„Die Stille des Egoismus“ Generalaudienz von Mittwoch, dem 11. November 2015 -- Volltext
Vatikanstadt, 11. November 2015 (ZENIT.org) Redaktion | 272 klicks
Wir dokumentieren im Folgenden in einer eigenen Übersetzung die vollständige Katechese von Papst Franziskus bei der heutigen Generalaudienz auf dem Petersplatz.
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[Worte zu Beginn der Generalaudienz:]
In diesen Tagen feiert die italienische Kirche ihren nationalen Kongress in Florenz. Dieser vereint Kardinäle, Bischöfe, Ordensleute und Laien miteinander. Ich lade euch dazu ein, für sie ein Ave Maria zur Gottesmutter zu beten. [Ave Maria].
[Katechese:]
Die Familie – 32. Die Tischgemeinschaft
Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!
Heute betrachten wir eine für das Familienleben typische Eigenschaft, die wir von den ersten Lebensjahren an erlernen: die Tischgemeinschaft, d.h. eine Haltung zum Teilen der Lebensgüter anzunehmen und dies mit Freude zu tun. Teilen und Teilen können ist eine kostbare Tugend! Das Symbol, das „Bild“ dafür ist die um einen häuslichen Tisch versammelte Familie. Das Teilen der Mahlzeit – und daher neben dem Essen auch der Zuneigung, der Erzählungen, der Ereignisse… – ist eine wesentliche Erfahrung. Bei der Feier eines Festes, eines Geburtstages, eines Jahrestages versammelt man sich um einen Tisch. In manchen Kulturen wird dies auch bei einem Todesfall praktiziert, um den um den Verlust eines Familienmitgliedes Trauernden nahe zu sein.
Die Tischgemeinschaft ist ein verlässliches Thermometer der Gesundheit der Beziehungen: Wenn in der Familie etwas nicht funktioniert oder etwas verborgen wird, versteht man das bei Tisch sofort. Wenn eine Familie fast nie gemeinsam isst, wenn bei Tisch nicht gesprochen wird und sich die Aufmerksamkeit stattdessen auf den Fernseher oder das Smartphone richtet, so ist sie „wenig Familie“. Wenn die Kinder bei Tisch den Blick auf den Computer oder das Handy geheftet haben und einander nicht zuhören, so handelt es sich um keine Familie, sondern um eine Pension.
Das Christentum hat bekanntlich eine besondere Berufung zur Tischgemeinschaft. Der Herr Jesus lehrte gerne bei Tisch und verglich das Reich Gottes zuweilen mit einem festlichen Gastmahl. Jesus wählte einen Tisch auch als Ort der Übergabe seines geistlichen Testamentes an seine Jünger – er tat dies beim Abendmahl – , vereinigt in der denkwürdigen Geste seines Opfers: das Geschenk seines Leibes und seines Blutes in Form von Speise und Trank des Heiles, die die wahre und dauerhafte Liebe nähren.
In dieser Hinsicht können wir sehr wohl sagen, dass die Familie am Tisch „zuhause“ ist, gerade weil sie ihre Erfahrung der Tischgemeinschaft zur Eucharistie bringt und sie für die Gnade einer universellen Tischgemeinschaft, der Liebe Gottes zur Welt, öffnet. Durch die Teilhabe an der Eucharistie wird die Familie – bestärkt in der Liebe und in der Treue – von der Versuchung gereinigt, sich in sich selbst zu verschließen und erweitert die Grenzen ihrer Brüderlichkeit gemäß dem Herzen Christi.
In unserer von großer Verschlossenheit und zu vielen Mauern geprägten Zeit wird die von der Familie geschaffene und von der Eucharistie erweiterte Tischgemeinschaft zu einer entscheidenden Gelegenheit. Die Eucharistie und die von ihr genährten Familien können die Verschlossenheit überwinden und Brücken der Annahme und der Barmherzigkeit bauen. Ja, die Eucharistie einer Familienkirche, die der Gemeinschaft den wirkenden Sauerteig der Tischgemeinschaft und der gegenseitigen Gastfreundschaft geben kann, ist eine Schule der menschlichen Einbeziehung, die keine Konfrontation scheut! Es gibt keine Kleinen, Waisen, Schwachen, Wehrlosen, Verletzten und Enttäuschten, Verzweifelten und Verlassenen, die die eucharistische Tischgemeinschaft der Familien nicht nähren, aufbauen, schützen und beherbergen könnte.
