13.11.2015 15:10 Ein Heiliger in unserer Mitte Vor 35 Jahren, vom 15.–19. November 1980, besuchte Papst Johannes Paul II. die Bundesrepublik Deutschland. Erstaunlich: Seine damaligen Ansprachen nehmen heutige Debatten vorweg – zur Rolle der Kirche in der Gesellschaft, zu Ehe und Familie und nicht zuletzt auch zur Flüchtlingskrise. Von Tobias Klein ANZEIGE:
27 Predigten und Ansprachen in fünf deutschen (Erz)diözesen: Der hl. Papst Johannes Paul II. während der Fahrt mit dem Papamobil durch Fulda im Herbst 1980. Foto: KNA vergrößern Als eine „Pilgerreise“ in ein Land, dessen Geschichte „auf so enge Weise mit der Geschichte des Christentums und der Kirche verbunden ist und zutiefst von der christlichen Tradition geprägt wurde“, bezeichnete der Hl. Papst Johannes Paul II. bei seiner Ankunft am Flughafen Köln-Bonn am 15.11.1980 den ersten Deutschlandbesuch seines Pontifikats. Innerhalb von fünf Tagen besuchte er die Diözesen und Erzdiözesen Köln, Osnabrück, Mainz, Fulda und München-Freising und hielt dabei 27 Predigten und Ansprachen, deren Aussagen heute, 35 Jahre später, nichts an Aktualität verloren haben – eher im Gegenteil.
Ein Leitmotiv der Ansprachen des 2014 heiliggesprochenen Papstes auf dieser Pastoralreise bildete die Konfrontation der Kirche mit einer zunehmend „religiös gleichgültigen Umwelt“: Wenngleich, wie er in einer Rede an den Bundespräsidenten und andere Autoritäten in Bonn am Tag seiner Ankunft betonte, „sogar die neuzeitlichen areligiösen und antireligiösen Ideologien […] noch Zeugnis von der Existenz und dem hohen Wert dessen [geben], was sie mit allen Mitteln zu leugnen und zu zerstören trachten“, sah Johannes Paul II. deutlich, dass es für die Kirche immer schwieriger wird, mit ihrer Botschaft Gehör zu finden. In einer Predigt in Osnabrück am 16. November stellte er die Situation der Diaspora als richtungsweisend für die Zukunft der Kirche heraus – eine Erkenntnis, die erst jüngst auch vom Kölner Erzbischof Kardinal Woelki in die Worte gekleidet wurde: „Die jetzige Gestalt der Kirche bricht weg. Diaspora ist unsere pastorale Realität.“ Johannes Paul II. formulierte es vor 35 Jahren in Osnabrück so: „Die wenigsten von uns können sich für ihre Glaubenspraxis heute noch einfach von einer starken gläubigen Umgebung mittragen lassen. Wir müssen uns [...] bewusst dafür entscheiden, bekennende Christen sein zu wollen und den Mut zu haben, uns von unserer Umgebung [...] zu unterscheiden.“
Im Sinne dieser „Unterscheidung des Christlichen“, wie sie schon Romano Guardini gefordert hatte, rief Johannes Paul II. die Bischöfe, Priester und Laien nachdrücklich dazu auf, den Mut zu haben, den Glauben der Kirche „in aller Eindeutigkeit, unbeirrt um Beifall oder Ablehnung“ zu verkünden: „Nicht wir befördern letztlich Erfolg oder Misserfolg des Evangeliums, sondern Gottes Geist. Die Gläubigen und die Nichtglaubenden haben ein Recht darauf, eindeutig die authentische Botschaft der Kirche zu hören.“ Konflikte seien dabei unvermeidlich: „Das Evangelium gefällt […] den Menschen nicht immer. Und es kann ihnen auch nicht immer gefallen. […] Denn diese göttliche Wahrheit, diese frohe Botschaft, birgt in der Tat eine große innere Spannung in sich. In ihr verdichtet sich der Gegensatz zwischen dem, was von Gott stammt, und dem, was aus der Welt kommt.“ In einer Ansprache an die Deutsche Bischofskonferenz am 18. November in Fulda warnte der Papst vor „einem falschen Pluralismus“: „Manchmal finden sich die Menschen geistig in der Situation eines Warenhauses, in dem alle möglichen Güter angepriesen und zur Selbstbedienung angeboten sind […]. Die äußere Freiheit, das zu denken und zu sagen, was man will, wird mitunter verwechselt mit der inneren Beliebigkeit der Überzeugung; an die Stelle einer klaren Orientierung tritt die Indifferenz gegenüber so vielen Meinungen und Deutungen.“ Die Theologieprofessoren, an die er am selben Tag in Altötting das Wort richtete, ermahnte er: „Der Gläubige hat ein Recht zu wissen, worauf er sich im Glauben verlässt. Die Theologie muss dem Menschen zeigen, wo er einen letzten Halt findet.“
