Regionale Gewohnheiten, die dem liturgischen Gesetz widersprechen „Jeder soll immer daran denken, dass er Diener der heiligen Liturgie ist“
Rom, 13. November 2015 (ZENIT.org) P. Edward McNamara | 51 klicks
P. Edward McNamara, Professor für Liturgie und Studiendekan der Theologischen Fakultät am Päpstlichen Athenäum „Regina Apostolorum“ in Rom, beantwortet eine Frage zur Gültigkeit liturgischer Gesetze.
Frage: In meiner Pfarrei weise ich Messdiener in ihren Dienst ein. Ich selbst wurde noch zu Zeiten der „alten Messe“ unterwiesen. Vor Messdienerstunden oder wenn ich jemanden korrigiere schaue ich deswegen vorher immer im Messbuch, in der Grundordnung des Römischen Messbuchs (GRM), und in Bischof Elliott's überarbeiteten „Zeremonien des Modernen Römischen Ritus“ nach. Immer öfter werden wir gebeten, den regionalen „Traditionen“ zu folgen und seltener zu korrigieren. Wie flexibel ist die Grundordnung? Darf ein Pfarrer die Grundordnung auslegen oder verändern? – K.R., Virginia Beach, Virginia, USA
P. Edward McNamara: Die Antwort hängt davon ab, von welcher Art regionaler Tradition hier die Rede ist.
Eine Art regionaler Tradition kann zum Beispiel ein nationales liturgisches Gesetz sein, das ordnungsgemäß vom Heiligen Stuhl genehmigt worden ist. In dem Fall handelt es sich nicht etwa um eine Gesetzesübertretung, sondern um dessen spezifische Anwendung auf örtliche Gegebenheiten. Beispielsweise heißt es im lateinischen Text der Grundordnung, dass der Priester beim Friedenszeichen nicht den Chorraum verlassen soll. Die Bischöfe der USA haben darum gebeten, ganz bestimmte Ausnahmen zu dieser Regel zuzulassen. Diese wurden genehmigt und in der englischsprachigen Übersetzung, die in den Vereinigten Staaten veröffentlicht wurde, aufgenommen.
Andere regionale Traditionen können aufgrund von einer rechtmäßigen Gewohnheit Gesetzeskraft erlangen. In der „Catholic Encyclopedia“ liest man [eigene Übersetzung]: „Eine Gewohnheit ist ein ungeschriebenes Gesetz, das aufgrund eines regelmäßigen Handelns der Gläubigen mit Zustimmung des rechtmäßigen Gesetzgebers eingeführt worden ist. Man kann die Gewohnheit als Tatsache oder als Gesetz betrachten. Als Tatsache besteht sie einfach in der häufigen und freien Wiederholung von Akten, die sich auf die gleiche Sache beziehen; als Gesetz ist sie Resultat oder Folge dieser Tatsache. Von daher stammt ihr Name [englisch: „custom“], der vom lateinischen consuesco oder consuefacio abgeleitet ist und eine häufig vollzogene Handlung bezeichnet (Cap. Consuetudo v, Dist. i.)“.
Allgemeingültige Regeln in Bezug auf Gewohnheiten finden wir im Kirchenrecht. So heißt es dort:
„Can. 23 — Nur die durch eine Gemeinschaft von Gläubigen eingeführte Gewohnheit, die vom Gesetzgeber genehmigt worden ist, hat die Kraft eines Gesetzes, nach Maßgabe der folgenden Canones.
Can. 24 — § 1. Keine Gewohnheit kann die Kraft eines Gesetzes erlangen, die dem göttlichen Recht zuwiderläuft.
§ 2. Eine widergesetzliche oder außergesetzliche (praeter ius canonicum) Gewohnheit kann die Kraft eines Gesetzes nur erlangen, wenn sie vernünftig ist; eine Gewohnheit aber, die im Recht ausdrücklich verworfen wird, ist nicht vernünftig.
