14.09.2015 15:00 „Europa ist in einer tiefen Krise“
Flüchtlinge: Kardinal Ouellet ruft zur Besinnung auf christliche Wurzeln auf – Europäische Bischöfe: Solidarität mit Christen in Nahost
Autor: kna
Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof: „Wenn Menschen zu uns kommen, die in einer extremen Lage sind, entspricht es unserer katholischen Kultur, sie aufzunehmen und ihre Bedürfnisse zu stillen“, betont Kurienkardinal Marc Ouellet. Foto: dpa vergrößern Korazim/Jerusalem (DT/KNA/KAP) Mehr Einheit mit Blick auf gemeinsame Werte und eine Rückbesinnung auf seine christlichen Wurzeln könnte Europa zu mehr Offenheit gegenüber Flüchtlingen verhelfen. Das hat der Präfekt der vatikanischen Bischofskongregation, der aus Kanada stammende Kardinal Marc Ouellet (71), im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) hervorgehoben. Ouellet nimmt bis Mittwoch im galiläischen Korazim an der Vollversammlung des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) teil, zu deren Schwerpunkten die aktuellen Herausforderungen der Kirche in Europa gehören.
Europa stehe vor einer Invasion, und man spüre die Angst, so der Kardinal. Die Angst sei stärker in Ungarn, wo die Kultur des großen Teils muslimischer Ankömmlinge hinterfragt werde, stellte Quellet fest, forderte aber mit Nachdruck: „Wenn Menschen zu uns kommen, die in einer extremen Lage sind, entspricht es unserer katholischen Kultur, sie aufzunehmen und ihre Bedürfnisse zu stillen. Das muss über den Zweifeln und Vorurteilen stehen, die Motive für eine Zurückweisung von Menschen in Not sein könnten. Da gibt es für uns keine Zweideutigkeit; das war immer die Haltung der katholischen Kirche. Wir müssen im Sinne derer reagieren, die in einer Extremsituation sind.“
Die uneinheitliche Haltung in Europa gegenüber den Flüchtlingen deutet der Kardinal als Folge einer europäischen Identitätskrise. „Europa ist in einer tiefen Krise“, sagte Ouellet und verwies als Beispiel dafür auf das Thema Ehe und Familie. Die aufgezwungenen Pläne zur Veränderung von Ehe und Familie würden Reaktionen provozieren und für Konfusion in den Parlamenten sorgen. Es würden Gesetze durchgebracht, die nicht der Haltung der Menschen entsprächen, sagte der Kardinal und hob hervor: „Zwischen der europäischen Kultur und dem christlichen Erbe besteht keine Einheit mehr.“ Die Reaktion auf die Flüchtlinge reflektiere diesen Mangel. „Wenn es mehr Einvernehmen über Werte gäbe, gäbe es vielleicht einen offeneren Empfang für die Flüchtlinge“.
Ouellet würdigte das Engagement des Papstes in der Flüchtlingsfrage. Wörtlich sagte er: „Ich bin nahe am Papst, und ich beobachte, dass er wie ein Vater gegenüber Kindern in der Not reagiert, egal welcher Religion. Er reagiert aus dem Herzen und fordert die Bischöfe und die Kirche auf, es ihm gleichzutun. Das regelt nicht alle politischen Probleme vor Ort. Aber das Zeugnis der Kirche ist eine klare Botschaft im Blick auf Menschenrechte, Barmherzigkeit und Mitgefühl gegenüber Menschen in Not.“ Die Kraft der Kirche sei ihre Verbundenheit, so Ouellet weiter. „Wenn wir uns zusammenfinden, um unsere Probleme zu teilen – so wie wir es hier im Heiligen Land momentan tun –, werden die Probleme des einen zur Sorge des anderen.“ So könne die Kirche Einfluss haben auf Europa und es an seine christlichen Wurzeln erinnern.
Ouellet äußerte sich am Rande der Vollversammlung von Bischöfe aus mehr als 35 Ländern Europas, die derzeit in Korazim stattfindet. Zentraler Diskussionspunkt bei den Beratungen war die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten. Zugleich versicherten die europäischen Bischöfe den Christen in Nahost ihre Solidarität. „Wir durften Euch kennenlernen und versichern Euch, dass wir immer an Eurer Seite sind“, sagte Kardinal Marc Ouellet am Sonntagabend vor Hunderten arabischen Christen im nordisraelischen Mi'ilya.
Die Bischöfe, die sich zur Vollversammlung des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) treffen, hatten zuvor an den örtlichen Feiern zum Kreuzerhöhungsfest teilgenommen. In seiner Begrüßung hob CCEE-Präsident Kardinal Peter Erdö, Erzbischof von Esztergom-Budapest, die große Bedeutung der Familie hervor und bat die Anwesenden um das Gebet für die bevorstehende Familiensynode. Nach einer Vesper im byzantinischen Ritus zogen die Bischöfe begleitet von Pfadfindern mit Trommeln und Dudelsäcken, Geistlichen und zahlreichen Gläubigen in einer Prozession durch die Stadt.
Im Zuge der noch bis Mittwoch andauernden Plenarversammlung berichteten darüber hinaus die Vertreter der Bischofskonferenzen von Zypern, Griechenland, Monaco, Spanien, Italien, Portugal, Malta und Frankreich über die Situation in ihren Ländern. Ein zentraler Diskussionspunkt war die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten.
Des weiteren ging es um die Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese bedroht nach Einschätzung der Bischöfe in etlichen europäischen Ländern die Sozialsysteme und sorgt für ein Klima der Unsicherheit und Angst. Die Kirche und die Familien seien oft die einzigen Institutionen, die in der Lage seien, Hilfe zu leisten.
Im Blick auf die Flüchtlingsaufnahme betonte der Prager Kardinal Dominik Duka am Rande der Beratungen in Korazim in einem Interview mit der italienischen katholischen Presseagentur SIR, man dürfe nicht über die Schwierigkeiten der Integration dieser Menschen in Osteuropa hinwegsehen. Die Flüchtlinge gehörten einer anderen Religion an, und sie kämen aus dem „türkisch-arabischen Kulturkreis“. Für die Menschen in Osteuropa sei daher die Akzeptanz dieser Ankömmlinge schwierig: „Wir haben während der Jahrzehnte des Kommunismus in einer Art Ghetto gelebt. In gewisser Weise tragen wir noch immer die Folgen davon.“
Zum Aufruf des Papstes, jede Pfarre in Europa solle eine Flüchtlingsfamilie aufnehmen, sagte Duka, dies sei nur einer von mehreren Punkten: „Erstens hat der Heiliger Vater gesagt, wir müssen Gewalt und Aggression ein Ende setzen. Zweitens hat er erinnert, dass die Menschenrechte überall respektiert werden müssen. Drittens: Wir sollen die Entwicklungszusammenarbeit mit den ärmsten Ländern, aus denen die Migranten kommen, erhöhen. Und dann – nicht zuletzt, sicherlich – sollen wir Gastfreundschaft zeigen.
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