen Dämonisierung von Grenzen: „Territorial gesehen braucht jeder Staat eine Grenze, um überhaupt festzulegen, für wen er da ist. Ein Verfassungsstaat braucht Grenzen, um eine Ordnung stiften zu können.“ Grenzen seien einfach notwendig, damit der Staat seine Funktion ausüben kann. „Dass also eine Grenze passierbar ist, bedeutet nicht, dass es überhaupt keine Grenzen geben soll. Über jede plumpe Vereinfachung hinaus wird uns also heute in dieser Krise das Spannungsverhältnis zwischen universal und lokal am Beispiel der Grenzen neu bewusst.“
Dal Toso sprach für viele Teilnehmer, als er Europa nur im christlichen Glauben die Kraft zusprach, den Wert des Lebens neu zu entdecken. „Wir können erfülltes Leben anbieten. Das ist unsere Rolle heute auf der Bühne der Welt, aber das geht nicht ohne eine Wiederentdeckung des Gottes des Lebens und der Liebe. Insofern stellt das Phänomen der Migration eine Herausforderung für uns dar, die uns Gutes tun kann.“
Der vitale Beitrag zur Konfliktüberwindung durch Menschen, die ihrem gereiften Gewissen treu bleiben, war auch Thema eines Abends mit dem deutschen Regisseur und Autor Patrick Roth und einer „Antigone“-Lesung mit Filmstar Tobias Moretti und der Schauspielerin Gabriele Schuchter. Die Tagung soll in ähnlicher Form im Oktober 2016 eine Fortsetzung finden und zu einem Fixpunkt geistiger Auseinandersetzung im Westen Österreichs werden
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