Die Genfer Konvention muss reformiert werden VON RUDOLF ADAM23. DEZEMBER 2015 picture alliance
Der frühere Flughafen Berlin-Tempelhof dient 2000 Flüchtlingen als Notunterkunft
Die meisten anerkannten Flüchtlinge in Deutschland erhalten ihren Status aufgrund der Genfer Konvention. Doch es ist fraglich, wie weit sich diese Schutzpflicht auf die Gegenwartsprobleme übertragen lässt. Von Ex-BND-Vize Rudolf Adam
14 Kommentare Seite 1 von 2 Die Flüchtlingsdebatte spaltet Deutschland: Willkommenskultur wird als naive Träumerei von Gutmenschen abgetan, wer auf Probleme eines unkontrollierten Zuzugs hinweist, gilt als xenophober Neonazi. Einige sehen eine Sehnsucht nach gesellschaftlicher Vielfalt, andere deutsche Identität bedroht . Die einen erhoffen sich von Flüchtlingen die Verjüngung einer gerontisch-sklerotischen Gesellschaft, die anderen befürchten den Untergangs des Abendlandes. Holzschnittartige Floskeln, emphatische Bekenntnisse oder demonstrative Emotionen erschweren einen sachlichen Diskurs.
Großbritannien und Frankreich haben längere Erfahrung mit Zuwanderern aus nicht-europäischen Kulturkreisen. In Bradford, Rochdale oder den Banlieues von Paris zeigen sich neben erfolgreicher Integration gewaltige Problembereiche. Türkische Namen verbinden sich in Deutschland mit beeindruckenden Leistungsträgern, aber auch mit auffällig-aggressivem Verhalten von Jugendlichen. Serdar Somuncu repräsentiert das Erste und kann authentisch das Zweite nachahmen. Der jetzige Zustrom wird beides hervorbringen: Erfolgsgeschichten und Problemfälle.
Die Flüchtlingsdebatte dreht sich zu sehr ums Geld
Es gibt eine Anfälligkeit für religiöse Radikalisierung unter einigen Jugendlichen der zweiten und dritten Einwanderergeneration. Die Wahrscheinlichkeit, dass unter einer Million Zuwanderern nach zwei Generationen eine beträchtliche Zahl von radikalen, gegen Fundamentalismus anfälligen Jugendlichen sein wird, ist nicht geringer als die, dass darunter erfolgreiche Ärzte, Ingenieure oder Politiker sein werden.
Zu sehr dreht sich die Flüchtlingsdebatte um Geld: Kosten diese Neuankömmlinge uns etwas oder bringen sie schließlich Geld? Das Bundesverfassungsgericht leitet ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ aus Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes GG in Verbindung mit Artikel 20, Absatz 1 ab (Entscheidung vom 18. Juli 2012).
Nach seiner Auslegung handelt es sich um ein unverfügbares Grundrecht, das durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden muss; als universales Menschenrecht steht dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Damit sind sehr konkrete unbestreitbare Ansprüche auf staatliche Leistungen gegeben; wie weit ihnen später Beiträge an die öffentlichen Kassen gegenüberstehen, lässt sich bestenfalls grob abschätzen und hängt von den Qualifikationen und der Motivation der Zuwanderer, aber ebenso stark von ihrer Bleibeperspektive ab: Solange der Flüchtlingsstatus ungeklärt bleibt und die Neuankömmlinge vom Arbeitsmarkt ferngehalten und staatlich versorgt werden, wird eine passive Empfängerhaltung gefördert.
Nur wenige vertrauen dem Rechtsstaat
Dass hier Menschen aus anderen Kulturkreisen mit fremden Mentalitäten und Sozialisierungen kommen, wird mit der Forderung quittiert, das Grundgesetz (und wohl auch das Strafgesetz) stünde nicht zur Disposition. Gesellschaftliche Normen werden durch langjährige Sozialisierung in Familie, Schule und praktisches Erpoben im Jugendalter verinnerlicht. Sie werden nicht befolgt, weil sie in Gesetzen stehen, sondern sie stehen in Gesetzen, weil sie als verbindlich und gerecht empfunden werden. Grundrechte müssen in der Unmündigkeit eingeübt werden, bevor sie mündig ausgeübt werden. Diese Sozialisierung findet in den ersten 15 bis 20 Lebensjahren statt. Nahezu alle Flüchtlinge sind älter. Wer Polizisten als willkürlich, Richter als bestechlich erlebt hat, wird schwer Vertrauen zum Rechtsstaat fassen. Wer Solidarität primär in der Familie, im Clan oder in vorgegebenen Klientel- und Patronage-Netzwerken erlebt hat, wird im Konfliktfall eher auf Familienbande als auf den Schutz der Gesetze setzen. Wem als Kind eingeprägt worden ist, dass Gott unmittelbar Lebensregeln offenbart hat, der wird sich mit Toleranz schwer tun. Wir sollten nicht vergessen, welche Kämpfe und wie lange es unsere eigene Gesellschaft gekostet hat, liberal, skeptisch und tolerant zu werden. Wir können den Wandel, der sich bei uns in vielen Generationen vollzogen hat, nicht von Zuzüglern in wenigen Wochen einfordern.
