Studie zu „Kipp-Punkten“ Ein bislang kaum bekannter Effekt bringt die Erde an den Rand des Klima-Kollapses
[Klimawandel]
Getty Images/iStockphoto/Explora_2005Das grönländische Eisschild enthält 2,6 Millionen Kubikkilometer Wasser. Wenn es schmilzt, steigt der Meeresspiegel um sieben Meter. FOCUS-Autor Michael Odenwald Donnerstag, 27.12.2018, 20:00 Klimatologen unterschätzen einer neuen Studie zufolge das Risiko, das von Kipp-Punkten im Klimasystem ausgeht. Demnach sind 45 Prozent aller drohenden Systemzusammenbrüche, etwa der Kollaps der Korallenriffe, miteinander verbunden und verstärken sich. Das führt zu einem unheilvollen Dominoeffekt.
Der Klimawandel überrascht die Forscher immer wieder – und meist bedeutet das nichts Gutes. Dies gilt auch für eine Studie, die im Wissenschaftsjournal „Science“ erschien. Darin kommen die Autoren um den Ökologen Juan-Carlos Rocha vom Stockholm Resilience Centre zu dem Schluss, dass die Risiken, die von so genannten Kipp-Punkten ausgehen, in der Klimapolitik stark unterschätzt werden.
„Wir sollten die Kippschalter tunlichst nicht aktivieren“ Die Kipp-Punkte stehen in Zusammenhang mit der globalen Erwärmung. Die kann sich durch so genannte positive Rückkopplungen selbst verstärken. Ab einem bestimmten Punkt können Ökosysteme dann in einen neuen Zustand übergehen, also „umkippen“.
Ursprünglich haben Wissenschaftler 15 solcher Kipp-Punkte im Erdsystem identifiziert. „Sie sind die Achillesferse unseres Planeten“, sagt Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. „Wir sollten diese Kippschalter tunlichst nicht aktivieren.“
30 statt 15 Kipp-Punkte In der neuen Analyse fanden Rocha und seine Kollegen dagegen 30 potenzielle Kipp-Punkte. Dabei bezogen sie Prozesse mit ein, die über die Entwicklung des Klima hinaus gehen – etwa den Verlust an Artenvielfalt, die globale Ausweitung der Landwirtschaft, die Verstädterung sowie die Erosion der Böden.
Insbesondere untersuchten die Forscher, wie Zustandsänderungen in einem System auf andere Systeme einwirken. Wie sich zeigte, kann sich der Wandel in manchen Fällen kaskadenartig in weiteren Systemen fortsetzen. In 45 Prozent der Fälle ist ein Dominoeffekt zu erwarten, der in nur eine Richtung wirken oder aber zu einer wechselseitigen Beeinflussung von Systemen führen kann.
Weitere 36 Prozent haben eine gemeinsame Ursache – voran die Erderwärmung –, ohne dass Wechselwirkungen auftreten. Die restlichen 19 Prozent der Ereignisse verlaufen vollständig isoliert. „Die Risiken sind größer als vermutet, weil die Wechselwirkungen dynamischer verlaufen“, warnt Rocha. „Die wichtigste Botschaft ist, dass wir erkennen müssen, welch bösartigen Problemen die Menschheit gegenübersteht.“
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David Goldman/AP/dpaEisberge brechen von einem Gletscher in einen Fjord in Grönland Schmilzt das grönländische Eisschild, könnten die nördlichen Wälder sterben Ein Beispiel ist der Kollaps des grönländischen Eisschilds. Er enthält 2,6 Millionen Kubikkilometer Wasser. Schmilzt er vollständig, steigt der Meeresspiegel um sieben Meter. Weil die freigelegten dunklen Böden die Sonnenstrahlung absorbieren, wogegen sie das helle Eis ins All reflektiert, und auch weil die Kühlwirkung des Eises fehlt, droht die Temperatur in der Arktis Klimamodellen zufolge um acht Grad Celsius zu steigen.
Die schon heute überproportionale Erwärmung der Polarregion verstärkt sich also selbst. Grönlands Eis wäre in wenigen Jahrhunderten geschmolzen, doch es würde Jahrzehntausende dauern, bis sich auf der Insel ein neuer Eisschild bildet — wenn überhaupt.