Can. 25 — Keine Gewohnheit erlangt die Kraft eines Gesetzes, wenn sie nicht von einer wenigstens passiv gesetzesfähigen Gemeinschaft mit der Absicht, Recht einzuführen, geübt wurde.
Can. 26 — Falls sie nicht von dem zuständigen Gesetzgeber besonders gebilligt wurde, erlangt eine dem geltenden kanonischen Recht widersprechende oder eine außergesetzliche (praeter legem canonicam) Gewohnheit nur dann die Kraft eines Gesetzes, wenn sie rechtmäßig dreißig ununterbrochene und volle Jahre hindurch geübt wurde; gegen ein kanonisches Gesetz aber, das eine Klausel enthält, die zukünftige Gewohnheiten verbietet, kann allein eine hundertjährige oder unvordenkliche Gewohnheit Geltung erlangen.
Can. 27 — Die Gewohnheit ist die beste Auslegerin der Gesetze.
Can. 28 — Unbeschadet der Vorschrift des can. 5 wird ein widergesetzliches oder ein außergesetzliches (praeter legem) Gewohnheitsrecht durch ein entgegengesetztes Gewohnheitsrecht oder Gesetz widerrufen; jedoch widerruft, falls das Gesetz dies nicht ausdrücklich erwähnt, ein Gesetz nicht hundertjähriges oder unvordenkliches Gewohnheitsrecht und ein allgemeines Gesetz kein partikulares Gewohnheitsrecht.“
Der oben erwähnte Text von Canon 5 lautet folgendermaßen:
„Can. 5 — § 1. Bis jetzt gegen die Vorschriften dieser Canones geltendes allgemeines oder partikulares Gewohnheitsrecht, das durch die Canones dieses Codex verworfen wird, ist gänzlich aufgehoben und kann in Zukunft nicht wiederaufleben; auch das übrige gilt als aufgehoben, es sei denn, dass im Codex ausdrücklich etwas anderes vorgesehen ist, oder dass es hundertjährig oder unvordenklich ist; dieses darf nämlich geduldet werden, wenn es nach dem Urteil des Ordinarius den örtlichen und persönlichen Umständen entsprechend nicht beseitigt werden kann.
§ 2. Bis jetzt geltendes allgemeines oder partikulares außergesetzliches (praeter ius) Gewohnheitsrecht bleibt bestehen.“
Wie man sehen kann, unterscheidet das Kirchenrecht verschiedene Arten von Gewohnheiten. Zunächst einmal gibt es „widergesetzliche“ Gewohnheiten; das heißt, sie widersprechen dem Wortlaut des Gesetzes selbst bzw. sie sind illegal.
Dann gibt es „außergesetzliche“ Gewohnheiten; das sind Gewohnheiten, die in der Praxis in Bereichen gelten, über die das Gesetz schweigt. Im lateinischen Fachjargon bezieht sich der Ausdruck praeter legem („außergesetzlich“) auf etwas, was vom Gesetz her nicht geregelt und somit nicht illegal ist.
Einige Liturgieexperten meinen, dass es fast unmöglich ist, im Bereich der Liturgie eine widergesetzliche Gewohnheit zu etablieren, da der Gesetzgeber, in diesem Fall der Heilige Stuhl, sich alle wesentlichen Bestimmungen in Bezug auf die Liturgie vorbehalten und von seiner endgültigen Zustimmung abhängig gemacht hat. Diese Experten behaupten also, dass die in Canon 23 genannten Bedingungen hinsichtlich der Genehmigung des Gesetzgebers – außer im Falle von hundertjährigen oder unvordenklichen Gewohnheiten – unerfüllbar sind.
Andererseits sind in der Instruktion Redemptionis Sacramentum (2004) eine Reihe von bei der Messfeier auftretenden Missbräuchen beschrieben. Achtmal werden gewisse schwerwiegende Missbräuche verworfen, wobei gelegentlich folgende Worte verwendet werden: „Diese Praxis ist verworfen und kann deshalb nicht aufgrund irgendeiner Gewohnheit gestattet werden.“
Das würde zumindest indirekt beinhalten, dass die Gottesdienstkongregation es für möglich hält, dass einige Missbräuche in der Liturgie zu einem Gewohnheitsrecht werden könnten. Kirchenrechtler scheinen das als eine offene Frage zu beurteilen, und da ich auf diesem Gebiet kein Experte bin, kann ich nur auf die Existenz einer diesbezüglichen Debatte hinweisen.