Wie eine vorweggenommene Antwort auf aktuelle Debatten über das Auseinanderdriften von kirchlicher Lehre und Lebenswirklichkeit der Gläubigen mutet es an, wenn der Hl. Papst Johannes Paul II. in seiner Ansprache an die Bischofskonferenz erklärt: „Zwischen den Lebensgewohnheiten einer säkularisierten Gesellschaft und den Forderungen des Evangeliums tut sich eine tiefe Kluft auf. Viele wollen sich am kirchlichen Leben beteiligen, finden aber keinen Zusammenhang mehr zwischen ihrer Lebenswelt und den christlichen Prinzipien. Man glaubt, die Kirche halte nur aus Starrheit an ihren Normen fest, und dies verstoße gegen jene Barmherzigkeit, die uns Jesus im Evangelium vorlebt. Die harten Forderungen Jesu, sein Wort: ,Gehe hin und sündige nicht mehr!‘ werden übersehen. Oft zieht man sich auf das persönliche Gewissen zurück, vergisst aber, dass dieses Gewissen das Auge ist, welches das Licht nicht aus sich selber besitzt, sondern nur, wenn es zur authentischen Quelle des Lichtes hinblickt.“ Aus heutiger Sicht drängt sich hier ein Vergleich mit Äußerungen deutscher Bischöfe im Zusammenhang mit der jüngst zu Ende gegangenen Familiensynode auf: Äußerungen, die ebenfalls vielfach um die Begriffe „Lebenswelt“, „Barmherzigkeit“ und „Gewissen“ kreisten, die Klarheit und Entschiedenheit der Worte Johannes Pauls II. jedoch vermissen ließen. Tatsächlich hatte wenige Wochen vor dem Deutschlandbesuch des Papstes, vom 26.09.–25.10. 1980, ebenfalls eine Bischofssynode zur Lage der christlichen Familie stattgefunden. Auf die Ergebnisse dieser Synode kam Johannes Paul II. in seiner Predigt in Köln am 15.11.1980 zu sprechen und nahm dabei in Teilen bereits sein ein Jahr später veröffentlichtes nachsynodales Schreiben „Familiaris consortio“ vorweg.
So betonte der Papst die Bedeutung der christlichen Familie als „Hauskirche“ sowie den Charakter der Ehe als „Sakrament Jesu Christi“: „Eheliche Liebe und Treue sind umgriffen und getragen von Gottes Liebe und Treue in Jesus Christus.“ Gleichzeitig richtete er seinen Blick auch auf „die Schwierigkeiten, denen das hohe Ideal des christlichen Familienverständnisses und Familienlebens heute ausgesetzt ist“: „Das öffentliche Klima ist nicht immer freundlich gegenüber Ehe und Familie. Und doch erweisen sie sich in unserer anonymen Massenzivilisation als Zufluchtsort auf der Suche nach Geborgenheit und Glück. Ehe und Familie sind [...] Keimzellen zur Erneuerung der Gesellschaft, Kraftquellen, aus denen das Leben menschlicher wird.“ Die „Endgültigkeit der ehelichen Treue, die heute vielen nicht mehr verständlich erscheinen will“, hob der Hl. Johannes Paul II. als „Ausdruck der unbedingten Würde des Menschen“ hervor: „Man kann nicht nur auf Probe lieben, nur auf Probe und Zeit einen Menschen annehmen.“ Zudem betonte er die existenzielle Bedeutung der Institution Familie für Staat und Gesellschaft: Diese leiteten „ihren eigenen Zerfall ein, wenn sie Ehe und Familie nicht mehr wirksam fördern und schützen und andere, nichteheliche Lebensgemeinschaften ihnen gleichstellen“.
Vergleicht man diese Worte des damaligen Papstes mit den vielfach von begrifflicher Unklarheit geprägten Debatten im Umfeld der diesjährigen Familiensynode, dann könnte man den Eindruck gewinnen, die Kirche – insbesondere in Deutschland – habe in den letzten 35 Jahren ihre eigene Lehre vergessen. Insofern stimmt es hoffnungsvoll, dass die deutschsprachige Arbeitsgruppe der Synode festgestellt hat, das nachsynodale Schreiben „Familiaris consortio“ müsse „neu erschlossen“ werden.
