Apotheken-Umschau
Wahl 2017: Zukunft der Pflege
Zu wenig Personal, zu viel Belastung, zu wenig Lohn. In den kommenden Jahren müssen Politiker die Weichen für die Zukunft der Pflegebranche stellen von Christian Andrae, 02.07.2017 Krankenbetreuung
Pflege vor dem Kollaps? Der Bedarf an Pflegerinnen und Pflegern wächst W&B/Nina Schneider "Wir halten nicht länger die Wange hin." Als sich die gesamte Branche im März zum Pflegetag in Berlin eingefunden hatte, fand Andreas Westerfellhaus, Präsident des Deutschen Pflegerats, deutliche Worte für die Situation von Pflegerinnen und Pflegern. Gerichtet waren sie an die Politik. Wenn diese in den nächsten Jahren nicht handle, stehe die mit 1,2 Millionen Mitarbeitern größte Berufsgruppe im deutschen Gesundheitswesen vor einem Kollaps.
Absehbar ist das schon lange. Der demografische Wandel kommt nicht von heute auf morgen. Statistiken, die der Pflege eine düstere Zukunft vorhersagen, gibt es daher zur Genüge. Das Bundesgesundheitsministerium beispielsweise geht davon aus, dass sich die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2060 verdoppeln wird – auf 4,7 Millionen.
Eine Folge: Es wird deutlich mehr Personal benötigt. Eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung sieht für das Jahr 2050 einen Mehrbedarf von 1,5 Millionen Vollzeitkräften. Im Moment sind lediglich 700 000 Vollzeitstellen ausgefüllt. Diese werden von 1,2 Millionen Pflegekräften besetzt, von denen viele in Teilzeit arbeiten.
Schon heute fehlen Mitarbeiter in der Pflege
Doch der Pflegenotstand ist kein reines Zukunftsthema. Schon heute fehlen in Heimen und bei ambulanten Diensten Mitarbeiter. Laut der Bundesagentur für Arbeit kommen derzeit auf 100 freie Stellen für Kranken- und Altenpfleger 46 Bewerber. Für Westerfellhaus liegen die Gründe dafür auf der Hand: Schlechte Bezahlung, ständiger Leistungsdruck, chronische Überlastung und dazu kaum Aufstiegschancen – all das mache Pflegeberufe schlicht unattraktiv. Das spricht sich herum, wie eine zum Pflegetag veröffentlichte Umfrage unter 866 Pflegekräften zeigt. Rund jeder Dritte würde seinen Beruf in keinster Weise weiterempfehlen.
All das trifft unmittelbar jeden von uns, der später einmal gepflegt werden muss. Die bereits jetzt spürbaren Folgen des Personalmangels deckt der Pflegereport 2017 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK auf. Heimbewohner werden ruhiggestellt. 30 Prozent von ihnen erhalten Antidepressiva. 47 Prozent der Bewohner mit Demenz nehmen dauerhaft Neuroleptika. Damit werden in der Regel Wahnvorstellungen behandelt, etwa bei Schizophrenie.
Demenzkranke sind häufig unruhig, verwirrt, laufen weg. Antidepressiva und Neuroleptika verringern den Antrieb, machen müde. Nebenwirkungen, die dem Personal die Arbeit erleichtern? 85 Prozent der 2500 für die AOK-Studie befragten Pflegerinnen und Pfleger wirken jedenfalls häufig oder gelegentlich bei Ärzten darauf hin, dass sie Psychopharmaka verschreiben. Dabei gibt es laut der Untersuchung durchaus nichtmedikamentöse Alternativen. Aber 56 Prozent der befragten Mitarbeiter gaben an, dass Zeitdruck diese Alternativen verhindere.
Die Reform der Pflegeausbildung
Um den Zeitdruck zu verringern, braucht es mehr Personal. Eine Kernforderung des Pflegerats lautet deshalb, die Ausbildung der Pflegeberufe zu reformieren. Die bislang getrennten Zweige der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege sollen zusammengelegt werden – mit dem Ziel, den Beruf wertvoller und attraktiver zu machen und mehr Menschen dafür zu gewinnen.
Denn wenn es nur noch einen Pflegeberuf gibt, könnte das Personal leichter von der in der Regel schlechter bezahlten Alten- in meistens besser bezahlte Krankenpflege wechseln. Dieser neu geschaffene Wettbewerb würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass auch in der Altenpflege die Gehälter steigen müssten. Sonst will bald niemand mehr in dieser Sparte arbeiten.
Bereits im März 2016 schlug Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) gemeinsam mit Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) im Bundestag einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Dort dümpelte er dann allerdings über ein Jahr vor sich hin. "Wir brauchen endlich eine positive Entscheidung der Bundesregierung, der Abgeordneten des Deutschen Bundestags einschließlich der Opposition für das für die professionell Pflegenden wichtigste Gesetz der Legislaturperiode", polterte Westerfellhaus auf dem Pflegetag in Berlin.