Wenn wirklich nur hundertjährige und unvordenkliche Gewohnheiten sich durchsetzen können, dann kann von solchen, lange Zeit vorherrschenden Gewohnheiten gewöhnlich nicht die Rede sein – denn schließlich geht das Dekret, mit dem die erste Ausgabe des neuen Messbuchs genehmigt wurde, auf das Jahr 1970 zurück, jenes der dritten typischen Ausgabe auf Latein auf das Jahr 2000 und die Genehmigung der englischsprachigen Übersetzung auf das Jahr 2011. Außerdem steht in diesen Dekreten Normalerweise der Satz „ungeachtet jeder gegenteiligen Anordnung“, was einige Kirchenrechtler als die Zurücknahme des früheren Gesetzes und dessen Ersatz durch das neue Gesetz ansehen, auch wenn es als allgemeines Gesetz rechtmäßige Gewohnheiten, sofern es welche gäbe, nicht aufheben würde.
Aber selbst wenn ein Bistum oder eine Pfarrei im Bereich der Liturgie eine den liturgischen Gesetzen widersprechende, rechtmäßige Gewohnheit entwickeln könnte, wäre es immer noch schwierig zu beweisen, dass diese Gemeinschaft, wie in Canon 25 gefordert, absichtlich ein Gesetz einführen wollte. Ebenso schwierig wäre es, in Übereinstimmung mit Canon 26 nachzuweisen, dass diese Praxis dauerhaft bestand.
So heißt es zum Beispiel in Canon 528 § 2 über die Pflichten des Pfarrers: „Der Pfarrer hat Sorge dafür zu tragen, dass die heiligste Eucharistie zum Mittelpunkt der pfarrlichen Gemeinschaft der Gläubigen wird; er hat sich darum zu bemühen, die Gläubigen durch eine ehrfürchtige Feier der Sakramente zu weiden, in besonderer Weise aber darum, dass sie häufig die Sakramente der heiligsten Eucharistie und der Buße empfangen; ebenso hat er darauf bedacht zu sein, dass sie auch in den Familien zur Verrichtung des Gebetes geführt werden sowie bewusst und tätig an der heiligen Liturgie teilnehmen, die der Pfarrer unter der Autorität des Diözesanbischofs in seiner Pfarrei leiten und überwachen muss, damit sich kein Missbrauch einschleicht.“
Es würde also genügen, dass ein einzelner Pfarrer seine Pflicht zur Abstellung von Missbräuchen erfüllt hat, damit die Gewohnheit nicht mehr dauerhaft Bestand hatte. Wenn die Gewohnheit später dann wieder eingeführt wurde, würde der Zeitraum von 30 Jahren von dem Zeitpunkt ab wieder von neuem anlaufen müssen.
Wie gesagt, keine Gewohnheit kann sich durchsetzen, wenn sie eigens verworfen wurde. So verwirft beispielsweise die Instruktion Redemptionis Sacramentum in aller Form folgende praktische Vorgehensweisen: Das Brechen der Hostie seitens des Priesters zum Zeitpunkt der Wandlung (Nr. 55); das Verändern der liturgischen Texte vonseiten der Priester und Diakone (Nr. 59); die Übernahme der Predigt seitens nichtgeweihter Gläubiger (Nr. 65); die Austeilung von nicht konsekrierten Hostien oder anderer essbarer oder nicht essbarer Dinge nach Art der Kommunion während oder vor der Messfeier (Nr. 96); das willkürliche Unterlassen der Feier der heiligen Messe für das Volk unter dem Vorwand, das „eucharistische Fasten“ zu fördern (Nr. 115); der Gebrauch gewöhnlicher oder häuslicher Gefäße für die Messfeier (Nr. 117); die Feier der heiligen Messe ohne sakrale Gewänder oder nur mit Stola über dem Ordensgewand oder der gewöhnlichen Kleidung (Nr. 126); die Beauftragung außerordentlicher Spender mit der Austeilung der heiligen Kommunion wenn geistliche Amtsträger anwesend sind, die diese Aufgabe übernehmen können (Nr. 157).