Geradezu prophetisch mutet aus heutiger Sicht die am 17.11.1980 in Mainz gehaltene Ansprache Johannes Pauls II. an die Gastarbeiter und Immigranten an. Darin weist der Papst auf Versäumnisse bei der gesellschaftlichen Integration von Arbeitsmigranten hin – „Zu lange haben viele geglaubt, die ausländischen Arbeitnehmer würden nur vorübergehend in die Industriegebiete kommen; ihre Anwesenheit wurde fast ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bewertet, als eine Frage des Arbeitsmarktes“ – und sagt sodann „neue Ströme von Flüchtlingen“ voraus: „Ungezählte Menschen fühlen sich politisch verfolgt oder diskriminiert und suchen Asyl, wo sie frei atmen können. Millionen von Menschen blicken heute, zu dieser Stunde, dem Hungertod ins Auge. Diese Lage wird in zunehmendem Maße solche Anstrengungen von den Verantwortlichen erfordern, dass die Grenze des Zumutbaren und des Erreichbaren bald in Sicht kommt. Noch ist es nicht soweit, aber wir müssen uns geistig darauf vorbereiten. Liegt hier nicht eine Herausforderung an die Politiker, die in einer gemeinsamen Anstrengung, über alle Partei- und Länderinteressen hinaus, angegangen werden müsste?“ Angesichts der vielfach hilflos wirkenden Reaktionen der Regierenden auf die derzeitige Flüchtlingswelle hat diese Frage zweifellos etwas Beschämendes. Von drängender Aktualität ist jedoch auch der Aufruf Johannes Pauls II., „jegliche aufkeimende Fremdenfeindlichkeit“ sorgsam zu beachten und „gegen blinde Angstgefühle und instinktive Abwehrreaktionen ein[en] sachgerechte[n] Realismus“ zu setzen. Die Forderung, die politisch Verantwortlichen müssten „mutig genug“ sein, „die Bevölkerung auf eine notwendige Beschränkung der Lebensmöglichkeiten für den Einzelnen vorzubereiten“ – „Auf die Dauer wird sich kein wohlhabendes Land vor dem Ansturm so vieler Menschen, die wenig oder gar nichts zum Leben haben, abriegeln können“ –, fand erst jüngst ein Echo in der Predigt des Essener Bischofs Overbeck zum Caritas-Sonntag am 20.09.2015: „Unser Wohlstand und die Weise, in Frieden zu leben, werden sich ändern. Ich bin mir gewiss: so wie die Flüchtlinge ihre Lebensgewohnheiten ändern müssen, so werden auch wir es tun müssen.“ Diese Predigt rief zum Teil empörte Reaktionen hervor: Es gehe nicht an, von den Einheimischen zu verlangen, sie müssten sich an die Zuwanderer anpassen. Bistumssprecher Ulrich Lota sprach von 1 500 „mehrheitlich kritischen bis hasserfüllten und beleidigenden Reaktionen“.
Nicht zuletzt erteilt die damalige Ansprache des Papstes an die Migranten auch all jenen eine deutliche Absage, die das Schreckgespenst einer „Islamisierung des Abendlandes“ an die Wand malen: An die muslimischen Migranten gewandt, erklärt der Hl. Johannes Paul II.: „Wenn ihr mit aufrichtigen Herzen euren Gottesglauben aus eurer Heimat hierher in ein fremdes Land getragen habt und hier zu Gott als eurem Schöpfer und Herrn betet, dann gehört auch ihr zu der großen Pilgerschar von Menschen, die seit Abraham immer wieder aufgebrochen sind, um den wahren Gott zu suchen und zu finden. Wenn ihr euch auch in der Öffentlichkeit nicht scheut, zu beten, gebt ihr uns Christen dadurch ein Beispiel, das Hochachtung verdient.“ Statt den Islam nur als Bedrohung wahrzunehmen, sollen Christen sich vielmehr von ihm anregen lassen, umso entschiedener ihren eigenen Glauben zu bekennen. Gleichzeitig ermahnt der Papst die Muslime – rund eineinhalb Jahre nach der Islamischen Revolution im Iran und ein knappes Jahr nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan – aber auch, ihren Glauben „von keinem menschlichen oder politischen Interesse missbrauchen“ zu lassen.
Im Ganzen gesehen geben die Predigten und Ansprachen dieser 35 Jahre zurückliegenden Pastoralreise beredtes Zeugnis von dem reichen geistigen Vermächtnis dieses großen Papstes, das noch nicht annähernd angemessen gewürdigt worden ist. Gleichzeitig machen sie auch deutlich, dass viele aktuelle Konfliktthemen tatsächlich gar nicht so neu sind: All das, was uns heute solche Kopf- und Bauchschmerzen bereitet, war für scharfe Augen auch 1980 schon sichtbar – in Ansätzen zumindest. So ergibt sich der Eindruck, Staat und Gesellschaft, in besonderem Maße aber die Kirche hätten auf die Herausforderungen der Gegenwart weit besser vorbereitet sein können, wenn sie sich schon vor 35 Jahren die Worte des Papstes stärker zu Herzen genommen hätten. Die Worte eines Heiligen.
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