Wahrheit und Richtigkeit Höhlengleichnis - die moderne Höhle
Kontrast zu Platons Höhlengleichnis - die moderne Höhle Von Endre A. Bárdossy*
Ratifica o rectifica – Bestätige oder berichtige, lautet im Spanischen eine kurze Aufforderung in Befehlsform, wenn man jemanden zwischen die Wand und einem Säbel gestellt hat und ein Bekenntnis erzwingen will. Platons weltberühmtes und weltbewegendes Höhlengleichnis stellt ein dermaßen dramatisches Kreuzverhör dar, daß es vom Leser, wenn wir uns in die Rollen der beiden Protagonisten versetzen, eine klare Unterscheidung und eine deutliche Entscheidung fordert. Die Übertragung entnehmen wir Friedrich Schleiermachers 1) bis heute maßgebender Arbeit aus dem Siebenten Buch der „Politeia“ (514a – 517c). Die Unterredung ist Teil eines längeren Streitgesprächs des Sokrates mit Glaukon.
Das Höhlengleichnis ist nicht nur eine dramatische Perle der Weltliteratur, sondern auch für unsere Zeit wie auf den Leib geschnitten. Der Text erweckt den überzeugenden Eindruck, daß Platon – ein Meister der Sprache – dem Leser mit wenigen Worten, aber psychologisch tiefgreifend Sachen erläutert, die man ansonsten nur in langen Abhandlungen darstellen könnte.
Das Höhlengleichnis
Sokrates: Demnächst, – sprach ich, – vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen.
Glaukon: Ich sehe, – sagte er.
Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen.
Ein gar wunderliches Bild, – sprach er –, stellst du dar und wunderliche Gefangene.
Uns ganz ähnliche, – entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft?
Wie sollten sie, – sprach er –, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten!
Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses?
Was sonst?
Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen?
Notwendig.
Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten?
Nein, beim Zeus, sagte er.
Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke?
Ganz unmöglich.
Nun betrachte auch, – sprach ich –, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen wurde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde?
Bei weitem, – antwortete er.
Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen, und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte?
Allerdings.
Und, – sprach ich –, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was nun für das Wahre gegeben wird.
Freilich nicht, – sagte er –, wenigstens nicht sogleich.
Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht.
Wie sollte er nicht!
Zuletzt aber, – denke ich –, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie als sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein.
Notwendig, – sagte er.
Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist.
Offenbar, – sagte er –, würde er nach jenem auch hierzu kommen.
Und wie, wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, jene aber beklagen?
Ganz gewiß.
Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird ihm das Homerische begegnen und er viel lieber wollen „das Feld als Tagelöhner bestellen einem dürftigen Mann“ 2) und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort und so zu leben?
So – sagte er – denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben.
Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt?
Ganz gewiß.
Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man auch nur versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?
So sprächen sie ganz gewiß, – sagte er.
Inhaltsanalyse des Gleichnisses
Aus diesem, von einem berufenen Altphilologen vorzüglich ins Deutsche übersetzten Originaltext geht hervor, daß die alten Griechen zwei Ausdrücke für die Wahrheit hatten. Diese philosophisch und literarisch einmaligen Ausdrücke haben Geschichte und Epochen gemacht, da sie das eurozentrische Denken durch zweieinhalb Jahrtausende hindurch von Grund auf zu prägen vermochten. Sie grenzten die Zivilisation erfolgreich von der Barbarei ab. Sie verliehen uns Orientierung nicht nur von den frühen Anfängen bis heute, sondern unwiderruflich für immer. Christus sagt uns deutlich und unmißverständlich, – nicht nur für ein paar pedante, haarspalterische Europäer, sondern auch für alle Asiaten, Afrikaner und Amerikaner auf dem Wege zu einer einzigen Weltzivilisation –, daß Gott allein der „Weg“, die „Wahrheit“ und das „Leben“ sei (Johannes 14, 6). Versuchen wir also zu unterscheiden, was das heißen soll:
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