Im April endlich signalisierte die Koalition Einigkeit. Heraus kam ein Kompromiss. Ab 2020 sollen Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege in der Ausbildung zusammengelegt werden. Allerdings nur während der ersten beiden Ausbildungsjahre. Anschließend hätten die Betroffenen folgende Wahlmöglichkeiten: Sie können als Pflegeassistent sofort in den Beruf einsteigen. Oder sie entscheiden sich für eine generalistische Ausbildung – wenn sie im Krankenhaus arbeiten wollen. Oder sie spezialisieren sich auf Kinderkranken- oder Altenpflege. Zudem soll eine akademische Ausbildung als zweiter Zugang verankert werden. Aber: Aus drei Berufen wird damit nicht einer. Deshalb trügen die Veränderungen laut Westerfellhaus nicht dazu bei, die für die Altenpflege wichtigen Fachkräfte zu gewinnen.
Sowohl CDU/CSU wie auch die SPD wollen an der Reform der Pflegeausbildung und der darin geplanten Akademisierung festhalten. "Das ist für uns ein Mosaikstein, um diesen Beruf gesellschaftlich aufzuwerten", sagt SPD- Gesundheitspolitikerin Hilde Mattheis. Es ist wichtig, "Begeisterung für den Pflegeberuf zu schaffen und ihn finanziell aufzuwerten – nicht nur ideell", findet auch Maria Michalk, gesundheitspolitische Sprecherin der CDU.
Die Opposition mag in die Lobeshymne über die Ausbildungsreform nicht einstimmen. "Erst nach monatelangem Rangeln zwischen den Koalitionspartnern soll nun doch etwas kommen?", kritisiert etwa Kathrin Vogler, Gesundheitsexpertin der Linken. Auch die Grünen-Abgeordnete Maria Klein-Schmeink zeigt sich enttäuscht. Zwar sei die Reform ein wichtiger Baustein, doch es seien noch viel mehr Schritte nötig, um den Fachkräftemangel erfolgreich zu bekämpfen und die Pflege aufzuwerten. "Die Koalition hat dazu aber leider viel zu wenig unternommen", sagt die Gesundheitsexpertin.
Arbeitsbedingungen und Bezahlung müssen stimmen
Die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, glaubt sogar, dass die geplanten Änderungen im Ausbildungssystem "nicht eine Pflegerin oder einen Pfleger mehr bringen. Junge Leute werden in diesen Beruf gehen, wenn die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung in Ordnung sind." An beiden Stellschrauben wollen auch die anderen Parteien drehen.
Die Linke zum Beispiel würde gerne die Mindestlöhne in der Pflege deutlich anheben – und zwar bundesweit auf 14,50 Euro pro Stunde. Aktuell sind es 10,20 Euro in West- und 9,50 Euro in Ostdeutschland.
Eine Möglichkeit, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, sieht Hilde Mattheis von der SPD in einer generellen Verkürzung der Arbeitszeiten im sozialen Bereich. Dadurch soll unter anderem Schichtarbeit leichter aufeinander abgestimmt werden können. Mattheis erhofft sich davon eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sodass mehr Pflegepersonal Vollzeit arbeitet.
Linke und Grüne machen sich beide dafür stark, zügig eine Personalbemessung einzuführen, um den genauen Bedarf zu ermitteln. "Auch hier handelt die Bundesregierung zu langsam", sagt Kathrin Vogler von den Linken.
CDU und FDP haben noch andere Ideen, um Fachkräfte für die Pflege zu gewinnen. Erstere will Umschulungsmaßnahmen fördern, die mehr Menschen in diesen Beruf bringen. Maria Michalk: "Zum Beispiel wenn jemand nach einer Familienphase einen neuen Beruf erlernen will." Die FDP dagegen bringt ein entsprechendes Einwanderungsgesetz ins Spiel. "Wir müssen gezielt Menschen in unser Land bringen. Und diejenigen, die schon da sind, müssen angeworben und in unseren Arbeitsmarkt integriert werden", sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
"Zudem braucht die professionelle Pflege mehr Mitsprache im Gesundheitssystem", so die Grünen-Politikerin Maria Klein-Schmeink. In den zentralen Selbstverwaltungsgremien würden die Vertreter der Pflegefachkräfte oft nicht mit am Tisch sitzen. "Das muss sich ändern", so Klein-Schmeink.
Länger gesund bleiben – Pflege vermeiden
Ein ganz anderer Ansatz, den drohenden Kollaps aufzuhalten: präventiv verhindern, dass so viele Bundesbürger Pflege brauchen. "Wenn wir gesunde alte Menschen haben und stärker darauf achten, dass sie gesund bleiben, können wir Pflege vermeiden", sagt die CDU-Abgeordnete Michalk. Ihre Partei will deshalb etwa ein größeres Augenmerk auf entsprechende Reha-Maßnahmen nach Klinikaufenthalten legen. Auch Hilde Mattheis (SPD) meint: "Man muss den Bereich der Vorsorge noch sehr viel stärker fördern."
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