Schreibens „Amoris Laetitia“ ist das sogenannte „progressistische Lager“ dabei, einen wahren Durchmarsch zu vollziehen.
Mathias von Gersdorff
Die drei wichtigsten Fronten sind:
a.) Bezüglich der Frage der Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion wird das päpstliche Schreiben so interpretiert, dass Ausnahmen des generellen Verbots gestattet wurden. Eine solche Interpretation von Amoris Laetitia hätte schwerwiegende Konsequenzen für die Christologie, für die Gnadenlehre, für die Moraltheologie, die Sakramentenlehre und für das lehramtliche Verständnis von Ehe. Aus diesem Grund war in den vergangenen Jahren die Diskussion über diese Frage so intensiv.
b.) Die starke Betonung der Notwendigkeit der „Unterscheidung“ in der Pastoral wird vom Progressismus zum Anlass genommen, eine Moraltheologie in die Praxis zu setzen, die in großen Zügen eine situationsbedingte Moraltheologie beinhaltet oder ihr zumindest sehr stark ähnelt. Ein solcher Schritt wäre wahrhaftig revolutionär; denn es wäre die Abkehr von einer Moral, die vom Naturgesetz und den göttlichen Geboten ausgeht, hin zu einer subjektivistischen Situationsethik.
c.) Parallel dazu wird eine weitgehende Dezentralisierung der römisch-katholischen Kirche angestrebt, auch in der Beurteilung von moraltheologisch relevanten Fragen, wie eben in den Fällen der wiederverheirateten Geschiedenen. In diesen sollen die Seelsorger im Beichtstuhl den Sachverhalt prüfen und sich dabei an den Richtlinien der Ortsbischöfe orientieren. Es gibt keinen vernünftigen Grund, wieso mit der Zeit diese Regelung nicht auf weitere moraltheologisch problematische Fälle ausgeweitet werden soll.
Für diesen Durchmarsch setzt der Progressismus seine schwersten Geschütze ein, wie etwa die Kardinäle Schönborn und Marx oder die weltweit anerkannte Jesuitenzeitschrift „Civiltà Cattolica“ und viele andere. Dass praktisch alle progressistischen Theologen dabei sind, diesen Durchmarsch voranzutreiben, muss kaum extra erwähnt werden.
Die Gläubigen reiben sich ungläubig die Augen, wenn sie sehen, wie dieses wahre Sperrfeuer auf das überlieferte Lehramt vom konservativen Lager nur ungenügend abgewehrt wird. Auf die Argumente der Progressisten wird kaum eingegangen. Stattdessen bemüht man sich zu zeigen, dass Amoris Laetitia keinen lehramtlichen Anspruch erhebt oder dass das Schreiben im Lichte des Lehramtes gelesen werden soll. In einigen Stellungnahmen flüchtet man geradezu in kirchenrechtliche Paragraphen oder Klarstellungen von Konzilien, um sich nicht inhaltlich mit dem neuen Apostolischen Schreiben auseinandersetzen zu müssen.
So löblich diese Stellungnahmen auch sein mögen: Gegenüber der oben beschriebenen weltweiten Kampagne gegen das traditionelle Lehramt sind sie ungenügend.
Wir haben es mit einer wahren theologischen Schlacht zu tun, die eine echte Verwüstung zu hinterlassen droht. Die Gläubigen sehnen sich nach Hirten, die diese historische Stunde erkennen und angemessen reagieren.
Zum besseren Verständnis des päpstlichen Schreibens ist ein kurzer Ausflug in die Gleichgewichtstheorie geboten:
In den 1980er Jahren war die Gleichgewichtstheorie noch eines der Modefächer im Studium der mathematischen Wirtschaftstheorie. Einer der wichtigsten Exponenten dieser Fachrichtung ist der Franzose Gérard Debreu (1921 – 2004), der im Jahre 1983 den Nobelpreis für Ökonomie erhielt. Sein bekanntestes Buch heißt „The theory of value: an axiomatic analysis of economic equilibrium“, ein Buch, das ich jedem empfehle. Herausragendster Deutscher auf diesem Gebiet war über viele Jahre Professor Werner Hildenbrand, man kann sagen ein Jünger von Debreu. Ich wiederum hatte das Glück und die Ehre, bei Professor Hildenbrand studieren zu dürfen.
Kurz zusammengefasst geht es in der Gleichgewichtstheorie um die Frage: Existiert [mindestens] ein ökonomisches Gleichgewicht? Ein ökonomisches Gleichgewicht ist der Zustand, in dem es ein Preissystem gibt, bei welchem die Nachfragemenge gleich der Angebotsmenge ist. Die Gleichgewichtstheorie geht der Frage nach, ob es [mindestens] einen solchen Punkt gibt. In einer Tauschökonomie ist dies der Fall, wenn (grob vereinfacht) die Nachfrage- und die Angebotsmengen konvex sind. Dann gibt es laut dem Fixpunktsatz von Kakutani mindestens ein Preissystem, bei welchem sich die Nachfragemenge mit der Angebotsmenge schneidet.
