Mitten in Deutschland: Wie Frauen und Mädchen vor der Zwangsehe fliehen
Sonntag, 05.03.2017, 07:45 Sommer 2015 in München: Die Sonne scheint, als sich Fatmah auf den Weg in die Schule macht. Mit dabei hat sie ihren kleinen Stoff-Teddybären und ein Fotoalbum. Bücher oder ein Federmäppchen hat Fatmah an jenem Montagmorgen nicht in ihren Rucksack gepackt.
Denn die 15-Jährige geht dieses Mal nicht zum Lernen in die Realschule im Herzen der bayerischen Hauptstadt. Fatmah wird von dort aus fliehen – vor ihrer eigenen Familie.
Rund 3400 Menschen sind von Zwangsehen betroffen
Sozialpädagogin Anastasia Baumtrog sitzt an ihrem Schreibtisch in der Goethestraße, als sie Fatmahs Geschichte erzählt. Seit drei Jahren arbeitet die 29-Jährige mit der braunen Kurzhaarfrisur und den eisblauen Augen für die Münchner Hilfsorganisation „IMMA e.V.“. Mit seiner Einrichtung „Wüstenrose – Fachstelle Zwangsheirat/FGM“ unterstützt der Verein Frauen und Mädchen seit 2013 bei ihrer Flucht vor Zwangsehen.
VUDEO http://www.focus.de/politik/videos/hilfs...id_6271747.html
Rund 3400 Menschen sind laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums von der unfreiwilligen Verheiratung deutschlandweit betroffen. So auch Fatmah, die Baumtrog einst betreut hat.
Doch die Dunkelziffer der Zwangsehen liegt vermutlich deutlich höher: Nur in den seltensten Fällen suchen die Opfer Beratungsstellen auf – oder bringen die Tat zur Anzeige. Und das, obwohl schon der Versuch der Zwangsverheiratung seit 2011 unter Strafe steht. Bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug kann den Eltern drohen, die ihre Tochter und Söhne zur Ehe nötigen.
„In München ist die Zahl der von uns betreuten Fälle zwischen 2013 und 2015 von 95 auf 187 pro Jahr gestiegen“, erzählt Baumtrog, während sie an ihrer bunt geblümten Kaffeetasse nippt. Die fügt sich in das farbenfrohe Büro des Vereins ein: Pinker Teppich im Eingang, rosa Cremedöschen auf dem Gäste-WC.
Doch so fröhlich wie die „IMMA“-Beratungsstelle gestaltet ist, so tragisch sind die persönlichen Geschichten, die Frauen und Mädchen hier den insgesamt sechs Pädagoginnen tagtäglich schildern. Die Opfer sind laut Baumtrog im Durchschnitt zwischen 18 und 25 Jahre alt und stammen mehrheitlich aus Afghanistan, der Türkei und dem Irak. Alle Betreuten hatten bislang einen Migrationshintergrund.
Bei Mehmets Prügelattacken sahen Fatmahs Eltern einfach nur zu Das gilt auch für Fatmah. Das Mädchen aus Afghanistan ist Anfang 2015 einer Sozialarbeiterin an ihrer Schule aufgefallen: Mit gesenktem Blick soll die sonst so aufgeweckte Schülerin plötzlich durch den Schulflur geschlurft sein. Gegrinst hat die 15-Jährige kaum noch. Vielmehr fing Fatmah an, ihr Gesicht hinter ihren langen schwarzen Haaren zu verstecken – bis sie mit Hilfe der Sozialarbeiterin in die Obhut der „Wüstenrose“ kam.
Dort offenbarte das Mädchen Baumtrog den Grund für ihr verändertes Verhalten: Fatmahs älterer Bruder kontrollierte jeden ihrer Schritte. Regelmäßig hat Mehmet nach ihr im Klassenzimmer gesehen und sie anschließend zu Hause an den Haaren durch den Flur geschleift - wenn sie mal wieder ein schulterfreies Top trug. Die Eltern duldeten die Prügelattacken. „Du bringst Schande über unsere Familie“, soll der Vater seine Tochter wiederholt angebrüllt haben. „Auch psychische Gewalt war für Fatmah an der Tagesordnung. Sie fürchtete eine Zwangsheirat, da sie in ihrer Verwandtschaft üblich war“, erinnert sich die Münchner Sozialpädagogin mit belegter Stimme.
Wenn sich Familien für ihre Frauen ändern
Bei dem Gedanken an eine andere Klientin fangen Baumtrogs Augen plötzlich an zu funkeln. Die Türkin Azra begleitet die Sozialpädagogin seit mehreren Monaten. „Azras Fall ist ein Beispiel dafür, dass sich die Verwandten nach der Flucht positiv verändern können“, erzählt Baumtrog. So brachte Azras Ausstieg die Familie in Bedrängnis: Freunde und Bekannte wollten wissen, warum die damals 21-Jährige plötzlich verschwunden war.
„Meine Tochter ist im Urlaub“, soll der bärtige Vater dann immer mit hochrotem Kopf geantwortet haben. Azras Mutter hingegen setzte die Flucht ihrer Tochter psychisch so sehr zu, dass die junge Türkin zurückkehrte. Zu groß waren ihre Schuldgefühle. Doch anstatt Azra wie angedroht in eine Zwangsehe mit einem Deutsch-Türken zu schubsen, empfingen die Eltern sie mit offenen Armen. „Endlich durfte sie mit Freundinnen ausgehen und Informatik studieren“, berichtet Baumtrog. Sie sieht Azra noch sporadisch. Der Kontakt zu einer Klientin kann Jahre andauern oder sofort enden. Das entscheidet die Betroffene selbst.
