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  • 12.08.2015 17:43 - Berufen für eine zerrissene Welt
von esther10 in Kategorie Allgemein.

12.08.2015 15:20
Berufen für eine zerrissene Welt

Vor zweihundert Jahren empfing Jean-Baptiste-Marie Vianney die Priesterweihe – Streiflichter auf eine politisch und kirchlich unübersichtliche Zeit. Von Harm Klueting


Eine Statue in Ars erinnert an eine Episode des heiligen Jean-Baptiste-Marie Vianney: Der neue Pfarrer fragte einen Hirtenjungen nach dem Weg – und versprach, ihm zum Dank den Weg zum Himmel zu weisen.

Der 13. August 1815 war ein Sonntag. Wenige Tage zuvor, am 8. August, hatte Napoleon I. in Rochefort-sur-Mer im Département Charente-Maritime, einem Hafen an der französischen Atlantikküste, ein englisches Kriegsschiff bestiegen. Es brachte ihn, nachdem Großbritannien ihm das erbetene Asyl verweigert hatte, in die Verbannung auf der britischen Insel St. Helena im Südatlantik brachte. Dort starb der gescheiterte Kaiser der Franzosen am 5. Mai 1821. Der 13. August 1815 war der Tag, an dem Jean-Baptiste-Marie Vianney, geboren am 8. Mai 1786 in dem burgundischen Dorf Dardilly in der Nähe von Lyon, in Grenoble von Bischof Claude Simon von Grenoble für das Erzbistum Lyon zum Priester geweiht wurde. 1818 kam Vianney als Kaplan und Pfarrverweser nach Ars-sur-Formans im Département Ain, einem kleinen Dorf nördlich von Lyon. Dort starb er am 4. August 1859 als der von vielen verehrte „Pfarrer von Ars“. 1905 von Pius X. seliggesprochen, wurde er 1925 von Pius XI. heiliggesprochen und 1929 zum Patron der Pfarrer erhoben. Johannes XXIII. stellte ihn in seiner Enzyklika „Sacerdotii nostri primordia“ zu seinem hundertsten Todestag 1959 als Vorbild der Priester heraus. Dasselbe traf auf die im Pontifikat Johannes Pauls II. veröffentlichte Instruktion „Der Priester, Hirte und Leiter der Pfarrgemeinde“ der römischen Kongregation für den Klerus von 2002 zu. In dem von Benedikt XVI. für 2010 ausgerufenen „Jahr der Priester“ wurde seiner erneut immer wieder gedacht.

Jean-Baptiste-Marie Vianney war, als die Französische Revolution 1789 begann, drei Jahre alt. 1794, als die Welle der Entchristianisierung über Frankreich hinwegging, war er gerade acht. 1801, als Napoleon als Erster Konsul das Konkordat mit Pius VII. schloss, verrichtete er die Arbeit eines Bauernknechts und war auf dem Hof seines Vaters mit Heuen und Ernten, Bäumefällen und Stallausmisten beschäftigt. 1804, im Jahr der Kaiserkrönung Napoleons, trat er als Achtzehnjähriger in die Schule ein, die sein Förderer und geistlicher Mentor auf dem Weg zum Priestertum Pfarrer Charles Balley seit diesem Jahr in Écully bei Lyon betrieb. Dort sollten künftige Priestern die notwendigen Bildungsvoraussetzungen erhalten. 1808 hatte Napoleons Feldzug in Spanien begonnen. Am 15. Juli 1808 in Madrid setzte er seinen Bruder Joseph als König von Spanien ein. Doch brachte der durch die Landesnatur Spaniens erleichterte Guerillakrieg Napoleon seine erste große Niederlage – vor seinem militärischen Desaster 1812 in Russland. Weil er seine Truppen in Spanien einsetzen musste, reduzierte der Kaiser die Zahl seiner Soldaten in Deutschland auf nur noch 100 000 Mann. So war die Lage, als im Herbst 1809 der Einberufungsbefehl zur Armee auch den inzwischen 23 Jahre alten Jean-Baptiste-Marie Vianney erreichte. In einer Kaserne in Lyon begann für ihn am 26. Oktober 1809 das Soldatenleben. Nach längerer Krankheit ging es im Januar 1810 ab zur Spanienarmee, doch verlor Vianney in den Monts du Forez in der Auvergne den Anschluss an die Truppe. „Rekrut Vianney war“ – so einer seiner Biografen – „unbeabsichtigt, verirrt und verlassen in den Bergen, fahnenflüchtig geworden.“ Vianney versteckte sich mit anderen Deserteuren in den Wäldern, bis aus Anlass der Vermählung Napoleons mit der Tochter Kaiser Franz' I. von Österreich, Erzherzogin Marie-Louise, am 2. April 1810 in Notre-Dame-de-Paris eine Amnestie für die Deserteure erging. Doch musste ein Stellvertreter für den Militärdienst gestellt werden. Dieser fand sich in Gestalt von Jean-Maries Vianney jüngstem Bruder François, so dass Jean-Marie zu seinen Studien im Pfarrhaus von Écully zurückkehren konnte.