Wenn Deutschland tatsächlich Zuwanderung braucht, dann sollte Deutschland diesen Prozess nach dem normalen Aufenthaltsgesetz steuern – so, wie dies alle klassischen Einwanderungsstaaten tun. Dann sollten wir nicht die Sonderregelungen für Flüchtlinge zugrunde legen und vorgeben, eine ungesteuerte Flut sei die gezielte Bewässerung, die wir schon lange ersehnt haben.
Jeder Vergleich mit den 12 Millionen Flüchtlingen, die die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 aufgenommen hat, geht am Kern der Sache vorbei: Damals kamen Menschen, die noch wenige Monate zuvor im selben Staat gelebt hatten. Flüchtlinge aus der DDR waren Angehörige desselben Volkes. Ebenso schief ist der Vergleich mit Flüchtlingszahlen in der Türkei oder Jordanien: Dort leben Flüchtlinge eben nicht in Aufnahmezentren, erleben keine Willkommenskultur und Integrationsangebote, sondern leben in Notunterkünften: strikt abgetrennten Zeltstädten ohne Perspektiven, ohne Arbeits- oder Fortbildungsmöglichkeiten.
Der größte Skandal ist die Unterfinanzierung der UN-Programme
Der größte Skandal der gegenwärtigen Flüchtlingskrise liegt darin, dass Westeuropa von Flüchtlingen überrannt wird, während UNHCR und World Food Programm in den Flüchtlingscamps wegen Mittelknappheit nicht einmal eine Mindestversorgung in der Region leisten können. Für 2016 benötigt UNHCR 7 Milliarden US-Dollar; dieses Geld sollte unverzüglich bereitgestellt werden, notfalls allein von Deutschland, denn alternativ hierzu werden deutlich höhere finanzielle und politische Kosten in Deutschland selbst anfallen.
Niemand kennt die genaue Zahl der Flüchtlinge, die seit Jahresbeginn nach Deutschland gekommen sind. Was wir dringend benötigen, sind nicht nur Statistiken über Zahlen und Herkunftsländer; wir brauchen konkrete Angaben zu Motiven und Erwartungen, beruflichen Qualifikationen und Sprachkenntnissen unter den Flüchtlingen. Was erwarten sie von Deutschland, kommen sie direkt aus einem Kriegsgebiet, aus UNHCR-Lagern oder aus Drittländern? Wie groß ist das Potenzial von Flüchtlingen, mit denen wir noch rechnen müssen? Wir brauchen ein nüchternes, detailliertes Lagebild mit zuverlässigen Abschätzungen über künftige Fluchtbewegungen. Nur so können wir aus passiver Reaktion zu einer vorausschauenden, pro-aktiven Politik finden.
Bislang gibt es hauptsächlich zufällige Bilder und sporadische Interviews; oft sind diese darauf angelegt, Emotionen zu erzeugen. Das Bild einer angespülten kindlichen Leiche hat mehr politische Energie mobilisiert als alle übrigen Flüchtlingsbilder zusammen. Wo bleiben verlässliche Analysen über künftiges Migrationspotenzial, repräsentative Fallstudien über Motive, Wege, Schleusernetze und Tarife? Eine Aufklärung der Kommunikation der Flüchtlinge mit ihren Herkunftsländern würde ein Bild mit hoher Tiefenschärfe liefern. Weshalb verfügen wir hier nicht einmal über elementare belastbare Fakten?
Die Hauptaufgabe liegt darin, den Flüchtlingszuzug langfristig steuerbar und kontrollierbar zu machen. Wir brauchen eine Politik, die nachhaltig ist und die wir langfristig durchhalten können. http://www.cicero.de/weltbuehne/Syrien-R...efolterte/60257
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