Als Folge droht eine Kaskade weiterer negativer Ereignisse. So können sich Meeresströmungen ändern, was das Klima – und damit die Verteilung der Niederschläge – in vielen Regionen beeinflusst. Dadurch können die nördlichen Wälder sterben, zugleich nehmen auf dem restlichen Globus die Waldbrände zu.
Insgesamt gelangt vermehrt Kohlendioxid (CO2) in die Atmosphäre, das als Treibhausgas die Erde weiter aufheizt. Betroffen wäre auch die Landwirtschaft in der drastisch sinkende Erträge drohen. „Obwohl diese Prozesse geographisch getrennt sind, verstärken sie einander“, schreiben die Studienautoren.
Wie andere Forscher jüngst herausfanden, steht auch der Westantarktische Eisschild vor dem Kollaps. „Das hatten die Wissenschaftler vor zehn Jahren noch nicht auf dem Radar, jetzt wissen sie aber über die Risiken gut Bescheid“, erklärt Studienmitautor Garry Peterson. „Dazu zählt, dass immer wieder Eisberge von der Größe New Yorks abbrechen.“ Womöglich sei der Kipppunkt beim dem südlichen Eisschild bereits überschritten, so dass künftig auch in der Antarktis CO2 freigesetzt wird. Am Ende stehe der Erde eine „Heißzeit“ bevor.
Millionenstädten könnte das Trinkwasser ausgehen Es gibt noch mehr solcher kausalen Beziehungen. So verringert die Entwaldung am Amazonas zugunsten riesiger Plantagen die Niederschläge, weil die von den Bäumen in die Luft abgegebene Feuchtigkeit fehlt. Der Regenwald wird zur trockenen Savanne, und Millionenstädten wie São Paulo fehlt es an Trinkwasser. Weil auch die Äcker am Fuss der Anden verdorren, wird mehr Wald urban gemacht. Ein Teufelskreis kommt in Gang, der in eine Katastrophe münden könnte.
Auch im Ozean lauern Kipppunkte. Im Pazifik etwa könnte sich eine stabile Warmwasserschicht an der Oberfläche bilden, die das Aufquellen nährstoffreichen Tiefenwassers verhindert. Dadurch verringert sich die Zahl der Mikroorganismen, die CO2 aufnehmen und nach ihrem Absterben auf den Meeresgrund befördern. Mehr Treibhausgas bleibt in der Atmosphäre zurück – der Treibhauseffekt verstärkt sich auf diese Weise selbst.
Im warmen Meer wiederum sterben die Korallen, und Algen überwuchern die Riffe. Diese halten jedoch Sturmfluten fern. Ohne diesen Schutz werden die Mangrovenwälder an den Küsten zerstört, so dass die Ufer zunehmend erodieren. Weil die Mangroven vielen Fische als Kinderstube dienen, lässt ihr Verlust in vielen Regionen die Fischereierträge sinken.
„Es geschieht so viel gleichzeitig und viel schneller, als wir dachten“ Darüber hinaus betrachteten die Studienautoren Ereignisse nicht nur global, sondern auch auf regionaler und sogar lokaler Ebene. „Wir schauen nach Dingen, die den Alltag der Menschen beeinflussen und die heute passieren“, sagt Studienmitautor Garry Peterson. „Die gute Nachricht ist, dass dies mehr Möglichkeiten eröffnet, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.“ So könnten Dorfbürgermeister dazu beitragen, die Bodenerosion zu stoppen oder ökologischen Küstenschutz betreiben, etwa durch die Anpflanzung von Mangroven.
Insgesamt sei die Studie „relevant für Politiker und Manager, weil solche Zustandsänderungen die Dienstleistungen vieler Ökosysteme beeinträchtigt, was wiederum auf das Wohlbefinden der Menschen zurückwirkt“, resümieren die Autoren. Die Rate der Veränderungen im Erdsystem habe sie überrascht. „Es geschieht so viel gleichzeitig und viel schneller, als wir vor 20 Jahren noch dachten“, ergänzt Peterson. „Wir laufen auf den Rand einer Klippe zu, das ist wirklich Besorgnis erregend.“
Im Video: Gigantische Sandpartikel könnten Weltklima beeinflussen https://www.focus.de/wissen/natur/forsch...d_10103012.html
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