Die Niederlage Napoleons, die mit seiner Absetzung durch den Sénat am 2. und seiner Abdankung am 4. April und mit dem Ersten Frieden von Paris vom 30. Mai 1814 ihr vorläufiges Ende fand, beendete die Jahrzehnte der Französischen Revolution und des „Empires“. 1814 berief der Sénat in Paris Louis-Stanislas-Xavier de Bourbon, Comte de Provence, den 1755 in Versailles geborenen jüngeren Bruder des 1793 in Paris hingerichteten Königs Ludwig XVI., als Ludwig XVIII. zum König von Frankreich. Die Monarchie der Bourbonen kehrte zurück, und es begann die erste Restauration. Napoleon wurde von den Alliierten unter Beibehaltung des Kaisertitels auf die Insel Elba vor der italienischen Küste versetzt, wo er am 4. Mai 1814 als „Fürst von Elba“ eintraf. In Wien tagte seit dem 18. September 1814 der Wiener Kongress zur Neuordnung Europas nach diesen Jahrzehnten dauernder Kriege. Aber Napoleon kehrte zurück. Am 1. März 1815 betrat er mit 1 100 Mann bei Cannes das französische Festland. Viele der ihm entgegengestellten Soldaten des neuen Königs liefen zu ihm über, während andere Ludwig XVIII. treu blieben. 20 Tage nach seiner Landung an der Cote d?Azur konnte Napoleon unter großem Gepränge in Paris einziehen, während Ludwig XVIII. in der Nacht vom 18. zum 19. März aus Paris nach Gent im heutigen Belgien geflohen war. Das „Empire“ Napoleons schien zurückzukehren. Die Entscheidung dagegen brachte die Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815. Am 6. Juli traf Ludwig XVIII. aus Gent in Saint-Denis vor Paris ein, wo er mit Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord – abgefallener Priester und ehedem Bischof von Autun, als Anhänger der Revolution 1789 Betreiber der Säkularisation und Verstaatlichung des Kirchengutes, von 1799 bis 1807 Außenminister Napoleons und der maßgebliche Konstrukteur von Napoleons Kaisertum, 1814 Außenminister Ludwigs XVIII. und Vertreter Frankreichs auf dem Wiener Kongress – und Joseph Fouché – durch grenzenlosen Opportunismus hervorgetretener atheistischer Revolutionär und Jakobiner, der 1793 für die Hinrichtung Ludwigs XVI. gestimmt und Napoleon im Kaiserreich als Polizeiminister gedient hatte, um 1814 in die Dienste Ludwigs XVIII. zu treten, der aber gleichzeitig die Rückkehr Napoleons von Elba unterstützte und während des Exils in Gent mit Ludwig XVIII. konspirierte, bevor er unter Ludwig XVIII. bis zu seinem Exil in Österreich Anfang 1816 wieder Polizeiminister war – zusammentraf. Fouché trug entscheidend dazu bei, dass Ludwig XVIII. an die Herrschaft zurückkehrte. Damit begann die zweite Restauration – vor der dritten nach der Ermordung des Herzogs Charles Ferdinand de Berry, eines Sohnes des späteren Königs Karl X., 1820 und bis 1824 und vor der restaurativen Herrschaft Karls X., eines weiteren Bruders Ludwigs XVI., der 1824 nach dem Tod Ludwigs XVIII. König von Frankreich wurde und in der Julirevolution von 1830 abdanken musste.