Die Diskussion über die Konsequenzen von Amoris Laetitia für die Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen ähnelt der Suche nach den Bedingungen für die Existenz eines ökonomischen Gleichgewichts:
Was sind die Bedingungen, damit es solche Einzelfälle, wie sie im Apostolischen Schreiben unter Berücksichtigung der Fußnoten 336 und 351 vorgesehen sind, existieren? Gibt es überhaupt solche Bedingungen?
Hinsichtlich Amoris Laetitia und der Zulassung der wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion hat sich rasch ein Zweiparteiensystem gebildet.
Partei A sagt: Amoris Laetitia hat nicht die Absicht, neue lehramtliche Inhalte zu definieren. Zudem müsse das Apostolische Schreiben im Kontext der traditionellen Lehre gelesen werden (Kardinäle Burke und Cordes). Diese schließt die wiederverheirateten Geschiedenen kategorisch aus, weil Ehebruch eine schwere Sünde ist. Wer sich einer solchen Sünde bewusst ist, darf nicht die Kommunion empfangen, ansonsten begeht er ein Sakrileg. Die Schlussfolgerung: Auch wenn in den oben genannten Fußnoten in der Tat eine Zulassung von Einzelfällen in Perspektive gestellt wird, so kann es diese Fälle in der realen Welt nicht geben.
Partei B sagt: Amoris Laetitia will DOCH die Lehre fortentwickeln (Kardinal Schönborn bei der Präsentation am 8. April in Rom). Fortentwickeln ist ein weicheres Wort für “ändern”. In dieser Lesart existieren Fälle von Personen, die objektiv gesehen einen Ehebruch, also eine schwere Sünde, begangen haben, jedoch subjektiv, also aus ihrer persönlichen Warte heraus, keine schwere Sünde begangen haben. Wie solche Fälle aussehen könnten, lässt Amoris Laetitia offen. Es ist nun Sache der Seelsorger im Beichtstuhl festzustellen, ob es solche Fälle gibt.
Die praktische Durchführung ist alles andere als einfach: Falls die Anhänger der Partei B die traditionelle Lehre ernst nehmen, müssten sie eine Disziplin anwenden, die heutzutage wohl kaum jemand akzeptieren wird. Der Druck, der deshalb auf die Pfarrer ausgeübt werden wird, die Anweisungen lax anzuwenden (wenn überhaupt), dürfte enorm sein.
Ein wichtiger Teil der deutschen Bischöfe sind Anhänger der Partei B.
Man weiß, dass hierzulande die Sakramentendisziplin ohnehin katastrophal ist: Wer die Kommunion empfangen will, bekommt sie in der Regel auch. Die Fälle, die abgewiesen werden, sind sehr rar, und meistens geht es um Leute, die sichtbar keine Kommunion empfangen dürfen, weil sie stockbetrunken sind oder Ähnliches.
Die Gefahr ist also groß (vorsichtig ausgedrückt), dass diese Partei B Amoris Laetitia schlichtweg missbraucht, um einer schon gängigen Praxis eine pseudo-lehramtliche Rechtfertigung zu geben.
Amoris Laetitia, die „wiederverheirateten Geschiedenen“ und die Laien Ob und unter welchen Bedingungen wiederverheiratete Geschiedene die Kommunion empfangen dürfen, war die am meisten diskutierte Frage im Vorfeld der Synoden in den Jahren 2014 und 2015. Mit Spannung erwartete die interessierte Öffentlichkeit, was das nachsynodale Dokument des Papstes dazu schreiben würde.
Dieses wurde am 8. April 2016 veröffentlicht und trägt die Überschrift „Amoris Laetitia“. Es handelt sich um ein Apostolisches Schreiben, also ein Dokument mit lehramtlichem Charakter (wenngleich ohne Anspruch der Unfehlbarkeit, da nicht dogmatisch).
Die wiederverheirateten Geschiedenen werden ausführlich im Kapitel 8 des Apostolischen Schreibens behandelt. Für die Frage der Kommunion sind die Paragraphen 300 bis 306 entscheidend. Dort heißt es: „Und da »der Grad der Verantwortung […] nicht in allen Fällen gleich [ist]« 335, müsste diese Unterscheidung anerkennen, dass die Konsequenzen oder Wirkungen einer Norm nicht notwendig immer dieselben sein müssen.“
Dieser Satz aus § 300 wird in der Fußnote 336 erläutert: „Auch nicht auf dem Gebiet der Sakramentenordnung, da die Unterscheidung erkennen kann, dass in einer besonderen Situation keine schwere Schuld vorliegt.“
In § 305 heißt es: „Aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde – die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist – in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt.“
Diese Passage wird in der Fußnote 351 erläutert (die Quellenangaben wurden hier weggelassen, um die Lektüre zu erleichtern): „Deshalb » erinnere ich [die Priester] daran, dass der Beichtstuhl keine Folterkammer sein darf, sondern ein Ort der Barmherzigkeit des Herrn «. Gleichermaßen betone ich, dass die Eucharistie »nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen« ist.“
Aus diesen Passagen lässt sich herauslesen, dass es Fälle von „wiederverheirateten Geschiedenen“ gibt, die die Kommunion empfangen dürfen.