Das Gedächtnis der familiären Tugenden hilft uns zu begreifen. Wir erfahren nach wie vor, welche Wunder geschehen können, wenn eine Mutter nicht nur für die eigenen, sondern auch die Kinder anderer einen Blick hat und ihnen Aufmerksamkeit entgegenbringt, sie betreut und für sie sorgt. Bis gestern genügte eine Mutter für alle Kinder im Hof! Dem ist Folgendes hinzuzufügen: Wir wissen genau, welche Kraft ein Volk erlangt, dessen Väter zum Handeln bereit sind, um die Kinder aller zu schützen, da sie Kinder als geteiltes Gut betrachten, das sie mit Freude und Stolz schützen.
Heute stehen der familiären Tischgemeinschaft Hindernisse im Wege, die aus vielen sozialen Rahmenbedingungen stammen. Es stimmt, dass es heute nicht einfach ist. Wir müssen Wege finden, um sie wiederzuerlangen. Bei Tisch spricht man, man hört zu. Es darf keine Stille herrschen, denn diese Stille ist nicht jene der Ordensfrauen, sondern die Stille des Egoismus; jeder ist für sich, der Fernseher oder der Computer läuft… und man spricht nicht.
Nein, keine Stille. Es gilt, jene familiäre Tischgemeinschaft wiederzuerlangen, jedoch an unsere Zeit anzupassen. Die Tischgemeinschaft ist scheinbar zu einem käuflichen und verkäuflichen Objekt geworden, doch so ist sie etwas anderes. Die Ernährung ist nicht immer das Symbol eines rechten Teilens von Gütern, die jenen zu erreichen vermag, der ohne Brot und ohne Zuneigung ist. In den reichen Ländern werden wir dazu veranlasst, für Nahrung im Überfluss auszugeben, und dann werden wir wieder dazu veranlasst, Abhilfe für diese Exzesse zu finden. Dieses sinnlose „Geschäft“ lenkt unsere Aufmerksamkeit vom wahren Hunger ab, dem Hunger des Leibes und der Seele. Wo keine Tischgemeinschaft ist, herrscht Egoismus: Jeder denkt an sich selbst. Dies umso mehr, da die Werbung den Hunger zum Verlangen nach einem Snack und zur Lust auf etwas Süßes gemacht hat. Während viele, zu viele Brüder und Schwestern, weg vom Tisch bleiben. Das ist ein bisschen schändlich!
Schauen wir auf das Geheimnis des eucharistischen Gastmahls. Der Herr bricht seinen Leib in Stücke und vergießt sein Blut für uns. Tatsächlich gibt es keine Spaltung, die diesem Opfer der Kommunion widerstehen kann; nur die Haltung der Falschheit, die Komplizenschaft mit dem Bösen, kann uns davon ausschließen. Jede andere Entfernung kann der wehrlosen Stärke dieses geteilten Brotes und des ausgegossenen Weines nicht widerstehen, dem Sakrament des einen Leibes des Herrn.
Der lebendige und lebenswichtige Bund der christlichen Familien, der vorausgeht, unterstützt und in der Dynamik seiner Gastfreundschaft die täglichen Mühen und Freuden umarmt, wirkt mit der Gnade der Eucharistie zusammen, die imstande ist, immer neue Gemeinschaft zu schaffen: mit ihrer Kraft, die einschließt und rettet.
Die christliche Familie wird gerade so die Weite ihres waren Horizontes zeigen: des Horizontes der Kirche, die Mutter aller Menschen, aller Verlassenen und Ausgeschlossenen, aller Völker ist. Bitten wir darum, dass diese familiäre Tischgemeinschaft in der Gnadenzeit des bevorstehenden Jubiläums der Barmherzigkeit wachsen und reifen kann.
(11. November 2015) © Innovative Media Inc.
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