Am 13. August 1815, nur wenige Wochen nach dem am 9. Juni 1815 beendeten Wiener Kongress und noch vor dem Zweiten Frieden von Paris vom 20. September 1815, der den Kriegszustand beendete, war die Lage somit politisch in Frankreich alles andere als übersichtlich und keineswegs befriedet. Man kann die Zeit der zweiten Restauration von der Rückkehr Ludwigs XVIII. am 6. Juli 1815 bis zu den Neuwahlen im Oktober 1816 oder bis zum Erlass des Wahlgesetzes vom Februar 1817 datieren, das das Bürgertum gegenüber der Aristokratie etwas mehr als zuvor begünstigte. Besonders die ersten Wochen bis zur Bildung der Regierung unter dem Herzog Armand du Plessis de Richelieu, einem späten Seitenverwandten des Kardinals Richelieu aus dem 17. Jahrhundert, am 24. September 1815 und auch noch die Monate bis weit in das Jahr 1816 waren durch massive Krisenmomente gekennzeichnet. Während der König, ein durch Fettleibigkeit, Krankheit und Alter gezeichneter Mann, eine mittlere Linie im Stil der Verfassung des Königreichs, der „Charte constitutionelle“ vom 14. Juni 1814, zu verfolgen suchte, machten sich ultra-royalistische und radikal-restaurative Bestrebungen der alten und in der Revolution entmachteten und teilweise physisch liquidierten alten Aristokratie bemerkbar, die Züge von Racheaktionen trugen und mit den verschiedenen bürgerlichen Schichten kollidierten, die von der Herrschaft Napoleons wirtschaftlich profitiert hatten. Außerdem musste Frankreich eine Kriegsentschädigung von Höhe von 700 Millionen Francs leisten, die Besetzung von sieben Départements im Osten und Norden durch alliierte Truppen hinnehmen und deren Besatzungskosten in Höhe von jährlich 150 Millionen Francs tragen. Erst mit dem auf dem Kongress von Aachen am 9. Oktober 1818 geschlossenen Abkommen erreichte Richelieu den Abzug der Besatzungstruppen und die gleichberechtigte Rückkehr Frankreichs in das europäische Staatensystem. Aus den Wahlen im August 1815 – gewählt wurde nach dem Zensuswahlrecht der „Charte“ von 1814, das nur einer sehr kleinen Schicht von Großgrundbesitzern und anderen Reichen, weit weniger als 80 000 Personen, das Wahlrecht zugestand – ging eine überwältigende Mehrheit ultra-royalistischer Abgeordneter hervor, so dass der König selbst von einer „unvergleichlichen Kammer“, sprach. Zugleich kam es in Südfrankreich, unter anderem in Marseille und Toulouse, zum „weißen Terror“ in Gestalt von Racheaktionen gegen Anhänger des Kaiserreiches, und zum „legalen Terror“ in Form von Polizeigesetzen, die von Oktober 1815 bis Januar 1816 gegen diesen Personenkreis erlassen wurden und wozu Gerichtsverfahren gegen napoleonische Heerführer und Kampagnen gegen die Königsmörder von 1793 gehörten. Fouché, der als Polizeiminister mit der „Ordonnanz“ vom 26. Juli 1815 die Mittäter der Rückkehr Napoleons von Elba geächtet und dadurch zu diesen Maßnahmen beigetragen hatte, war schließlich selbst vom Verbannungsdekret gegen die Königsmörder betroffen, was hinter seinem Gang ins Exil nach Österreich stand. Ludwig XVIII. und Richelieu suchten am 5. September 1815 einen Ausweg durch Auflösung der Abgeordnetenkammer und durch die Neuwahlen vom Oktober 1816.