Im Video: Wegen Zwangsehen: Immer mehr Frauen in Deutschland wollen vor ihren Familien fliehen
Wegen Zwangsehen: Immer mehr Frauen in Deutschland wollen vor ihren Familien fliehen
FOCUS Online/Wochit Wegen Zwangsehen: Immer mehr Frauen in Deutschland wollen vor ihren Familien fliehen Fatmah auf der Flucht
Auch Fatmah hat die Flucht gewagt: Im Juli 2015 fing die 15-Jährige an, jeden Tag einen persönlichen Gegenstand in die Schule zu bugsieren. Heimlich unter den Büchern im Schulranzen transportiert. Fünf Wochen später, als sie alle ihre Schulnoten hatte, füllte sie ein letztes Mal zu Hause ihren Rucksack: Mit einem Stoff-Teddybären und dem Familienalbum.
„In der Schule angekommen brachte sie die Sozialarbeiterin dann samt ihrer Habseligkeit zur ‚Wüstenrose‘“, schildert Baumtrog. Ihre blauen Augen ziehen sich währenddessen zu schmalen Strichen zusammen. Sie lächelt. „Ich habe dem Mädchen eine Zufluchtstelle in Norddeutschland gesucht und die ganze Bürokratie mit dem Jugendamt geklärt“, so die Beraterin weiter. Fatmah sei nun in einer Jugendhilfe – umsorgt und zufrieden. Sie möchte Abitur machen, aber anders als Azra nicht mehr zu ihrer Familie zurück.
Die Zwangsehe jenseits kultureller Tradition
Im Gegensatz zur arrangierten Ehe hat die Zwangsehe keine kulturelle Tradition. Vor allem in patriarchal geprägten Ländern ist es Brauch, dass der enge Familienkreis für eine junge Frau den geeigneten Ehemann sucht. Der feine definitorische Unterschied: Bei einer arrangierten Hochzeit sind Braut und Bräutigam mit der Eheschließung einverstanden. Praktisch birgt das aber ein Problem: Frauen, die in einem strengen Patriarchat aufwachsen, können oder dürfen oft nicht Nein sagen. Daher kann aus einer arrangierten Hochzeit schnell eine Zwangshochzeit werden.
„Mit Religion hat das nichts zu tun. In keiner heiligen Schrift ist diese Form der Nötigung festgehalten“ – ein Irrtum, mit dem Baumtrog aufräumen möchte.
Die Motive für arrangierte Ehen und damit auch für Zwangshochzeiten sind unterschiedlich: Mal ist es eine Rückbesinnung auf die Kultur des Herkunftslandes, in anderen Fällen geht es um materielle Interessen, denn das Brautgeld ist oft üppig.
Manchmal geht es auch darum, durch die Heirat mit einer deutschen Staatsbürgerin einen Aufenthaltsstatus zu bekommen. „Mädchen und junge Frauen werde nicht nur während des Sommerurlaubs im Heimatland verheiratet. Zwangsheirat findet mitten in Deutschland, mitten in München statt. Nicht immer kann ein Standesbeamter unterscheiden, ob eine Braut vor Freude oder Verzweiflung weint“, sagt Baumtrog. Ihre Stirn legt sich in Falten. IMMA e.V. - Initiative für Münchner Mädchen
Der Zweck des Vereins ist die Verbesserung der Situation von Mädchen und jungen Frauen und die Förderung der Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen. Übergeordnetes Ziel ist es, Mädchen und junge Frauen in verschiedenen Problemlagen so zu unterstützen, dass sie selbstbestimmt und gleichberechtigt ihren Platz in allen öffentlichen und privaten Lebensbereichen einnehmen können. Ihnen gefällt der Verein und Sie wollen für ihn spenden?
Begünstigter: IMMA e.V. Kreditinstitut: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE207 00205 00000 7803801 BIC: BFSWDE33MUE
„Es kommt häufig vor, dass Frauen in letzter Sekunde einen Rückzieher machen“ Die Sozialpädagogin hat bei ihrer Arbeit auch schon Rückschläge hinnehmen müssen. „Es kommt häufig vor, dass die Frauen und Mädchen in letzter Sekunde einen Rückzieher machen – weil sie Angst davor haben, alleine zu sein. Oft müssen sich die Betroffenen, um ein eigenes Leben zu leben, von allen Freunden, Verwandten und Bekannten trennen oder gar ihre Identitäten ändern.“
Andere ziehen die Reißleine zwar, hadern danach aber mit ihrer Entscheidung. So wie Enita. Nachdem die gebürtige Kosovarin 2014 in ein Münchner Frauenhaus vermittelt wurde, quälten sie Selbstmordgedanken. Psychologische Unterstützung lehnte die damals 21-Jährige allerdings ab. „Ich bin doch nicht krank!“, blockte die junge Frau immer wieder Baumtrogs Hilfe ab. Daraufhin wechselte Enita in die Wohnungslosenhilfe. Den Kontakt zur „Wüstenrose“ brach sie ab – die Kosovarin ist laut der Münchner Pädagogin „einfach im System verschwunden“.
Trotzdem lässt sich Baumtrog nicht kleinkriegen: „Was mich immer wieder aufs Neue antreibt, sind die Frauen. Einige von ihnen sind die stärksten Persönlichkeiten, denen ich je begegnet bin. Sie brechen ohne soziales Netz, das sie auffangen könnte, aus – dazu gehört unfassbar viel Mut und eben auch das Risiko des Rückschlags.“ Außerdem helfen ihr interne Teambesprechungen und Supervisionen, mit dem Erlebten umzugehen. „Auch wir Berater brauchen eben mal Beistand“, erklärt Baumtrog, während sie sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. http://www.focus.de/politik/deutschland/...id_6736085.html Im Video: Rechtsstaat müsse entschlossener sein: FDP-Vize Kubicki kritisiert Zwangsehen von Minderjährigen
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