So hat das auch die Deutsche Bischofskonferenz in ihrer Stellungnahme gedeutet: „Nur im Blick auf die jeweilige Lebensgeschichte und Realität lässt sich gemeinsam mit den betroffenen Personen klären, ob und wie in ihrer Situation Schuld vorliegt, die einem Empfang der Eucharistie entgegensteht. Dabei ist die Frage einer Zulassung zu den Sakramenten der Versöhnung und der Kommunion immer im Kontext der Biographie eines Menschen und seiner Bemühungen um ein christliches Leben zu beantworten. Auf beide zuletzt genannten Aspekte weist der Papst explizit hin (vgl. Fußnoten 336 und 351).“
Dass es nun Ausnahmen bei „wiederverheirateten Geschiedenen“ geben soll, wurde von Kardinal Walter Brandmüller kritisiert:
„Was aus Glaubensgründen grundsätzlich unmöglich ist, ist es auch im Einzelfall“, so Kardinal Brandmüller laut Kathpress, der österreichischen katholischen Presseagentur.
Die meisten Kommentatoren fügten sich dieser Lesart des Dokuments, vor allem diejenigen aus dem sog. progressistischen Lager. Sie waren zwar nicht darüber begeistert, dass es nun keine allgemeine Zulassung zur Kommunion gibt, doch immerhin gab es Bewegung, eine Tür hätte sich einen Spalt weit geöffnet.
Doch manche Theologen aus dem progressistischen Lager zeigten Begeisterung, wie etwa Stephan Goertz, Professor für Moraltheologie an der Universität Mainz. Er lobte, dass das „Schreiben weitgehend auf eine naturrechtliche Argumentation verzichte“, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. April 2016.
In der Tat betont das Dokument, man müsse „unterscheiden“ und auf die konkreten Lebensumstände achten. Die Empfehlung an die Seelsorger: „Daher darf ein Hirte sich nicht damit zufrieden geben, gegenüber denen, die in „irregulären“ Situationen leben, nur moralische Gesetze anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft.“
Im sog. „konservativen Lager“ gab es Versuche, das Dokument so zu deuten, als ob sich nichts verändert hätte, inklusive der Frage der Kommunion für die wiederverheirateten Geschieden. Diese Lesart ließe sich möglicherweise so begründen: Rein hypothetisch besteht die Möglichkeit, dass jemand Ehebruch begeht (also eine schwere Sünde, die vom Empfang der Kommunion ausschließt), doch subjektiv befindet sich die Person trotzdem im Stand der heiligmachenden Gnade.
Man muss aber sehr stark die Kasuistik bemühen, um einen solchen Fall zu finden, zumal „Amoris Laetita“ ausdrücklich vorschreibt, die Fälle müssten mit den Seelsorgern im Beichtstuhl besprochen werden.
Wenn man nun behauptet, die Lehre hätte sich nicht geändert und die wiederverheirateten Geschiedenen seien nicht zur Kommunion zugelassen, so behauptet man im Grunde, die entsprechenden Vorgaben von „Amoris Laetitia“ sind tote Normen oder Nullaussagen und Kardinal Brandmüller hätte gegen Bestimmungen protestiert, die es in der Realität [praktisch] nicht gibt.
Was soll der normale Laie vom Ganzen nun halten, wenn er an der traditionellen Lehre festhalten will, nach welcher der Empfang der Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene ausgeschlossen ist?
Der normale Laie bleibt ratlos und perplex gegenüber einer Kakophonie von widersprüchlichen Stellungnahmen. Man kann auch nicht verlangen, dass er sich selber eine Meinung bildet; denn es ist Aufgabe der lehrenden Kirche, eine klare Orientierung zu geben. Es ist Aufgabe der Kardinäle und Bischöfe, nun zu erklären, welche Konsequenzen – auch ekklesiologische – „Amoris Laetitia“ nach sich zieht. (Quelle: http://mathias-von-gersdorff.blogspot.de/)
*) Mathias von Gersdorff ist freier Publizist und Betreiber des blogs „Kultur und Medien“ und http://mathias-von-gersdorff.blogspot.de/
www.conservo.wordpress.com
18. April 2016
* https://www.domradio.de/themen/seelsorge...frauenpredigten [/b]
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