Das genannte Dokument erwähnt neben den genannten verworfenen Missbräuchen noch viele mehr und benutzt bisweilen einen anderen Wortlaut, wie zum Beispiel „Dringend zu korrigieren ist der mancherorts verbreitete Missbrauch…“ Es ist offensichtlich, dass der Gesetzgeber alle missbräuchlichen Praktiken, die im Text erwähnt werden, als unvernünftig einstuft (siehe oben Canon 24 § 2) und sie deswegen beseitigt wissen möchte. Nach der Veröffentlichung dieses Dokuments könnte man sich nur schwerlich zugunsten ihrer weiteren Praxis als rechtmäßige Gewohnheiten aussprechen.
Wenn es um außergesetzliche Gewohnheiten geht, ist es wahrscheinlich leichter, dass sich eine rechtmäßige Gewohnheit entwickelt. Mark Gantley, ein Priester und Kirchenrechtler, hat auf EWTN das folgende Beispiel genannt: „Man könnte behaupten, dass der Gebrauch einer ‚Einheitskerze‘ während einer Trauung aufgrund einer Gewohnheit, die außerhalb oder jenseits des Gesetzes liegt, eine rechtmäßige Praxis darstellt. Im Gesetz wird die Verwendung einer Einheitskerze weder vorgeschrieben noch verboten. Daher könnte die rechtmäßige Gewohnheit der Verwendung einer Einheitskerze die Voraussetzungen einer legalen Gewohnheit erfüllen, sofern sie die übrigen Anforderungen im Gesetz erfüllt.“
Im Fazit würde ich sagen, dass unser Leser sich im Allgemeinen überall dort, wo die liturgischen Texte klar sind, an die Grundordnung halten und seine Messdiener entsprechend anweisen sollte. Auf diese Weise hat man auch die besten Garantien für eine authentisch katholische Feier der Liturgie.
Wenn es regionale Traditionen und Gewohnheiten in Bereichen gibt, in denen die Grundordnung sich ausschweigt oder zu allgemein bleibt, könnte man sich der regionalen Tradition anschließen.
Ein Pfarrer besitzt keine gesetzgebende Autorität und kann daher die Grundordnung nicht authentisch oder offiziell auslegen. Das kann nur der Heilige Stuhl. Als Pfarrer kann und muss man aber oft auslegen, wie man die Grundordnung auf die spezifischen Gegebenheiten der Pfarrei und ihrer Gebäude anwenden sollte, doch ändern darf man dabei nichts Wesentliches.
Wie es im Dokument Redemptionis Sacramentum zum Abschluss heißt:
„186. Alle Christgläubigen sollen nach Möglichkeit voll, bewusst und aktiv an der heiligsten Eucharistie teilnehmen und sie aus ganzem Herzen in Frömmigkeit und Lebensführung verehren. Bei der Ausübung des heiligen Dienstes sollen sich die Bischöfe, die Priester und die Diakone im Gewissen über die Wahrhaftigkeit und die Treue der Handlungen befragen, die sie im Namen Christi und der Kirche in der Feier der heiligen Liturgie vollziehen. Jeder geistliche Amtsträger prüfe sich auch ernsthaft, ob er die Rechte der christgläubigen Laien beachtet hat, die sich selbst und ihre Kinder ihm mit Zuversicht anvertrauen in der Überzeugung, dass jene Aufgaben, welche die Kirche im Auftrag Christi in der Feier der heiligen Liturgie erfüllen möchte, von allen in rechter Weise für die Gläubigen erfüllt werden. Jeder soll immer daran denken, dass er Diener der heiligen Liturgie ist.“
(13. November 2015) © Innovative Media Inc.
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