Helmut Schmidt: Ich brauche das Vaterunser und die Zehn Gebote
Von Amelie Tautor
„Krisenlenker, Pragmatiker, Idol“ schrieb die „Zeit“ online über Altkanzler Helmut Schmidt, der im Alter von 96 Jahren in seiner Heimatstadt Hamburg gestorben ist. „Der Unsterbliche“ betitelte die „Süddeutsche Zeitung“ ihren Nachruf. „Er war eine Jahrhunderterscheinung“, verkündete die „Bild-Zeitung“, ein „Welterklärer“, als Kanzler ein „Macher“, später als „Zeit“-Herausgeber und Autor auch ein „Meinungsmacher“.
Schmidts Kanzlerschaft konnte nicht die politischen Großprojekte aufweisen, für die seine Vorgänger Konrad Adenauer oder Willy Brandt standen oder später mit der Wiedervereinigung auch Helmut Kohl. Aber er hat die Deutschen weitgehend unbeschadet durch eine Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche, ja Turbulenzen gelotst: die Ölpreiskrisen, Geldentwertung, Massenarbeitslosigkeit, der umstrittene NATO-Doppelbeschluss in Reaktion auf die atomare Aufrüstung der Sowjetunion, der „Deutsche Herbst“ des blutigen RAF-Terrors.
Als erster Kanzler einer Bundesrepublik, die den Kinderschuhen schon entwachsen war, sah sich der Sozialdemokrat mit einem Linksterrorismus konfrontiert, der bereit war, bis zum Äußersten zu gehen. Schmidt gab den Befehl, die von palästinensischen Terroristen entführte Lufthansa-Maschine zu stürmen, eine der „mutigsten Leistungen, die ein Kanzler zu verantworten hatte“, urteilte Jasper von Altenbockum in der FAZ. Diese Entscheidung führte dann zur Ermordung des von der RAF entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und gehörte damit „gleichzeitig zu den größten Demütigungen, die ein Kanzler der Bundesrepublik hinnehmen musste“.
„Ein einsamer Kanzler, dem auch der Krisenstab nicht helfen konnte“, bewertete die „Frankfurter Rundschau“ diese Zeit. Tief verwurzelt in der Verantwortungsethik nach Max Weber, trug er die Folgen seiner Entscheidungen, auch wenn die Schuld - wie im Fall Hanns Martin Schleyers - schwer auf ihm lastete. Trotzdem ist seine starke Haltung im Umgang mit den Terroristen an einem Scheidepunkt der Bundesrepublik wegweisend gewesen.
„Mit seinem so kühnen wie zuweilen kühlen Auftreten hat er sich Respekt verschafft. Doch das allein hat den Politiker nicht ausgemacht, denn so kann man vielleicht Wahlen gewinnen, nicht aber die Herzen der Deutschen“, meint Manfred Schäfers in der FAZ. Die Bürger haben ihn „als moralische Autorität akzeptiert. Sein entschlossener Widerstand, den Staat nicht von Terroristen erpressen zu lassen, nötigte Respekt ab.“ Von heutigen Politikern unterscheidet den Kanzler Schmidt sein Amts-Verständnis. Er war ein Macher und blieb seiner Linie treu, auch wenn ihm das Widerstand von der eigenen Partei, dem Koalitionspartner und schließlich der Mehrheit des Bundestags einbrachte.
Auch nach seiner Zeit als Bundeskanzler blieb Schmidt jemand, der sich einmischte. Noch im hohen Alter trieb ihn die Misswirtschaft bei den Landesbanken um, unmissverständlich prangerte er auch den „Raubtierkapitalismus“ an, der sich seit Ende der neunziger Jahre breitgemacht habe. „Wir sind noch nicht über den Berg“, sagte er 2009 auf dem Kirchentag in Bremen. Die Debatte über Griechenland und den Euro hat ihn bestätigt. Obwohl viele seiner Entscheidungen und manche Urteile, etwa über China, umstritten waren, stellte sich der Altkanzler der kritischen Öffentlichkeit.
Helmut Schmidt äußerte sich positiv und kritisch über das Christentum und die Kirchen. Allerdings hatte er ein distanziertes, zwiespältiges persönliches Verhältnis zum Glauben, immer nachdenklich, manchmal auch bekennend. Im CHRIST IN DER GEGENWART-Buch „Christsein 2001“ schrieb Schmidt, er habe oft gedacht: „Mein Gott, lass mich das Richtige tun“. Und doch gewusst, dass er nur in Anstrengung des eigenen Verstandes und Gewissens handeln durfte. Weil sie „Gegengewichte setzt gegen den moralischen Zerfall unserer Gesellschaft“, blieb er in seiner Kirche, auch wenn sie ihn bisweilen enttäuschte. „Wir alle müssen Beispiele geben, und die Kirche muss uns dazu ermutigen.“ Seine Frau habe „sich mitten in der Nazi-Zeit“ taufen lassen. „Ich brauche das Vaterunser, und ich brauche die Zehn Gebote, und ich brauche die Kirchenmusik und den Choral (übrigens habe ich nichts dagegen, wenn der Choral oder wenn die Kirchenmusiken in der uns unverständlichen lateinischen Sprache erklingen, dann kann mich nämlich der Zweifel am Text nicht ablenken von der Versenkung). Und ebenso brauche ich einen guten Pastor, weil ich auch in Zukunft wieder in die Lage kommen kann, wie bisweilen früher schon, seinen seelsorgerischen Beistand nötig zu haben. Was wir heute von der Volkskirche erwarten, das ist Seelsorge und Trost, Barmherzigkeit auch, gegenüber dem Schwachen, gegenüber dem Armen, Solidarität mit unserem kranken Nachbarn, die Lehre der Toleranz gegenüber anderen und die Lehre vom Respekt gegenüber der persönlichen Würde jeder anderen und jedes anderen. Was wir nicht brauchen, ist kluge Dogmatik, wir brauchen auch keine tagespolitische Theologie, wir brauchen keine selbstgerechte Besserwisserei, sondern wir brauchen das ganz schlichte Gebet zu Gott, das Vaterunser und die Hoffnung auf sein dereinstiges Reich und seine Kraft und seine Herrlichkeit.“
46/2015
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