Der Heimeligkeitsvirus VON JOHANNES VON DOHNANYI5. OKTOBER 2015 picture alliance
Angst um die Heimat: Protest der Pegida-Bewegung in Dresden
Die Politik ist von den Umbrüchen der vergangenen Jahrzehnte überrollt worden. Statt sich neu aufzustellen, flüchtete sie sich in Sprachlosigkeit und lässt viel Raum für die einfache Sehnsucht nach Ordnung und Identität. Doch es hilft nichts, sich der Welt zu verweigern
Es war in Singapur im Sommer 1990, als sich zwei junge Männer auf schwer beladenen und mit deutschen Wimpeln geschmückten Fahrrädern die sanfte Steigung hinauf zur deutschen Schule quälten. In einem Vorort von Leipzig waren sie aufgebrochen, nur Wochen nach dem Mauerfall: Radelnd bis an die südlichste Spitze der malaiischen Halbinsel. Next stop China, erzählten die beiden beim Abendessen. Weiter in die USA. Doch dann – zurück. Denn „unser Essen, unsere Sprache, unsere Freunde – alles fehlt. Je weiter weg von zu Hause wir sind, umso größer das Heimweh. Nach Deutschland.“
Was damals nach weltunerfahren-spießigem und damit peinlichem Gefühlsgrummeln klang, rumort inzwischen in vielen Ecken Europas. Nach mehreren Erweiterungen ist das „gemeinsame europäische Haus“ den Menschen fremd geworden. Weder ökonomische Notwendigkeiten noch politische Argumente zählen, wo die Sehnsucht nach überschaubaren und in ihren Sitten und Traditionen vertrauten Lebensräumen ins Spiel kommt. „Wir können global kommunizieren und reisen“, beschreibt es der deutsche Philosoph Rüdiger Safranski: „Wohnen können wir nur hier oder dort, aber nicht überall zugleich.“
Die Welt – ein globales Dorf Das Treffen in Singapur fiel in eine Zeit großer Umbrüche. Der Eiserne Vorhang war kaum gefallen, da pochten schon die ersten osteuropäischen Länder an die Tür der Europäischen Gemeinschaft. Die asiatischen Tigerstaaten drängten auf die Weltmärkte. Im Süden Chinas entstanden die ersten Sonderwirtschaftszonen. Das Schlagwort von der Globalisierung war zwar schon in den 1960er Jahren geprägt worden. Jetzt erst aber, mit der digitalen Revolution, konnte aus der Welt ein globales Dorf werden.
Die globalisierte Ökonomie, so die Vision, würde nicht aufzuhalten sein. Die Fesseln der noch immer von nationalen Interessen definierten Politik würden gesprengt werden. Der Traum einer von den Märkten erzwungenen gerechteren Welt, ohne Hunger und Armut, machte sich breit: Am egalitär-digitalen Wesen von Microsoft, Apple & Co würde die Welt genesen…
Sprachlosigkeit der Politik Heute wissen wir: Es ist anders gekommen. Zwar werden Finanztransaktionen im Millisekundentakt rund um den Tag und rund um den Globus getätigt. Die Lenker der Weltkonzerne gebieten, Spaniens Karl V. im 16. Jahrhundert ähnlich, über Produktions- und Absatzreiche, in denen die Sonne niemals untergeht. Doch die Politik ist dieser Entwicklung nicht nur nicht gefolgt. Es hat ihr, zumindest in den auf Dialog basierenden westlichen Demokratien, im wahrsten Sinn des Wortes die Sprache verschlagen.
Das Resultat ist dramatisch. Von ihren politischen Erklärern und Mediatoren im Stich gelassen, haben die Menschen den Visionären der „heilsamen“ Globalisierung die Gefolgschaft verweigert. So gerne sie Urlaub in Thailand oder auf den Seychellen machen – rastlos unverortete Weltbürger wollen sie nicht sein. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben, arbeiten und sterben vier von fünf Deutschen noch immer nur wenige Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt. Je größer der verfügbare geographische und kulturelle Raum, umso größer wird die Sehnsucht nach der Bewahrung des eigenen „zu Hause“, nach längst überholt geglaubten Traditionen und Werten.
Europa als Zwangsjacke Um solche Heimat ging es, als sich die Mehrheit der Katalanen jüngst in einer unbestreitbar demokratischen Wahl für den Ausstieg aus dem spanischen Nationalstaat und damit gegen die gültige Verfassung entschied.
Um Selbstbestimmung im eigenen Lebensraum geht es seit Jahren den Separatisten in Schottland, der italienischen Lega Nord und den belgischen Flamen. Aus Sorge um die eigene kulturelle Identität verweigerte die autonome Region Grönland der dänischen Zentralregierung die Gefolgschaft in den Regelwust der Europäischen Union. Um „sie selbst“ zu bleiben, zogen die Isländer erst in diesem Jahr den Mitgliedsantrag in die EU zurück.
Heimat als Gegenentwurf zu einem Europa, das zunehmend als Zwangsjacke empfunden wird, deren Fesseln alles lokal verwurzelte Leben zwischen Kiruna und Palermo auf europäisches Norm-Maß zurechtstutzen sollen.
http://www.cicero.de/weltbuehne/all-politics-local/59914
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