Frankreich war zur Zeit der Priesterweihe des Pfarrers von Ars politisch und sozial ein innerlich zerrissenes Land. Doch stand es mit der Kirche ganz ähnlich. Zwar profitierte die katholische Kirche von der Restauration, zumal gemessen an den antikirchlichen und christentumsfeindlichen Maßnahmen der Revolution, aber auch gemessen an der Konkordatskirche von 1801. Aber das Hauptwerk Joseph Marie de Maîstres, „Du Pape“ von 1819, 1822 unter dem Titel „Vom Papst“ ins Deutsche übersetzt, mit seiner antirevolutionären Herausstellung von Katholizismus und Papstprimat als Grundlagen des staatlichen und sozialen Lebens und seiner Verteidigung der päpstlichen Unfehlbarkeit, wie sie 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil als Dogma definiert wurde, lag ebenso wie wichtige Schriften von Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald und anderer Vordenker der katholischen Restauration in Frankreich noch nicht vor. In der Zukunft lagen auch noch die für das Frankreich des nach der Revolution und nach Napoleon neuerwachten Katholizismus charakteristischen Marienerscheinungen – 1820 in Lescouet-Gouarec, 1830 in der Pariser Rue du Bac; 1846 in La Salette. Vielerorts gab es Verwüstungen des Glaubenslebens und verwahrloste Kirchengebäude, wie Vianney sie 1818 in Ars antraf. Diese innere Zerrissenheit zeigte sich nicht zuletzt bei den Bischöfen. Erzbischof von Lyon war seit 1802 und formal bis 1839 Joseph Fesch, der mit Napoleon eng verbunden war, 1802 in der napoleonischen Konkordatskirche Erzbischof und 1803 Kardinal geworden war, 1814 in der ersten Restauration nach Rom floh, nach der Rückkehr Napoleons von Elba nach Lyon zurückkehrte, um nach der Schlacht von Waterloo wieder nach Rom zu gehen, wo er bis zu seinem Tod 1839 blieb, so dass das Erzbistum Lyon faktisch vakant war.

In Frankreich bestanden auch nach dem Ende der napoleonischen Zeit die Gegensätze zwischen den eidverweigernden und den konstitutionellen, auf der Seite der Revolution stehenden Klerikern von 1790 und zwischen dem Konkordatsklerus von 1801/02 und denen fort, die die Rekonziliation abgelehnt hatten, für die Pius VII. 1801 Kardinal Giovanni Battista Caprara nach Paris entsandt hatte. Rekonziliation bedeutete Befreiung von Kirchenstrafen, insbesondere von der Exkommunikation, der konstitutionelle Bischöfe und Priester durch Usurpation von Bistümern verfallen waren. Doch setzte die Rekonziliation die Bereitschaft voraus, sich rekonziliieren zu lassen. Daran fehlte es in vielen Fällen, so dass vor allem konstitutionelle Bischofe die Rekonziliation ablehnten. Pius VII. war gezwungen, darüber hinwegzusehen, um überhaupt die Kirche in Frankreich wieder aufbauen zu können, und das unter dem Druck Napoleons, unter der Ablehnung der laizistischen Konkordatsgegner und des konstitutionellen Klerus. So blieb die Aussöhnung des Klerus nicht nur 1802 Stückwerk, sondern war auch im August 1815 noch nicht vollendet, obwohl man schon am 18. April 1802 in der Kathedrale Notre-Dame-de-Paris feierlich die Wiederherstellung des katholischen Kultes in Frankreich begangen hatte.
http://www.die-tagespost.de/Berufen-fuer...t;art456,162861



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